| # taz.de -- Teenager in der Ukraine: Wenn Leben Stillstand heißt | |
| > Seit ihrer Kindheit herrscht in der Ukraine Krieg. Wie leben ukrainische | |
| > Teenager, was macht sie traurig, was froh? Und wie sehen sie ihre | |
| > Zukunft? | |
| Bild: Blick aus dem Fenster in einer Wohnsiedlung in Charkiv, nach einem Bomben… | |
| Als Russland 2014 die Krim annektierte und der Krieg im Donbass begann, | |
| waren sie noch Kinder. Dann kam die Coronapandemie, dann der russische | |
| Großangriff. Wie leben Jugendliche in der Ukraine? Vier Protokolle. | |
| ## Vera Suprun (13) aus Charkiw | |
| Wir lernen jetzt online, mit dem Tablet. Ich bin schon daran gewöhnt, aber | |
| manchmal ist es doch schwierig, so lange vor dem Bildschirm zu sitzen. Wäre | |
| schön, wenn es weniger wäre. Aber es ist, wie es ist. Trotzdem wünsche ich | |
| mir eine Offlineschule, wenn es irgendwann wieder sicherer ist. | |
| Für Online-Unterricht muss man diszipliniert sein und sich gut | |
| organisieren. Ich muss mich jedes Mal erst darauf einstellen, dass jetzt | |
| Unterricht ist. Dass ich Informationen und Wissen aufnehme, und darf mich | |
| nicht ablenken lassen. In der Schule fiel mir das leichter, weil da Lehrer | |
| waren, die die Dinge verständlich erklären konnten. Ich habe auch meine | |
| Mitschüler gesehen, das war schön. Es ist schwierig, sechs, sieben | |
| Schulstunden stillzusitzen, nicht das Haus verlassen zu können. Danach ist | |
| man ziemlich kaputt. Leider habe ich keine Möglichkeit, [1][in der | |
| Metro-Schule] zu lernen (Unterricht in einer U-Bahn-Station; d. Redaktion). | |
| Seit dem 24. Februar 2022 bin ich emotional sehr erwachsen geworden, | |
| psychisch und moralisch. Ich habe angefangen, mein Leben detaillierter zu | |
| planen, ich habe jetzt Ziele und Prioritäten. Ich kann auch die Menschen | |
| mehr wertschätzen, mit denen ich meine Zeit verbringe, meine Eltern zum | |
| Beispiel. Man muss seine Familie wertschätzen, denn man hat nur diese eine, | |
| eine andere wird es nicht geben. | |
| Mein liebstes Hobby ist Lesen. Bis zum Kriegsausbruch habe ich auch | |
| russische Literatur gelesen. Aber seit dem 24. Februar lese ich nur noch | |
| ukrainische Bücher! Ich höre auch gerne Podcasts. Und ich gehe gerne ins | |
| Kino, aber das ist leider nicht so oft möglich. Außerdem gehe ich zum | |
| Tanzen, das ist wie Sporttraining. Toll, dass ich diese Möglichkeit habe. | |
| Und ich bin viel mit meinen Freunden zusammen. | |
| Zu Beginn des Krieges haben wir Charkiw verlassen. Wir waren in Winnyzja, | |
| das ist weiter im Westen. Da waren wir einen Monat, ich habe meine Stadt | |
| sehr vermisst. Aber wir sind in der Ukraine geblieben. Wie kann man auch | |
| seine Heimat im Stich lassen? | |
| Ich weiß nicht, ob ich mich in Charkiw in Sicherheit fühle. Wenn die | |
| Raketen fliegen und das Leben bedroht ist, ja, das ist nicht ungefährlich. | |
| Aber ich lebe weiter. Es ist nicht so, dass ich immer Angst habe. Aber | |
| klar, manchmal schon. [2][Wenn die Raketen sehr nahe an unserem Haus | |
| vorbeifliegen], dann habe ich Angst um meine Familie und mich selbst. | |
| Das Wichtigste für mich ist, dass der Krieg aufhört. Dann wird sich für | |
| mich und viele Ukrainer viel ändern. Und ich werde mich nicht mehr bedroht | |
| fühlen. Ich träume davon, zu dem Menschen zu werden, der ich wirklich sein | |
| will. Ich möchte stolz auf mich sein. Und einen Job haben, mit dem ich | |
| zufrieden bin und der mich interessiert. Nicht, dass ich dauernd total | |
| fertig von der Arbeit bin. | |
| Ich mag Bücher, ich möchte Schriftstellerin werden. Ich habe schon | |
| versucht, Dinge zu schreiben. Ich würde auch gerne Linguistin werden, oder | |
| Psychologin oder Journalistin. | |
| Mein Leben sehe ich in Charkiw und in der Ukraine! Ich möchte hier bleiben, | |
| weil wir unsere Stadt, unsere Heimat wieder aufbauen. Später. Nach dem | |
| Krieg. | |
| Protokoll: Juri Larin | |
| Aus dem Russischen von Gaby Coldewey | |
| ## Vera Poluden (16) aus Uman | |
| [3][Als 2014 der Krieg begann], war ich noch ziemlich klein. Ich kann nicht | |
| sagen, ob ich damals schon wirklich etwas davon mitbekommen habe, aber ich | |
| erinnere mich, wie meine Mama zu meiner großen Schwester Nastja sagte, sie | |
| hoffe, wir erleben noch den nächsten Tag. Ich war damals ein bisschen | |
| erschrocken. | |
| Vor Beginn des russischen Großangriffs wollte mein Papa unser Dorf | |
| Tschornobajiwka verlassen. Er sagte, dass bald der Krieg beginnt, aber | |
| niemand hat ihm geglaubt. Trotzdem hat er mir immer wieder erklärt, was wir | |
| im Fall einer Invasion tun müssen. | |
| Am 22. Februar hat er mich zum Beispiel zu sich gerufen und gesagt, dass | |
| ich sofort nach Hause rennen muss, wenn ich eine Explosion höre. Ich solle | |
| dann Mama helfen. Denn Mama muss ja irgendwie dafür sorgen, dass wir erst | |
| mal aus Tschornobajiwka rauskommen. Und ich solle dann auf meine Schwester | |
| aufpassen und Mama beruhigen, weil das Autofahren für sie stressig werden | |
| könnte. | |
| Am 23. Februar abends war ich mit Freunden unterwegs, da war noch alles | |
| okay. Gegen acht hab ich noch mit meiner Freundin telefoniert. Dann bin ich | |
| schlafen gegangen. Gegen fünf Uhr morgens hab ich die erste Explosion | |
| gehört. Das war ein Luftangriff auf den Flughafen. | |
| Ich hatte ziemliche Angst und bin zu Papa gerannt. Er sagte: „Schnell, weck | |
| Nastja, packt eure Sachen.“ Nastja und ich hatten total Panik und wussten | |
| gar nicht, was wir brauchen. Deshalb haben wir alles gegriffen, was wir in | |
| die Finger bekommen konnten. Und dann haben wir überlegt, wohin wir jetzt | |
| eigentlich fahren. Ich schlug vor, erst mal in Ruhe zu frühstücken. Das | |
| haben wir auch getan. Und dann sind wir nach Cherson gefahren, das sind nur | |
| zwei Kilometer. | |
| Bis zu dem Großangriff war dort auch meine Schule. Es war die beste Schule | |
| der Stadt, aber viele Lehrer dort waren prorussisch. [4][Nachdem die | |
| russische Armee die Stadt besetzt hatte], hat unsere Direktorin mit den | |
| russischen Militärs zusammengearbeitet und die Schule zu einer russischen | |
| gemacht. Es gab nur noch russische Schulbücher und in der Aula fand im | |
| letzten Herbst [5][dieses Referendum über die angebliche Zugehörigkeit von | |
| Cherson zu Russland] statt. | |
| Sie hat auch dauernd ihre Schüler angeschrieben, damit die zur Schule | |
| kommen. Denen, die dort nicht mehr lernen wollten oder sich abmelden, hat | |
| sie gedroht, dass man sie finden und erschießen werde. | |
| Meine beste Freundin hat sich zu Beginn der russischen Invasion ganz | |
| komisch benommen. Später habe ich kapiert, dass sie für Russland war. Das | |
| war echt ein harter Schlag für mich. | |
| Alles, was jetzt passiert, ist ziemlich merkwürdig. Mit meinen 16 Jahren | |
| quälen mich viele Fragen, die man in diesem Alter nicht haben sollte. Es | |
| macht mich ziemlich fertig, dass ich jetzt schon so wichtige Entscheidungen | |
| treffen muss. Zum Beispiel, wo ich später studieren soll. Also, ob ich ins | |
| Ausland gehe oder in der Ukraine bleibe. Ich habe mir immer vorgestellt, | |
| dass ich mein ganzes Leben in der Ukraine verbringen werde, aber jetzt wird | |
| mir klar, dass ich hier gerade nur Stillstand erlebe. | |
| Protokoll: Yuliia Shchetyna | |
| Aus dem Russischen von Gaby Coldewey | |
| ## Nikita Rybatschenko (20), Odessa | |
| „Hallo, schläfst du noch?“, wurde ich am 24. Februar 2022 morgens am | |
| Telefon geweckt. „Aufwachen. Es ist Krieg.“ Und schon war das Gespräch | |
| beendet. Ich bin einfach erst mal liegen geblieben, habe gehört, wie die | |
| Raketen einschlugen. Das war eine Zäsur in meinem Leben. | |
| Vor dem Krieg habe ich telefonische Kundenakquise gemacht, für einen | |
| Internetprovider. Am 22. Mai 2022 war ich diesen Job los. Vor dem Krieg | |
| hatten wir Pläne, wollten Odessas Kultur populär machen, wollten Filme | |
| drehen. Wir hatten auch schon einen ersten Drehtermin, am 26. Februar 2022. | |
| Und am 25. Februar sollte ich operiert werden. Beides habe ich nicht mehr | |
| umsetzen können. Auch, weil erst mal das Geld zur Neige ging. | |
| Heute habe ich vielleicht sogar ein bisschen mehr Geld als früher. Das | |
| Problem ist nur: Das ist jetzt viel weniger wert. Die Inflation frisst | |
| alles auf. | |
| Nach meiner Entlassung bei dem Internetprovider war ich ein paar Monate | |
| arbeitslos. Glücklicherweise hatte ich Erspartes, deswegen konnte ich | |
| normal weiterleben. Staatliche Stütze wollte ich keine. Zum einen ist das | |
| echt wenig Geld, dafür geh ich nicht zum Amt. Außerdem war damals nicht | |
| klar, wen sie nun zum Militär einziehen werden. Und da wollte ich nicht | |
| groß auffallen. Schließlich geben die Arbeitsämter ihre Daten an die | |
| Wehrämter weiter. Ich bin zwar als Student von einer Einberufung | |
| freigestellt. Ich arbeite aber auch noch nebenher. Und Angestellte dürfen | |
| eingezogen werden. Es war mir nicht ganz klar, was für mich gilt. | |
| Dann, im Oktober 2022, endlich ein neuer Job. Das Theater Haus der Clowns | |
| suchte Leute, die für sie Videos machten – und sie haben sich für mich und | |
| einige meiner Kollegen entschieden. Ein Problem dabei ist für mich die | |
| Sprache. Es gibt hier mehrere Gesetze, die die russische Sprache | |
| benachteiligen. Reklame auf Russisch ist faktisch nicht mehr möglich. Und | |
| im Theater werden keine Stücke in russischer Sprache mehr aufgeführt. Aber | |
| ich kann auf Russisch einfach besser formulieren, es ist meine | |
| Muttersprache. | |
| Nein, planen kann ich nichts. Du weißt ja nicht mal, ob und wo es das | |
| nächste Mal einschlägt. Ich plane immer nur für die nächsten sieben Tage. | |
| Ich arbeite gerne im Haus der Clowns. Denn da können wir Menschen eine | |
| Freude machen, die viel mitgemacht haben. Frontsoldaten beispielsweise, | |
| Verletzten. Und die haben so viel Spaß und können bei unseren Aufführungen | |
| mal so richtig abschalten. Das ist wichtig. Und da geben wir uns viel Mühe. | |
| Überhaupt geben sich die Odessiten viel Mühe, sich gegenseitig das Leben zu | |
| erleichtern. | |
| In den zwei Jahren Krieg hat man sich fast ein bisschen an die Situation | |
| gewöhnt. Die meisten reagieren schon nicht mehr auf die Sirenen. Tja, | |
| sterben müssen wir ja sowieso alle irgendwann. | |
| Seit Kriegsbeginn lese ich Remarque. Bei der Lektüre von „Drei Kameraden“ | |
| habe ich unsere heutige Situation wiedererkannt. Denn in diesem Roman wird | |
| jemand beschrieben, der kein Geld mehr hat und keine Arbeit findet und | |
| trotzdem versucht, weiter zu funktionieren, weiter zu existieren. Das ist | |
| es, was die Aktualität von Remarque heute ausmacht. | |
| Protokoll und Übersetzung von Bernhard Clasen | |
| ## Oleksii Dremliuk (15) aus Odessa | |
| Als vor zwei Jahren die russische Invasion begann, hatten wir Angst und | |
| darum hat meine Familie beschlossen, das Land zu verlassen. Zwei Tage | |
| später waren wir schon in der Republik Moldau, nach zwei Wochen sind wir in | |
| die Niederlande weiter gefahren. In der Nähe von Amsterdam bin ich zur | |
| Schule gegangen und hatte sogar ein paar Freunde. Aber wir hatten Probleme | |
| mit der Wohnung. | |
| Deshalb sind wir dann im Sommer nach Deutschland gegangen, in ein Dorf bei | |
| Bad Doberan an der Ostsee. Für mich war das auch besser, weil ich in der | |
| Ukraine schon Deutsch gelernt hatte. Aber weil meine Mutter und meine | |
| Schwester krank geworden sind, sind wir nach zwei Monaten zurück in die | |
| Ukraine gegangen. Mein Vater war die ganze Zeit hier in Odessa. | |
| Zuerst hatten wir Angst, es gab ja viele Angriffe, aber irgendwie versuchen | |
| wir uns daran zu gewöhnen. Es ist nicht leicht für uns alle. Besonders wenn | |
| die Angriffe nachts kommen. | |
| Viele Familien leben jetzt getrennt, weil der Vater oder der Bruder an der | |
| Front sind. Mein Vater ist hier bei uns und arbeitet als ehrenamtlicher | |
| Helfer für unsere Armee. Wir leben hier von Tag zu Tag, man weiß ja nie, | |
| was am nächsten oder übernächsten Tag passieren wird. | |
| Deshalb versuchen wir, uns auf die kleinen Dinge zu konzentrieren, uns an | |
| Kleinigkeiten zu freuen. Und nicht darüber nachzudenken, was in einem Monat | |
| passieren könnte, weil wir das ja sowieso nicht wissen. Und alles kann von | |
| einem Moment auf den nächsten zerstört werden. | |
| Ich weiß noch nicht genau, was ich später machen will. Wenn ich eine | |
| Möglichkeit hätte, dann würde ich am liebsten etwas mit Wirtschaft | |
| studieren, vielleicht in Wien. Aber das hängt natürlich von der Situation | |
| ab. Ich kann ja nur ins Ausland, solange ich noch nicht 18 Jahre alt bin. | |
| Und vorher das Land zu verlassen ist eine schwierige Entscheidung. | |
| Wenn man jetzt schon studiert, [6][wird man ja bis zum Studienabschluss | |
| nicht für die Armee mobilisiert]. Aber diese Regeln können sich auch | |
| ändern. Ich hoffe natürlich, dass die Situation sich verbessert, dass wir | |
| unser Leben in Zukunft so leben können, wie wir das selber wollen.“ | |
| Protokoll Marco Zschieck | |
| 24 Feb 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Juri Larin | |
| Yuliia Shchetyna | |
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| Marco Zschieck | |
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