# taz.de -- Russlands Angriff auf die Ukraine: An der Grenze | |
> Die ukrainische Armee startete ihren Vorstoß ins russische Kursk nahe der | |
> Stadt Sumy. Wie blicken die Menschen dort auf den Vormarsch? | |
Bild: Mehr Militärpräsenz: Durch einen Ort in der Region Sumy rollt ein Fahrz… | |
Sumy taz | Es ist 21.43 Uhr als es in Sumy im Nordosten der Ukraine | |
donnert. Tief und grollend. Dabei ist der Himmel am Montagabend | |
sternenklar. In der Warn-App für die Luftalarme gibt es seit gut zwei | |
Stunden eine Warnung. Ein paar Minuten später wird eine Explosion gemeldet. | |
Wo genau, wird nicht bekannt. In der Stadt selbst wohl nicht. Dafür war es | |
nicht laut genug. Aber nah genug, um im Magen die Druckwelle zu spüren. | |
Raketeneinschläge und Bombenangriffe sind häufiger geworden, seit die | |
ukrainische Armee von hier aus am 6. August überraschend die Grenze nach | |
Russland überquert hat. Es werden noch gut 18 Stunden Alarm am Stück | |
dazukommen, bis es am Dienstagabend Entwarnung gibt. Das ist viel, selbst | |
für eine Region an der Grenze zu Russland. Alarm gibt es in Sumy oft, denn | |
aus der Nachbarregion Kursk fliegen häufig Drohnen in den ukrainischen | |
Luftraum. | |
Sumy ist das administrative und wirtschaftliche Zentrum der gleichnamigen | |
Region. Die Stadt hat rund eine Viertelmllion Einwohner. Knapp 40 Kilometer | |
sind es zur russischen Grenze auf dem kürzesten Weg. | |
Die Stadt wurde auf einem Hügel über dem Fluss Psel von Kosaken gegründet: | |
Ukrainern, die ihren meist polnischen Adelsherren weiter westlich | |
davongelaufen waren. In dieser Gegend östlich des Dnipro hatten sie sich in | |
der kaum bevölkerten Steppe niedergelassen. Ihre Anführer verbündeten sich | |
im 17. Jahrhundert mit dem Moskauer Zaren, um gegen Polen oder Tataren zu | |
kämpfen. Der Zar versprach ihnen dafür Autonomie. Doch die russischen | |
Herrscher, inzwischen nach St. Petersburg umgezogen und sich Kaiser | |
nennend, fühlten sich irgendwann nur noch an den Teil des Deals gebunden, | |
der ihnen passte. | |
## Am Horizont steigt Rauch auf | |
Heute ist Sumy wieder ein Außenposten. Rund 330 Straßenkilometer sind es | |
von Kyjiw. Mit dem blau-gelb lackierten Zug dauert es sechs Stunden. Er ist | |
alt, aber pünktlich. Während er durch Maisfelder und Birkenwälder rumpelt, | |
greift Russland am Montag die Ukraine mit Raketen, Marschflugkörpern und | |
Drohnen an. Beim Nachzählen stellt sich später heraus, dass es der bisher | |
größte Luftangriff in diesem Krieg ist. 15 von 26 ukrainischen Regionen | |
werden attackiert. Es gibt mehrere Tote. Hauptziel ist die | |
Energieinfrastruktur. Seit dem Frühjahr zerstört Russland die | |
Energieerzeugung der Ukraine. Das soll die Rüstungsindustrie lähmen, aber | |
auch den Widerstandswillen brechen. | |
Auch die Region Sumy wird an diesem Tag von Russland aus der Luft | |
angegriffen. Aber hier geht es mehr darum, den rückwärtigen Raum der | |
ukrainischen Armee zu treffen. Spuren sieht man auf dem Weg: In Woroschba, | |
wo die Bahnlinie am nächsten an der russischen Grenze verläuft, ist ein | |
alter Wasserturm am oberen Ende wie von einem Riesen auseinandergerissen. | |
In Tjotkino, dem zehn Kilometer entfernten russischen Grenzort, wird | |
gekämpft. Andere Gebäude sind mit Splitterspuren übersät. Auf dem | |
Rangierbahnhof stehen verbogene Güterwagons. An ein altes Lagerhaus hat | |
jemand mit blauen und gelben Buchstaben „gefährliche Gegend“ geschrieben. | |
Am Horizont steigt Rauch auf. | |
Serhiy ist mit seiner Frau Julia und dem zehnjährigen Dima in Konotop | |
zugestiegen. Das ist auf halbem Weg nach Kyjiw. Dort haben sie Urlaub | |
gemacht, erzählt er und zeigt auf dem Smartphone Fotos im und am Hotelpool. | |
„Wir leben in Sumy“, sagt er. Trotz der russischen Angriffe seien sie | |
bisher geblieben. „Das ist unser Zuhause.“ Aber natürlich, wenn sich die | |
Situation verschlechtere, müsse man vielleicht reagieren. | |
Möglicherweise hat Serhiy aber auch eine andere Wahrnehmung von Gefahr. Der | |
Mittdreißiger ist Berufssoldat und dient bei einer Aufklärungseinheit, die | |
auch hinter den russischen Linien eingesetzt wird. Deshalb soll es keinen | |
vollen Namen von ihm geben. Er zeigt Fotos von sich in Uniform in Cherson | |
am Dnipro mit einem Boot, von seinen Kameraden, von verschiedenen | |
Handfeuerwaffen. Auf einem Foto hält er ein Gerät, das mit | |
elektromagnetischen Wellen Drohnen zum Absturz bringen kann. „Das war in | |
Russland“, sagt er. | |
## Daueralarm, Stromausfall, Hitzewelle | |
Ob er die Offensive nach Kursk gut findet, während die ukrainischen Truppen | |
im Donbass langsam zurückweichen müssen und es heißt, es fehle Personal? | |
Serhiy sagt, er wisse es auch nicht. „Aber besser wir kämpfen bei ihnen, | |
als die bei uns.“ | |
Trotz Daueralarm, Stromausfall und Hitzewelle ist die Innenstadt von Sumy | |
erstaunlich belebt. Menschen gehen einkaufen. Auf den Bürgersteigen brummen | |
die Dieselgeneratoren. Die Fußgängerzone ist von schattenspendenden | |
Alleebäumen gesäumt. Das ist hilfreich bei 33 Grad. Das Lokal Dymna Khata | |
trifft offenbar den Geschmack: Draußen sind vier von fünf Tischen besetzt, | |
er gibt Eiskaffee, selbst gemachte Limonade und eine anhängliche Katze. Im | |
klimatisierten Innenraum zocken Teenager ein Konsolenspiel. Allerdings | |
sieht man der Straße auch an, dass sie mal bessere Zeiten hatte. Jeder | |
dritte Laden ist geschlossen und auch ein paar der Gebäude im Stil des | |
russischen Spätbarock sehen aus, als ob sie auch ohne Krieg kollabieren | |
könnten. | |
Gründlich restauriert kommen dagegen die Kirchen daher. Dienstagmittag | |
öffnet sich die Tür der Heilig-Auferstehungs-Kathedrale in der | |
Wosskresenski-Straße. Sie gehört zur Orthodoxen Kirche der Ukraine, also | |
der, die keine Verbindungen nach Moskau hatte. Ein Trauermarsch ist zu | |
hören. Voran gehen Soldaten mit der ukrainischen Flagge, [1][einer mit | |
einem orthodoxen Holzkreuz], ein weiterer trägt eine gerahmte Fotografie | |
des Gefallenen. Dann kommen sechs Priester, sechs Soldaten schultern den | |
Sarg. Danach die Angehörigen und ein Dutzend Trauergäste. Igor Drobnov ist | |
am 16. August mit 29 Jahren gestorben. | |
Nur wenige hundert Meter weiter steht der „Zentralniy Rynok“. In der | |
kreisrunden Markthalle gibt es im Erdgeschoss frische Lebensmittel, im | |
Keller Bohrmaschinen und Batterien und außenrum allerlei Kleidung. Ein | |
Rynok ist ein Barometer einer ukrainischen Stadt: Ist nicht viel los und | |
die Händler geben Rabatte, sind die Zeiten schlecht. Dementsprechend geht | |
es Sumy mittelmäßig. An der Fleischtheke wetteifern gleich sechs | |
Verkäuferinnen um die Aufmerksamkeit von nur halb so vielen potenziellen | |
KundenInnen. Natascha und Marina raten, der Schweinenacken eigne sich auch | |
gut zum Grillen. | |
## Betonsperren und Stacheldraht | |
Oksana hat einen Obst- und Gemüsestand in der Halle. Auch sie will es beim | |
Vornamen belassen. „Das Gemüse ist aus Gärten in der Region“, sagt sie. U… | |
tatsächlich haben die Tomaten dieses satte Rot, das man im Supermarkt | |
selten findet. „Die Wassermelonen sind auch aus der Ukraine. Die | |
Zitrusfrüchte aber aus Spanien.“ Als die [2][großangelegte Invasion | |
Russlands vor zweieinhalb Jahren begann], sei sie für ein paar Monate zu | |
ihrer Tochter geflüchtet, die in Italien lebe. „Aber da habe ich mich nicht | |
wohl gefühlt.“ In Sumy habe sie ihr Haus, ihre Arbeit und ihre Freunde. | |
Angst habe sie natürlich trotzdem, sagt sie. In den vergangenen Wochen sind | |
auch im Stadtgebiet Raketen und Bomben eingeschlagen. In einem | |
Plattenbaugebiet am anderen Flussufer war eine Woche zuvor eine Rakete auf | |
einem Parkplatz explodiert. Ein Dutzend Autos brannte aus, aber zum Glück | |
hatte die Rakete das Wohnhaus verfehlt. Oksanas Augen werden ein bisschen | |
feucht, als sie danach gefragt wird. Dann will sie lieber wieder über das | |
Obst reden. | |
Oberbefehlshaber Olksandr Syrskiy, seit Februar im Amt, [3][sieht den | |
Vorstoß nach Kursk positiv]. „Wir kontrollieren mehr als 100 Siedlungen und | |
1294 Quadratkilometer“, sagte er am Dienstag bei einer Pressekonferenz. Die | |
Fläche ist größer als alles, was Russland seit Jahresanfang insgesamt | |
eingenommen hat. „Im Süden der Ukraine hat der Feind seine Aktivität | |
reduziert.“ Rund 30.000 Soldaten seien von dort Richtung Kursk verlegt | |
worden, Tendenz steigend. | |
Gut vernetzt in Sumy ist Serhiy Malyuk. Der 56-jährige Fotograf hat früher | |
an der Universität unterrichtet. Inzwischen arbeitet er für eine | |
Hilfsorganisation. Er erinnert sich an die ersten Tage und Wochen der | |
Invasion. Sumy entging 2022 nur knapp der Besetzung. In der Stadt waren nur | |
wenige ukrainische Truppen, aber hunderte Menschen hatten sich freiwillig | |
zur Territorialverteidigung gemeldet. „Wir hatten hier früher viel Handel | |
mit Russland, aber es stand nie infrage, wohin wir gehören.“ Die | |
improvisierte Truppe blockierte die wichtigen Einfallstraßen. „Die Russen | |
wollten schnell weiter nach Kyjiw“, sagt er. Also nahmen sie einen anderen | |
Weg. | |
Tatsächlich sieht man in den Vororten von Sumy an einigen Stellen | |
vorbereitete Schützengräben und Unterstände, an Straßenkreuzungen und | |
Bahnübergängen liegen Betonsperren und Stacheldraht bereit. Man hat sich | |
also auf die Verteidigung vorbereitet. Doch anders als im Frühjahr, als es | |
der ukrainischen Armee an Munition mangelte, weil die Republikaner im | |
US-Kongress das Budget blockierten, konnte sie diesmal selbst aktiv | |
werden. | |
Dass die russischen Truppen nun weiter entfernt von der Stadt stehen, ist | |
offenbar psychologisch wichtig. Die Gefahr ist dennoch da, nur anders. Die | |
Gleitbomben, die russische Flugzeuge noch über eigenem Gebiet ausklinken, | |
können über Dutzende Kilometer ihren Weg auch bis nach Sumy finden. | |
„Natürlich haben wir Angst“, sagt Malyuk. „Aber es geht hier nicht nur um | |
uns, sondern um das ganze Land.“ | |
31 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Marco Zschieck | |
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