# taz.de -- Abzug sowjetischer Truppen: In Russland als Niederlage erachtet | |
> Vor 30 Jahren endete der Abzug sowjetischer Truppen aus Brandenburg. Ein | |
> Interview mit der Militär-Forscherin Małgorzata Popiołek-Roßkamp. | |
Bild: Abschiedsfeier der russischen Streitkräfte im Hauptquartier in Wünsdorf | |
taz: Frau Popiołek-Roßkamp, am 31. August 1994 endete offiziell der Abzug | |
der früheren sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland. Die Hälfte der | |
500.000 Soldaten war in Brandenburg stationiert. Wie fest ist das Datum in | |
der Erinnerungskultur verankert? | |
Małgorzata Popiołek-Roßkamp: Nicht nur in Brandenburg, in ganz Deutschland | |
spielt dieses Datum kaum eine Rolle. Allerdings gibt es einige Initiativen, | |
die sich um dieses Thema bemühen. | |
taz: Welche zum Beispiel? | |
Popiołek-Roßkamp: In Zusammenhang mit dem 30-jährigen Jubiläum finden | |
verschiedene Veranstaltungen statt. Allerdings gibt es wenig, was davon | |
außer Publikationen dauerhaft bleibt. Im Brandenburg Museum in Potsdam wird | |
der Abzug, neben der Sonderausstellung mit Kunstprojekten von Sven Johne, | |
in Form von Interventionen in der Dauerausstellung zur Geschichte | |
Brandenburg thematisiert. | |
taz: Und in Wünsdorf, wo sich das Hauptquartier der Gruppe der Sowjetischen | |
Streitkräfte befand? | |
Popiołek-Roßkamp: Dort beschäftigt sich das Rote Stern Museum mit den | |
sowjetischen Truppen in Brandenburg. Das ist eine private Initiative. | |
Gleichzeitig ist [1][Wünsdorf] auch ein Gradmesser dafür, wie wichtig oder | |
auch unwichtig dieser Teil der Geschichte in Brandenburg ist. | |
taz: Inwiefern? | |
Popiołek-Roßkamp: Ein Großteil der militärisch genutzten Areale steht immer | |
noch leer. Das Haus der Offiziere in Wünsdorf ist teilweise eine Ruine. | |
Zwar gab es nach dem Abzug die Idee, dort ein Friedensmuseum zu gründen. | |
Einen Teil davon hätte das Diorama werden können, das die Schlacht um den | |
Reichstag von 1945 darstellte. Doch man konnte sich nicht auf den Preis | |
einigen, und es wurde mitgenommen. Aus den Überlegungen in den 1990er | |
Jahren ist nichts geworden. Bis heute gibt es keinen zentralen | |
Erinnerungsort. | |
taz: Sie sprechen vom Abzug als dem endgültigen Ende des Kalten Krieges. | |
War der nicht schon mit der Auflösung der Sowjetunion beendet? | |
Popiołek-Roßkamp: Man könnte auch sagen, dass der Kalte Krieg bereits mit | |
dem Zwei-plus-Vier-Vertrag beendet war. Oder mit der Vereinigung | |
Deutschlands. Man muss sich aber in Erinnerung rufen, dass zum Zeitpunkt | |
des Abzugs, der ja einige Jahre gedauert hat, in der vereinigten und | |
souveränen Bundesrepublik eine fremde Armee stationiert war. Dass der Abzug | |
am Ende friedlich und ohne Zwischenfälle verlaufen ist, war nicht unbedingt | |
selbstverständlich. Da mussten 500.000 Menschen mitsamt ihres militärischen | |
Gerätes Ostdeutschland verlassen, um in ein Land mit ungewisser Zukunft | |
aufzubrechen. | |
taz: Welche Bedeutung hatte der Abzug für die Menschen vor Ort? Überwog da | |
Erleichterung oder stellte sich auch die Frage, was aus den Flächen und | |
Gebäuden werden soll? | |
Popiołek-Roßkamp: Es war zum einen natürlich die Erleichterung. Und auch | |
Neugier. Das Betreten der Flächen war früher verboten. Nachdem die | |
Entscheidung über den Abzug gefallen ist, wurden in vielen Kasernen Tage | |
der offenen Tür veranstaltet. Das war in Westberlin mit den Westalliierten | |
schon lange geübte Praxis. Das Interesse war auch in Brandenburg sehr groß. | |
taz: Hatte es keine größeren Konflikte gegeben? Da haben Panzer ja manchmal | |
auch Gartenzäune niedergewalzt. | |
Popiołek-Roßkamp: Zum Zeitpunkt der Stationierung gab es diverse | |
Einschränkungen und Störfaktoren, etwa nächtliche Militärmanöver, | |
Truppenbewegungen, Umweltverschmutzung und Gewaltakte außerhalb der | |
Kasernen. In Wünsdorf war die Bundesstraße 96 gesperrt, da musste die | |
Lokalbevölkerung einen Umweg nehmen. Also die Erleichterung war schon | |
spürbar. | |
taz: Sie erforschen den Abzug wissenschaftlich am Leibniz-Institut für | |
Raumbezogene Sozialforschung in Erkner. Was genau ist Ihr Thema? | |
Popiołek-Roßkamp: Ich erforsche die Wege in die zivile [2][Umnutzung | |
militärischer Flächen in Brandenburg]. Dazu gehören auch die politischen | |
und die zivilgesellschaftlichen Prozesse, die zum Abzug führten und die | |
verschiedenen Konversionsprojekte. Zu meinen Fallstudien aus dem Großraum | |
Berlin gehören unter anderem Wünsdorf, Jüterbog, Neuruppin und die | |
Kyritz-Ruppiner Heide. Diese Orte zeigen exemplarisch die unterschiedlichen | |
Umnutzungsstrategien in den 1990er Jahren. Zum Schluss stelle ich die Frage | |
nach dem Umgang mit dem sowjetischen Erbe in Deutschland bis heute. | |
taz: Wissen Sie, was aus den ehemaligen Soldaten der Sowjetarmee und | |
Russlands geworden ist? Da hat die Bundesrepublik auch in den Bau von | |
Wohnanlagen in Russland investiert. | |
Popiołek-Roßkamp: Das war ein Teil der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Nach | |
dem Zerfall der Sowjetunion war die wirtschaftliche Situation in Russland | |
schwierig. Die meisten Soldaten, die abzogen, hatten keine Perspektive. | |
Viele Gelder, die für den Wohnungsbau zur Verfügung standen, kamen | |
allerdings überhaupt nicht vor Ort an. | |
taz: Welche Rolle spielt der Abzug in der russischen | |
[3][Erinnerungskultur]? | |
Popiołek-Roßkamp: Der Abzug wurde von den Soldaten, aber auch den Menschen | |
in Russland als eine Niederlage angesehen und wird von vielen immer noch so | |
wahrgenommen. Auch die Tatsache dass keine Abschiedsveranstaltung für alle | |
vier Alliierten zustande gekommen ist, war für Russland ein Affront. An das | |
friedliche Ende des Kalten Krieges oder das Erbe Gorbatschows wird in | |
Russland nicht gedacht. Bereits damals wurden übrigens die Grundlagen für | |
den aktuellen Konflikt gelegt. Das angebliche Verbot der | |
Nato-Osterweiterung war im Zwei-plus-Vier-Vertrag im Verbot der | |
Stationierung der Nato-Truppen in Ostdeutschland von der Sowjetunion | |
mitgedacht, aber nie schriftlich festgehalten worden. | |
taz: In Polen fand der Abzug der sowjetischen Streitkräfte bereits 1993 | |
statt. Das abgeschottete Hauptquartier befand sich mitten im Zentrum der | |
Großstadt Legnica/Liegnitz. Welche Parallelen und Unterschiede gibt es | |
zwischen dem Brandenburger Erinnern und dem Erinnern in Polen? | |
Popiołek-Roßkamp: Die Dimension war eine andere. In Polen waren 50.000 | |
sowjetische Soldaten stationiert. In Ostdeutschland waren es 500.000. Auch | |
die Vorgeschichte ist eine andere. In Polen wurde Russland nie als Befreier | |
wahrgenommen. Stattdessen gab es die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt | |
und den darauffolgenden Einmarsch der Sowjetunion in Polen am 17. September | |
1939. Erinnert wurde auch an das Nichthelfen beim Warschauer Aufstand gegen | |
die Deutschen im August 1944 und die fehlende Unabhängigkeit des Landes als | |
Teil des Ostblockes. Während des Abzuges skandierten die Menschen in Polen | |
„Sowjets nach Hause!“ Dieser Spruch hat es sogar auf die Jubiläumsmünze z… | |
30. Jahrestag des Abzugs 2023 geschafft. In Deutschland war die Stimmung in | |
der Bevölkerung deutlich versöhnlicher. | |
taz: Warum wurde der Abzug erst 1991 beschlossen? | |
Popiołek-Roßkamp: Polen hat mit den Gesprächen über den Abzug gewartet, | |
weil es wissen wollte, ob das wiedervereinigte Deutschland die | |
Oder-Neiße-Grenze auch in einem Vertrag mit Polen anerkennen würde. Zuvor | |
gab es nur den Görlitzer Vertrag der DDR mit der Volksrepublik Polen. Die | |
Sowjetunion wurde also bis zum Abschluss des Grenzvertrags als eine Art | |
Garant der Oder-Neiße-Grenze betrachtet. | |
taz: Gibt es auch Gemeinsamkeiten? | |
Popiołek-Roßkamp: Das Thema der Altlasten, also Umweltzerstörungen, | |
kontaminierte Böden. Da gab es ähnliche Auseinandersetzungen darüber, wer | |
die Sanierung bezahlt. Die Sowjets wollten nicht dafür haften. Im Gegenzug | |
wurde die militärische Infrastruktur, die die Sowjets hinterlassen haben, | |
mit den Kosten für die Sanierung verrechnet. In der polnischen | |
Erinnerungskultur spielt der Abzug übrigens auch keine Rolle. | |
taz: Ist die Konversion in Brandenburg unterm Strich gelungen? | |
Popiołek-Roßkamp: Immerhin sind über 90 Prozent der militärischen Flächen | |
erfolgreich umgenutzt worden. Dabei sind die Altlasten natürlich immer noch | |
ein Problem. Nicht umsonst spricht man in diesem Zusammenhang von einer | |
Jahrhundertaufgabe. Je nachdem, wo man sich in Brandenburg befindet, kann | |
man von einer Erfolgsgeschichte, aber auch einer gemischten Bilanz | |
sprechen. | |
taz: Wo ist die Bilanz eher gemischt? | |
Popiołek-Roßkamp: Jüterbog kämpft immer noch mit der Umweltverschmutzung. | |
Auch gibt es dort noch viel Leerstand und Ruinen, und das in unmittelbarer | |
Nähe zu nachgenutzten Liegenschaften. Ein großer Erfolg ist die gute | |
Zusammenarbeit der besonders betroffenen Kommunen, organisiert seit 1997 im | |
Netzwerk Fokus. Neben den Fachveranstaltungen werden im Rahmen dieser | |
Initiative jeden Sommer auch Führungen durch Konversionsstandorte für | |
breites Publikum angeboten. Diese Konversionsfamilie, wie sie sich selbst | |
nennen, ist ein beeindruckendes Erbe des Abzugs und seiner Folgen. | |
27 Aug 2024 | |
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Uwe Rada | |
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