# taz.de -- William Forsythe im Staatsballett Berlin: Präzisionsarbeit und Par… | |
> Befreiung aus den Konventionen des Balletts: Mit drei Stücken von William | |
> Forsythe gewinnt das Staatsballett Berlin neue Farben hinzu. | |
Bild: Das Staatsballett Berlin tanzt „One flat thing, reproduced“ von Willi… | |
Tische, hart und kantig. Zwanzig von ihnen werden mit einem lauten Rumms | |
über den Boden der Deutschen Oper in Berlin auf die Zuschauer zugeschoben | |
und bilden dort eine strenge Formation von Gängen und Flächen. Kurz blitzt | |
das Bild einer Behörde oder Schulklasse auf, Ordnung muss sein. Dann aber | |
geht die schönste Unordnung los, wenn die 14 Tänzerinnen und Tänzer des | |
Staatsballetts Berlin auf, unter, zwischen den und über die Tische zu | |
tanzen beginnen. | |
Sie rutschen bäuchlings und auf dem Rücken über die glatten Flächen, sie | |
springen hoch und tanzen oben weiter, sie springen runter und rollen unter | |
den Tischen, sie wackeln die Gänge dazwischen entlang wie Popeye im | |
Matrosengang, sie hebeln sich mit Armen und Beinen rauf und runter, nutzen | |
die Tischoberflächen als Widerstand und Ballettstange. | |
Bald geschieht mehr zur gleichen Zeit, als das Auge erfassen kann. Ein | |
wimmelndes Bild, dessen Tempo und Energie fasziniert. Nicht zuletzt | |
deshalb, weil ihnen ja ständig etwas im Weg steht, Hürden, Barrieren, die | |
sie im Tanz aber spielerisch umwandeln in etwas, das ihren Erfindungsgeist | |
und ihre Wendigkeit herausfordert. | |
„One flat thing, reproduced“ ist eine Choreografie von [1][William | |
Forsythe,] uraufgeführt 2000 mit dem Ballett Frankfurt. [2][Mehr als | |
dreißig Jahre lang hat Forsythe dort als Choreograf gearbeitet], erst mit | |
dem Ballett Frankfurt, nach dessen Auflösung 2004 mit der neugegründeten | |
The Forsythe Company, bis 2015. Zwei der dort entstandenen Stücke und ein | |
späteres sind jetzt zu einem Abend im Staatsballett Berlin geworden, der | |
nicht nur die Herzen der Forsythe-Fans höher schlagen lässt. Der 76-jährige | |
Choreograf selbst und Tänzer seiner ehemaligen Company haben bei den Proben | |
mitgearbeitet. | |
## Zerlegt und neu zusammengesetzt | |
Forsythes Bewegungssprache gilt als komplex und kompliziert zu tanzen. | |
Klassisches Ballett zu können ist dafür die Voraussetzung, auf der | |
Zerlegung seines Vokabulars, virtuos und oft atemlos schnell, beruht seine | |
Technik. Die Linien werden vielfach gebrochen, aus dem Fußgelenk, dem Knie, | |
der Hüfte, den Schultern und Ellbogen kommen Richtungswechsel, die eine | |
Bewegungsphrase in vielfachen Varianten neu zusammensetzen lassen. | |
Das erste Stück des Forsythe-Abends „Aproximate Sonata 2016“ lässt dies in | |
einer Reihe von scharf geschnittenen Pas des Deux erkennen. Das erzeugt | |
eine eigene, kühle Spannung. | |
Das Staatsballett Berlin stellt mit diesem Programm auch unter Beweis, dass | |
es dieser Herausforderung gewachsen ist und mehr kann, als sein Repertoire | |
bisher sehen ließ. Auch in dieser Hinsicht ist dem [3][Ballett-Intendanten | |
Christian Spuck] mit dem Engagement von William Forsythe ein guter Schritt | |
gelungen. | |
Der Sound zu „One flat thing, reproduced“ kommt von dem Komponisten Thom | |
Willems, mit dem Forsythe 40 Jahre lang zusammengearbeitet hat. Er erzeugt | |
eine laute, industrielle Geräuschkulisse; man kann sich am Rande eines | |
großen Hafens oder einer Baustelle wähnen. Dieses von vielen akustischen | |
Informationen vibrierende Bild fügt dem tänzerischen Spiel auch etwas von | |
harter Arbeit und einen proletarischen Gestus hinzu. | |
## Beobachten und Verantwortung teilen | |
Takte zum Mitzählen, Fehlanzeige: Die Präzision des Miteinanders ist | |
angewiesen auf die gegenseitige Beobachtung und Beachtung. Jede und jeder | |
trägt die Verantwortung für das gemeinsame Gelingen. Das ist eine Befreiung | |
aus den hierarchischen Strukturen von Corps de Ballett und Solisten. Und | |
man glaubte am Premierenabend sehen und spüren zu können, dass diese | |
Aufgabe die Tänzerinnen und Tänzer mit Mut und Freude erfüllte. | |
Das letzte Stück des Abends, „Blake Works I“, hat Forsythe 2016 für das | |
Ballett der Pariser Oper entwickelt. Es ist eine Szenenfolge zu den | |
elektronischen, melancholischen [4][Popsongs von James Blake]: Das gibt dem | |
Stück etwas von Partyatmosphäre. Die Kostüme der Frauen zitieren die | |
klassischen Tutus, aber wie die Bewegungen in einer entspannten, lässigen | |
Form. | |
„Blake Works I“ wirkt wie ein Geschenk des Choreografen an klassische | |
Ensembles, das ihnen die Möglichkeit bietet, ihrer so fordernden und | |
anstrengenden Kunst die Liebe zu erklären und zugleich über ihre Ränder | |
hinauszugelangen, ihre Konventionen aufzulösen, an die Stelle der | |
Disziplin, die hier wie im Hochleistungssport gefordert ist, das Spiel zu | |
setzen. Das ist nur ein Schein, gewiss. Aber der wirkt auch deshalb so | |
überzeugend, weil die bekannten Bewegungen jetzt mit einer so viel leichter | |
erscheinenden Energie vorgetragen werden. | |
19 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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