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# taz.de -- Schulanfang in der Ukraine: Nächster Halt: ABC
> Endlich wieder Präsenzunterricht: In Charkiw, nur 40 Raketensekunden von
> der Front entfernt, lernen Schüler in diesem Jahr in der U-Bahn. Ein
> Besuch.
Bild: Schicht im Schacht: Erster Schultag in der U-Bahnstation Universitet in C…
Charkiw taz | In einem fensterlosen Raum, die Wände mühevoll mit
Luftballons und Aufklebern geschmückt, sitzen lärmende
Erstklässler*innen an Tischen. Sie sind festlich angezogen, die Mädchen
haben Bänder im Haar, ein Junge trägt ein Seidentüchlein im weißen Sakko.
Alle lächeln und blicken erwartungsvoll in Richtung Lehrerin. Nach den
langen Ferien hat die Schule wieder angefangen. Aber die ABC-Schützen
lernen nicht in gewöhnlichen Klassenzimmern, sondern in mehr als 20 Metern
Tiefe, in der U-Bahn-Station „Universitet“ im Zentrum der ostukrainischen
Stadt Charkiw.
[1][Charkiw], die zweitgrößte Stadt in der Ukraine, liegt etwa 40 Kilometer
von der Staatsgrenze zu Russland entfernt. Vor der russischen Invasion
lebten hier mehr als 1,5 Millionen Menschen. Mittlerweile ist die
Bevölkerungszahl zurückgegangen, auch die Sozialstruktur hat sich
verändert. Den Platz von Bewohner*innen, die ihre Häuser verlassen mussten,
haben [2][Migranten aus den Frontgebieten] der Region Charkiw sowie aus den
teilweise besetzten Gebieten Donezk und Luhansk eingenommen.
Im Sommer begannen lebhafte Diskussionen darüber, wie die Kinder ab dem
Herbst beschult werden sollen. Denn kurz zuvor hatte der Verteidigungsrat
der Region Charkiw beschlossen, unter bestimmten Bedingungen wieder
Präsenzunterricht zuzulassen: Dafür muss ein Bunker oder ein
Luftschutzbunker vorhanden sein, der den baulichen Anforderungen entspricht
und vor Raketen schützt.
Doch russische S-300-Raketen können die Stadt in etwa 40 Sekunden bis einer
Minute erreichen. Selbst mit einem Luftschutzbunker ist diese Zeitspanne zu
kurz, um die Kinder zu schützen. Darüber hinaus stellte sich heraus, dass
Schulen, die noch zu Sowjetzeiten gebaut worden waren, überhaupt keine
Schutzräume hatten, um rein theoretisch vor einem direkten Raketenangriff
Schutz bieten zu können.
## Schulen werden häufig angegriffen
Gerade auch Schulen waren und sind jedoch ein bevorzugtes Angriffsziel der
Russen. Nach Angaben des Abteilungsleiters für Öffentlichkeitsarbeit und
Medien des Stadtrats von Charkiw, Jurij Sidorenko, wurden bislang 124
Schulen, mehr als die Hälfte aller weiterführenden Bildungseinrichtungen
der Stadt, 108 Kindergärten und 107 Hochschuleinrichtungen zerstört oder
beschädigt.
Aus dieser Situation gab es einen Ausweg: den Eltern in Charkiw anzubieten,
ihre Kinder in die sogenannte U-Bahn-Schule zu schicken. Dabei handelt es
sich um speziell ausgestattete Klassenzimmer in fünf Stationen der
Charkiwer U-Bahn: „Universität“, „Sieg“, „Erbauer der Metro“,
„Traktorenfabrik“ sowie „Akademikerin Pawlowa“. Bis zum 1. September
hatten sich 60 Klassen bereit erklärt, den Unterricht in die U-Bahn zu
verlegen.
An diesem Tag bekommen die Schüler*innen ungewöhnlichen Besuch. Der
Bürgermeister von Charkiw, Igor Terekhov, und Innenminister Igor Klimenko
sind zum Fototermin in sieben Klassenzimmer der U-Bahn-Station Universitet
gekommen, die Lehrkräfte hören gar nicht auf, sich bei ihnen zu bedanken.
Denn zum ersten Mal seit anderthalb Jahren sitzen überhaupt wieder
Schüler*innen in einem Klassenzimmer.
Nach Angaben des Bürgermeisters sei die Zahl der Klassen, die in der
Metro-Schule lernen werden, auf 61 gestiegen, darunter 23 Grundschulklassen
sowie 38 Klassen der Oberstufe. Es sei noch ein weiterer Jahrgang mit
Absolventen einer Abschlussklasse hinzugekommen. Insgesamt ist in den
U-Bahn-Stationen Platz für 68 Klassen.
## Erst Corona, dann der Krieg
„Da könnten wir noch hinkommen. Die Nachfrage ist da – von den
Schüler*innen, aber auch von den Eltern“, sagt Bürgermeister Terekhov. In
der U-Bahn-Schule lernen damit mehr als 1.000 Schüler. Um die Kinder
dorthin zu bringen, werden Schulbusse auf vorab vereinbarten 34 Strecken
eingesetzt. Die Kinder treffen sich morgens in der Nähe ihrer eigentlichen
Schulen. Von dort werden sie zu den U-Bahn-Stationen gebracht.
Doch von einem ganz normalen Schulalltag, wie zu Vorkriegszeiten, kann
keine Rede sein. Nur zwei- bis dreimal pro Woche wird in der U-Bahn-Schule
gelernt, an den restlichen Tagen gibt es Online-Unterricht. Zudem lernen
die Kinder im Schichtsystem. Einige lernen von 9 bis 12 Uhr, die zweite
Gruppe von 13 bis 16 Uhr – und zwar jeweils die Hauptfächer: Ukrainische
Sprache und Literatur, Geschichte und Mathematik, Fächer, in denen auch
Prüfungen abgelegt werden.
Für Erstklässler*innen stehen vor allem Schreiben, Lesen und Zeichnen
auf dem Programm. „Ich bin wirklich zufrieden, dass Kinder diese
Möglichkeit haben. Und ich bin sehr froh, dass alle so gut gelaunt sind –
die Eltern, die Kinder, aber auch unsere Lehrkräfte“, sagt Terekhov. Keine
Selbstverständlichkeit in einer Stadt, die seit Monaten belagert und
beschossen wird.
Trotzdem, ohne Kontakt zu Gleichaltrigen – damit leben Kinder in der
Ukraine schon viel zu lange, nicht erst seit dem Beginn des Krieges. Denn
dem Krieg voraus ging eine zweijährige Quarantäne infolge der
Coronapandemie. Das beides zusammen sei der Grund für die
Anpassungsschwierigkeiten junger Menschen, sagt Inna Chomitsch, Psychologin
am städtischen Lyzeum Nr. 34 in Charkiw.
## Viele Kinder haben Angst
„Im Moment ist das für die Kinder alles wie ein Spiel. Sie verstehen noch
nicht, was Lernen heißt. Da sie wegen des Krieges nicht in den Kindergarten
gehen konnten, wissen sie nicht, wie es ist, in einer Gruppe zu lernen. Sie
spüren einander nicht. Manche Kinder weinen, weil sie sich nicht von ihren
Eltern lösen können. Sie haben Angst davor, in einen Bus zu steigen, denn
der Alarm könnte losgehen. Sie erleben einen emotionalen Bruch mit ihren
Eltern, das auszuhalten ist schwer“, sagt die Psychologin.
Sie bedauert auch, dass nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Charkiwer
Kinder in die U-Bahn-Schule gehen könne. 50.000 Schulkinder gibt es hier
insgesamt, das sind knapp halb so viele, wie vor dem Krieg. „Die anderen
tun mir leid. Ich habe auch kleine Kinder. Es ist sehr traurig und
schmerzhaft, dass sie ein solches Leben führen müssen“, sagt die
Psychologin.
Elena Rudakowa hingegen, Lehrerin in den unteren Klassen am Charkiwer
Lyzeum Nr. 56, strahlt über das ganze Gesicht. Heute am ersten Schultag ist
sie sicher, dass sich der Unterricht an einer Metro-Schule nicht von einer
regulären Schule unterscheidet: Es gebe die gleiche Ausstattung, das
gleiche Essen und den gleichen Unterricht, nur sei alles viel sicherer.
Sie erzählt, was die Kinder heute in der ersten Lektion zum Thema „Ich
erkunde die Welt“ gelernt hätten. „Zuerst ging es darum, wie man richtig am
Schreibtisch sitzt, wie man sich begrüßt und respektvoll miteinander
umgeht. Dann habe ich ihnen von unserer Ukraine erzählt, wie gut und schön
es hier ist. Was für Flüsse und Meere wir haben. Dass wir Berge haben – die
Karpaten, die Krimberge. Und dass die Krim die Ukraine ist.“
## Der sicherste Ort der Stadt
Und weiter: „Wir haben uns mit geometrischen Formen beschäftigt: flach,
dreidimensional. Wir haben Aufgaben gelöst und gelernt, aus Ziegeln einen
Löwen und andere Gegenstände zu bauen. Ich habe den Eindruck, dass der
Unterricht allen gefallen hat“, sagt Lehrerin Rudakowa. Sie ist überzeugt
davon, dass die Präsenz im Klassenzimmer die Qualität des Lernens
verbessern wird. Denn die Lehrer*innen könnten sehen, welche Kinder
besondere Aufmerksamkeit und Hilfe benötigten. „Das ist nicht dasselbe, wie
wenn man am Computer sitzt und die Kinder nur auf dem Bildschirm sieht“,
sagt Rudakowa.
Daneben werden in Charkiw weitere Schulen gebaut, die die
Sicherheitsanforderungen erfüllen. Schulen mit modernen Luftschutzbunkern,
in denen die Schüler*innen ebenfalls lernen können. Die erste soll nach
Angaben des Bürgermeisters innerhalb von drei Monaten auf einem
Schulgelände im Industriebezirk von Charkiw für rund 56 Millionen Hrywna –
umgerechnet etwa 1,4 Millionen Euro – gebaut werden. 450 Schüler*innen
können dort unterrichtet werden. „Die Kinder wollen kommunizieren, das
fehlt ihnen wirklich“, erklärt Terekhov.
Am Eingang der Schule stehen Polizisten und Schulangestellte. Außenstehende
haben keinen Zutritt zu der U-Bahn-Schule. Die Räumlichkeiten verfügen über
ein modernes Luftrückgewinnungssystem und eine auf Kinder abgestimmte
Beleuchtung. In jeder U-Bahn-Station gibt es psychologisches Fachpersonal,
aber auch medizinische Mitarbeiter:innen sowie einen
Sicherheitsdienst. Es wirkt, wie eine Mutter später sagen wird, wie der
[3][sicherste Ort der Stadt]. „Wenn wir die Möglichkeit hätten, würden wir
alle U-Bahn-Stationen mit Klassenräumen ausstatten, aber das können wir
nicht“, sagt Bürgermeister Terekhov.
Natalja Tschalaja, Lehrerin am Charkiwer Lyzeums Nr. 34, unterrichtet
ebenfalls in der U-Bahn-Schule. Sie findet es bedauerlich, dass die
Erstklässler*innen wegen des Krieges vorab keinen Kindergarten hätten
besuchen können. Dennoch hätten sie die ersten Unterrichtsstunden sehr
positiv aufgenommen. „Sie freuen sich, dass sie zusammen sein, sich an den
Händen halten und miteinander reden können.“
## Verstört und wortkarg
Dann wird sie nachdenklich. „Wir wissen noch nicht, wie alles weiter geht.
Doch die Stimmung ist gut. Die Kinder hören zu. Ich denke, alles wird
klappen. Aber es dauert eben einige Zeit, bis sich alle daran gewöhnt
haben.“ Probleme für die Kinder, nach dem Krieg von der U-Bahn in die
Regelschule zu wechseln, werde es keine geben, sagt sie noch.
Der Schultag ist wie im Flug vergangen. Nach drei Unterrichtsstunden
drängen die Kinder an den Ausgängen. Viele sind etwas wortkarg, sie
scheinen wirklich davon entwöhnt zu sein, zu kommunizieren. Einige wirken
erschöpft und unglücklich darüber, noch keine Freunde gefunden zu haben.
Andere verlassen die Metro-Schule jedoch mit einem Lächeln und freuen sich
schon auf den nächsten Schultag.
Wie auch die Eltern, die gekommen sind, um ihren Nachwuchs persönlich von
der U-Bahn-Schule abzuholen. Der Rücktransport der Kinder in ihre
Wohngebiete erfolgt jedoch organisiert mit Bussen.
Die Erstklässlerin Sofia Tscherewan und ihre Mutter Jana tragen Blusen, die
mit ukrainischen Motiven bestickt sind. Sofia wirkt verschlossen, ganz
anders als ihre Mutter. „Die U-Bahn in Charkiw ist der sicherste Ort der
Stadt. Deshalb habe ich auch keine Angst davor, meine Tochter in die
U-Bahn-Schule zu schicken. Und überhaupt: Ich möchte nicht, dass sie nur
online lernt. Sie soll Erfahrungen sammeln“, sagt die Frau.
## Kein Recht auf Entspannung
Sie habe ihrer Tochter vor Beginn des Unterrichts erklärt, warum dieser in
der U-Bahn stattfinde und wer die Ukraine angegriffen habe. „Ich habe ihr
gesagt: Während des Krieges ist es nicht sicher in der Schule, aber auch
nicht gut, nur zu Hause zu lernen. Jetzt gehst du in die U-Bahn und bist
nur teilweise zu Hause. Aber dann helfe ich dir, du wirst nicht alleine
sein“, erzählt sie.
Ein paar Meter weiter unterhält sich die Direktorin der Bildungsabteilung
des Stadtrats von Charkiw, Olga Demenko, mit einer Mutter über die
Lehrkräfte. Diese hätten kein Recht zu entspannen, denn es gehe um kleine
Kinder. „Die Lehrkräfte, die hier arbeiten, sind die besten“, sagt sie. Der
Bürgermeister hat klar gesagt: Nur wer arbeiten will, wird in der U-Bahn
arbeiten. Das heißt, sie sind mutig, klug, kreativ. Diese Lehrer*innen
hat niemand gezwungen, hier zu arbeiten. Hier sind nur die, die das
wirklich wollen.“
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
19 Sep 2023
## LINKS
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[3] /Krieg-in-der-Ukraine/!5838870
## AUTOREN
Juri Larin
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