| # taz.de -- Kinder in der Ukraine: Tanzen zur Musik des Krieges | |
| > In der ostukrainischen Stadt Charkiw trotzt eine Tanzschule dem | |
| > russischen Angriffskrieg. Die Kinder lernen beim Tanzen viel über sich | |
| > selbst. | |
| Bild: Jaryna, die Tochter der Choreografen, und Aryna (rechts) haben Spaß am T… | |
| Charkiw taz | „Fliehen? Wie viele Menschen sind geflohen und wurden doch | |
| überall vom Krieg eingeholt? Und wohin sollte ich überhaupt fliehen? Nach | |
| Europa? Mich zieht nichts dorthin, mir geht es hier gut“, sagt Natalija | |
| Beditsch, die künstlerische Leiterin des Tanzensembles Arira in der | |
| ukrainischen Stadt Charkiw. Im großen Tanzsaal im Zentrum der Stadt ist es | |
| kalt, um die 14 Grad. Trotzdem scheinen sich alle wohl zu fühlen. | |
| Kinderlachen füllt den Raum. Beditsch macht Aufwärmübungen mit rund einem | |
| Dutzend Kinder im Grundschulalter. Eine Gruppe aus 15 Jugendlichen wartet | |
| derweil, an die Reihe zu kommen. | |
| Alexej Dendeberja, Natalijas Mann, ist der Gründer und Leiter des | |
| Tanzensembles. Trotz der Kälte trägt er nur Jeans und T-Shirt und läuft | |
| barfuß. Er baut gerade eine Wandhalterung für Spiegel im Tanzsaal. Die | |
| Spiegel, so erzählt er, habe Natalijas Oma von ihrer Rente gekauft. Die | |
| 86-jährige Charkiwerin hat als Kind den Zweiten Weltkrieg überlebt. | |
| „Natalija, Kinder brauchen gerade im Krieg so etwas“, erinnert sich | |
| Natalija an die Worte ihrer Großmutter. Ohne Spiegel sei es nicht möglich, | |
| Tanzschritte richtig einzuüben, sagt die Choreografin. | |
| Bis zum russischen Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 trainierte | |
| die Gruppe von Natalija und Alexej in einem Raum eines privaten Gymnasiums | |
| im Norden der Stadt. Dann wurde die Schule [1][durch russischen | |
| Artilleriebeschuss] beschädigt. In den ersten Kriegsmonaten stand eine | |
| Wiederaufnahme des Tanzunterrichts nicht zur Debatte. Die Choreografen | |
| waren vom ersten Tag an damit beschäftigt, humanitäre Hilfe zu verteilen. | |
| ## Begleitung durch Artilleriebeschuss | |
| Doch trotz dieser Arbeit und trotz der ständigen Bombardierung der Stadt | |
| machte Natalija jeden Morgen Übungen für ihre Schüler, die sie live auf | |
| Instagram übertrug. Die Übungen wurden von der „Musik des Krieges“ | |
| begleitet – einer Artilleriekanonade am Rande Charkiws, wohin damals die | |
| Russen vorgedrungen waren. | |
| Die ersten persönlichen Tanzstunden konnte Natalija erst wieder geben, als | |
| sie mit ihrem Mann einen Keller am anderen Ende der Stadt gefunden hatte. | |
| Dort trainierten sie von August 2022 bis Juni 2023. „[2][Zuerst waren die | |
| Kinder noch sehr verängstigt] und angespannt, fast alle waren zu Hause, | |
| bauten sich dort Schutzräume aus Decken und saßen vor ihren Handys“, | |
| erinnert sich die Choreografin. „Sie waren in einem innerlichen | |
| Gefahrenzustand gefangen und mussten erst Grenzen überwinden, um sich | |
| selbst wieder sicher fühlen zu können“, sagt sie. Mittlerweile hat das | |
| Ensemble den Keller wieder verlassen, das Training findet im Kulturhaus im | |
| Stadtzentrum statt. | |
| Sie selbst tanze schon seit mehr als vierzig Jahren, erzählt Natalija. In | |
| den klassischen Tanzensembles in Charkiw seien die Beziehungen der Tänzer | |
| untereinander stark von Wettbewerb geprägt. „Aber mir ist es wichtig, in | |
| unserem Ensemble freundschaftliche Beziehungen zu fördern, damit die Kinder | |
| einander helfen“, sagt sie. „Das haben wir hier geschafft. Von außen merkt | |
| man nicht, wie lange ein Kind schon trainiert und auf welchem Niveau es | |
| ist. Sie haben ein gleichberechtigtes Verhältnis zueinander.“ | |
| Natalija und Alexej räumen den Kindern extra Zeit zum Reden sowie zum | |
| selbständigen Trainieren ein. Auch Psychotherapie für die Kinder gibt es. | |
| Bis zum Beginn des Krieges sagten Natalija und Alexej ihren Schülerinnen | |
| immer wieder, sie sollten nicht um den ersten Platz kämpfen, nicht für die | |
| Jurymitglieder tanzen, sondern in erster Linie dem Publikum gefallen. | |
| ## Den inneren Reichtum begreifen | |
| „Ich verbinde Tanz mit Psychologie. Wenn ein Mensch 'leer’ auf die Bühne | |
| kommt, entsteht etwas Wunderbares. Die Menschen müssen lernen, sich selber | |
| zu begreifen, ihre innere Welt, ihren inneren Reichtum. Darum sprechen wir | |
| viel mit den Kindern. Wir helfen ihnen, ihre Probleme zu bewältigen, damit | |
| sie nicht ihr verschlossenes Ich auf die Bühne bringen, keine Angst davor | |
| haben, dass etwas nicht klappen könnte. Die Aufgabe besteht eben auch | |
| darin, dem Publikum alles zu geben“, betont Natalija. | |
| Die Choreografin beobachtet aber, dass der Krieg die Kinder verändert hat – | |
| und zwar nicht automatisch zum Schlechteren. „Natürlich sind die Kinder | |
| verschlossener geworden, aber gleichzeitig überraschen sie auch mit ihrer | |
| Zielstrebigkeit. Der Mangel an Echtzeitinteraktion zwischen den Kindern hat | |
| dazu geführt, dass sie viel motivierter sind. Woran man früher ein Jahr, | |
| vielleicht sogar zwei oder drei gearbeitet hat, schaffen sie jetzt in | |
| wenigen Monaten. In vier Monaten bringen wir sie jetzt auf ein | |
| semiprofessionelles Niveau“, erzählt Natalija. | |
| Alexej ergänzt, dass es in Charkiw aktuell nur wenige Angebote für Kinder | |
| gebe, weshalb die Tanzschule für viele vielleicht der einzige Ort in der | |
| Stadt sei, an dem sie ihre Energie ausleben können. | |
| ## Die beste Zeit zum Träumeverwirklichen | |
| In diesem Jahr wird das Tanzensemble 15 Jahre alt. „Ich setze mir als | |
| wirtschaftliches Ziel für 2024, eine Kinderaufführung nach Europa zu | |
| bringen. Sie heißt ‚Als das Universum verrückt wurde‘“, sagt Natalija. | |
| Außerdem sollten die Kinder lernen, nicht auf die Zeit zu warten, in der | |
| sie ihre Träume verwirklichen. Die beste Zeit dafür sei jetzt. „Man muss | |
| auf nichts warten.“ | |
| Die Realität fordert allerdings noch anderes: Das größte Problem ist im | |
| Winter die Kälte. „Die Temperatur im Proberaum müsste auf bis zu 18 Grad | |
| erhöht werden. Aber das kostet viel Geld“, seufzt Alexej. | |
| Aryna, eine zehnjährige Tanzschülerin, die Charkiw seit Kriegsbeginn nicht | |
| verlassen hat, trainiert erst seit vier Monaten bei Natalija. „Vom ersten | |
| Tag an hat es mir hier gut gefallen. Ich habe verstanden, dass ich | |
| auftreten, dass ich tanzen möchte. Ich möchte, dass wir so bald wie möglich | |
| einen Auftritt haben“, sagt sie. Verschämt fügt sie hinzu, dass ihre Mutter | |
| sehr zufrieden mit ihren Fortschritten sei. | |
| Der größte Wunsch des Kindes: ein Auto für Mama kaufen – und selber auf die | |
| Bühne. „Ich möchte überall auftreten. Wo auch immer sie hinfahren, ich wä… | |
| froh mitzufahren. Ich wünsche mir sehr, dass, wenn es eine weitere | |
| Aufführung außerhalb von Charkiw gibt, ich dorthin mitfahren kann“, sagt | |
| die Zehnjährige. „Natürlich nur, wenn das möglich ist“, fügt sie unsich… | |
| hinzu. | |
| Die Mutter von Aryna bekennt, dass sie eher zufällig in dem Tanzensemble | |
| von Natalija und Alexej gelandet sei und sich am Anfang einen solchen Eifer | |
| ihres Kindes gar nicht hatte vorstellen können. Sie weiß, wie sehr Aryna | |
| einer Aufführung entgegenfiebert. „Sie ist ein sehr schüchternes Kind, aber | |
| hier öffnet sie sich. Plötzlich hat sie sogar Freundinnen“, erzählt die | |
| Frau. Wir Erwachsene wünschen uns allerdings vor allem, dass dieser Krieg | |
| aufhört. | |
| Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey] | |
| 3 Jan 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Juri Larin | |
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