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# taz.de -- Familien im Ukraine-Krieg: Spagat zwischen Krieg und Kindeswohl
> Ukrainische Eltern in Frontnähe müssen sich sowohl um die Sicherheit
> ihrer Kinder als auch deren Bildungschancen kümmern. Oft müssen sie sich
> dafür rechtfertigen.
Bild: Die 9-jährige Vira und ihre Mutter Natalija in Sumy
Sumy taz | „Wir lagen auf Campingmatten neben unserem Zelt und versuchten,
bekannte Sternbilder am Nachthimmel zu finden, mein Mann, unsere Tochter
und ich. Als quasi aus dem Nichts ein entsetzlicher Donner ertönte und ein
riesiger Schatten direkt über uns alle Sterne verdeckte. Wir erschauderten
vor Entsetzen“, erinnert sich die 42-jährige Natalija aus Sumy an einen
traurigen Campingausflug.
Ein Kampfjet im Tiefflug hatte die Familie aufgeschreckt. Zum Glück sei es
ein Flugzeug der ukrainischen Streitkräfte gewesen, erzählen die Eltern.
Doch ihre völlig verstörte neunjährige Tochter weinte trotzdem bis zum
Morgen durch. Vergeblich versuchten die Eltern, sie zu beruhigen und dabei
ihre eigene Angst nicht zu zeigen.
Natalija und Wadym hatten lange von diesem Wochenendausflug mit ihrer
Tochter Vira geträumt, weitab von der sommerlichen Hitze der Stadt. Sie
wollten wieder einmal frische Waldluft atmen und ihrer Tochter die
Sternbilder zeigen, die diese bislang nur aus Büchern kannte.
## Abendliche Sperrstunde seit Kriegsbeginn
Auch im Gebiet Sumy im Norden der Ukraine, wo die Familie lebt, gibt es,
wie im ganzen Land, seit Beginn des russischen Großangriffs eine abendliche
Sperrstunde. Das heißt, seit zweieinhalb Jahren können die Menschen keine
spätabendlichen Spaziergänge mehr machen oder mal ein bisschen länger bei
Freunden verweilen.
Das ist besonders für Familien in Etagenwohnungen anstrengend, wenn sie
nach langen heißen Sommertagen einzig auf dem Balkon etwas Abkühlung finden
können. Und selbst das ist nicht immer ungefährlich.
„Dass wir in unserer Heimatstadt bleiben, war eine wohldurchdachte
Entscheidung. Solange die Situation in Sumy noch nicht absolut kritisch
ist, werden wir weder in die Westukraine noch ins Ausland gehen. Denn wenn
wir gehen, gehen andere auch. Und dann geht es mit der Wirtschaft in der
Region bergab“, entgegnet Natalija nachdrücklich allen, die ihr vorwerfen,
ihrem Kind gegenüber unverantwortlich zu handeln. So etwas hört sie oft von
Eltern, die ihre Kinder aus an Russland angrenzenden Gebieten fortgebracht
haben.
## Dem Kind eine schöne Kindheit gestalten – trotz Krieg
Seit dem Frühling 2024 gehört Sumy zu den potenziellen Kampfgebieten. Die
Entscheidung, dort zu bleiben, bedeutet für Natalija als Mutter auch, alles
dafür zu tun, dass ihr Kind eine möglichst sichere und auch schöne Kindheit
hat. Natalija und Wadym opfern dafür ihre gesamte freie Zeit, manchmal
sogar ihre eigene Sicherheit und die Möglichkeit, als Familie
zusammenzubleiben.
So musste Wadym zum Beispiel ins knapp vierhundert Kilometer entfernte
Dnipro umziehen, da er hier deutlich mehr verdient, als es in Sumy möglich
wäre. Natalija ist Messtechnikerin und leitet ein Labor in einem
staatlichen Unternehmen. Angesichts des Mangels an qualifiziertem Personal
in den frontnahen Gebieten der Ukraine machen ihre Kompetenz und ihre
Bereitschaft, auch zu Kunden in häufig beschossene Gebiete zu reisen,
Natalija zu einer wertvollen Kämpferin an der Wirtschaftsfront.
## Konkurrenz mit ins Ausland geflüchteten Kindern
„Ich bin mir bewusst, dass nach Ende des Krieges der Lernerfolg von Kindern
aus den grenznahen Gebieten und derer, die ganz normal zur Schule gehen
oder im Ausland lernen, nach den gleichen Kriterien gemessen wird. Und
meine Tochter lernt die ganze Zeit nur online. Sie erinnert sich nur noch
vage daran, wie ihre Klassenkameraden aussahen.“ Natalija ist sich sicher,
dass ihr Kind keine Ausnahmeregelungen oder erleichterte Bedingungen bei
Prüfungen erwarten kann, nur weil sie aus einer Stadt in Frontnähe kommt.
Besonders viel Sorgen macht sie sich darum, wie ihre Tochter in
Fremdsprachen wird mithalten können. Denn viele Gleichaltrige gehen schon
seit über zwei Jahren im Ausland zur Schule. Deshalb scheut Natalija keine
Kosten und Mühen, um ihrer Tochter Englisch-Privatunterricht zu
ermöglichen.
„Gute, wenn auch gebrauchte englischsprachige Kinderliteratur suche ich auf
eBay. Das ist viel billiger, als neue Lehrbücher in ukrainischen Buchläden
zu kaufen“, sagt sie und ist besonders stolz auf ihr letztes
Super-Schnäppchen: eine Sammlung von 50 Kinder-Minibüchern.
## Schule seit Jahren nur noch online
Ihre Tochter Vira besucht eine Schule mit künstlerischem Schwerpunkt, wo
sie auch Geige spielen lernt. Das Mädchen träumt davon, später einmal die
erste Geige im Nationalen Sinfonieorchester der Ukraine zu spielen.
Außerdem spielt sie Basketball – sie ist ziemlich groß für ihr Alter. Davor
war sie [1][vier Jahre beim Tanzen]. Die Eltern wünschen sich, dass Vira in
ihrer Kindheit eine Beschäftigung findet, die ihr auch in Zukunft Freude
und ein gesichertes Einkommen einbringen wird.
Neben den außerschulischen Aktivitäten versucht Natalija, die Bildung ihrer
Tochter möglichst effizient zu organisieren. Das ist nicht einfach, wenn
der gesamte Unterricht nur online stattfindet und zudem noch von
regelmäßigen Stromausfällen unterbrochen wird. Vor allem ist es teuer. Vor
Beginn des neuen Schuljahres hat Natalija achtzig Prozent des
Haushaltseinkommens der Familie für schulische Belange ausgegeben, u. a.
hat sie Highspeed-Internet installiert und einen leistungsfähigen
Stromgenerator gekauft.
Natalija gibt zu, dass sie von ihrer Tochter viel schulischen Fleiß
verlangt, weil davon Viras Zukunft abhängt. Gleichzeitig versucht sie,
sanfter mit dem Mädchen umzugehen. Denn schließlich sind Kinder in der
Grenzregion, die jeden Tag Explosionen und Luftalarm hören und den Krieg
aus nächster Nähe erleben, nervöser und verletzlicher.
## Konstante Risikoeinschätzung
„Wir bemühen uns sehr darum, dass unser Kind Nachrichten weder hört noch
liest. Deshalb haben wir zum Beispiel eine Eltern-App auf Viras Smartphone
installiert, um zu kontrollieren, was sie dort tut.“ Natalija ist strikt
dagegen, vor Kindern über die Grausamkeiten des Krieges zu sprechen oder
sie diese sehen zu lassen. „Auch im Krieg liegt die Hauptverantwortung für
die mentale Gesundheit der Kinder bei ihren Eltern“, meint sie.
„Wie auch immer, die wichtigste Aufgabe von Eltern ist es, ihre Kinder zu
schützen. Wir beobachten konstant die Situation, schätzen Risiken ein.
Sollte es in Sumy gefährlicher werden, ziehen wir schon die Möglichkeit
einer Evakuierung in Betracht“, fasst Natalija zusammen, bevor sie ihre
Tochter vom Training aus der Sportschule abholt.
Aber die Situation im Gebiet Sumy seit Beginn der Kursker Operation der
ukrainischen Streitkräfte Anfang August verschlechtert sich ständig. Die
russische Armee beschießt die zivile und Energieinfrastruktur der Region
[2][mit Raketen, Gleitbomben, Drohnen und Artillerie].
## Jobverlust nach Raketenbeschuss
Anfang September war die 43-jährige Olga aus Sumy auf Nachtschicht, als ein
Gebäude ihrer Fabrik von einer russischen Rakete getroffen wurde. Olga
hatte noch Glück, sie kam mit Kratzern und Schürfwunden durch Glasscherben
und herunterfallende Deckenteile davon.
Als sie das Hauptgebäude der Fabrik betrat, sah sie tote und verletzte
Kollegen. Einer Frau hatten Schrapnelle den Bauch aufgerissen, ihre Organe
quollen heraus. Einer anderen waren beide Beine gebrochen. Trotz des
erlittenen Schocks und dem Feuer, das die russische Rakete verursacht
hatte, leistete Olga ihren verletzten Kollegen Erste Hilfe.
Zu Hause versuchte sie später, ihre drei Kinder nicht zu verängstigen, als
sie vom Verlust ihres Arbeitsplatzes erzählte. Denn dieser Arbeitsplatz
existiert schlicht nicht mehr. „Solange ich keinen neuen Job finde, leben
wir nur noch vom Gehalt meines Mannes. Neben den normalen familiären
Ausgaben haben wir allerdings bisher nie am wichtigsten Hobby unserer
Kinder, dem Tanzen, gespart“, erzählt Olga. Sie ist stolz auf das
tänzerische Talent ihres Sohnes und ihrer beiden Töchter.
## Tanztraining als Investition in die Zukunft
Alle drei nehmen regelmäßig an Tanzaufführungen teil und überzeugen bei
regionalen und internationalen Wettbewerben. Die Teilnahme an solchen
Turnieren, das Training und die aufwändigen Kostüme, all das verschlingt
den größten Teil des Haushaltsbudgets von Olga und ihrem Mann Oleksander.
Aber sie glauben, dass die Kinder auch ihr weiteres Leben mit dem Tanzen
verbinden werden. Aus diesem Grund bleibt die Familie in Sumy, wo die
Kinder schon seit Jahren ihre Lieblingstrainer haben, die ebenfalls in der
Stadt bleiben.
Eltern aus ukrainischen Städten an der Grenze zu Russland sind zunehmend
mit Kritik und Unverständnis konfrontiert, warum sie dort bleiben und ihre
Kinder nicht in Sicherheit bringen. Dass sie damit auch das gewohnte Leben
der Kinder zerstören und diese auch ihre Ziele und Träume aufgeben müssen,
wird dabei gerne übersehen. Mit jedem neuen Tag der sich verstärkenden
Kämpfe wird dieses Dilemma für Eltern größer und es wird immer schwerer,
die richtigen Lösungen zu finden.
Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey]
24 Nov 2024
## LINKS
[1] /Kinder-in-der-Ukraine/!5979772
[2] /An-der-Front-bei-Charkiw/!6020744
[3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Anna Klochko
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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