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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Überleben im U-Bahn-Schacht
> Charkiw ist Ziel massiver Angriffe der russischen Armee. Es gibt viele
> Opfer, Gebäude sind schwer beschädigt. Doch die Menschen halten zusammen.
Bild: Der zentrale Platz in Charkiw liegt nach massivem Beschuss in Trümmern
Charkiw taz | Am 24. Februar wache ich um fünf Uhr morgens vom Lärm
entfernter Explosionen auf. Ich sehe aus dem Fenster gen Osten und erblicke
rötliche Reflexe, die jede Salve begleiten. Es kann keinen Zweifel geben.
Begonnen hat, was Menschen schwer in den Kopf geht, die in Europa leben:
[1][Russland greift ukrainisches Territorium an]. Ich schalte das Internet
ein und versuche herauszufinden, was da tatsächlich vor sich geht. Aber
alle schlafen noch – oder besser gesagt, fast niemand schläft mehr, aber es
gibt nirgendwo Informationen darüber, was passiert….
Die Ungewissheit dauert nicht lange. Und jetzt wachen auch die Kanäle auf
YouTube und Telegram auf. Mir wird klar, dass der Unterricht am Gymnasium,
auf den ich mich am Abend vorbereitet, Themen und Pläne, die ich mir für
die Unterrichtsstunden ausgedacht habe, dass das alles heute nicht
stattfinden wird …..
Schon erwachen auch meine Chats zum Leben, mir dem Gymnasium und der
Universität. Kollegen rufen an: „Wir verlassen heute die Stadt, jetzt
sofort, wir packen ein paar Sachen ins Auto und los. Was ist mit Dir?“
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. So Hals über Kopf mein Haus zu
verlassen, darauf bin ich psychologisch nicht vorbereitet. Ich habe doch
einen Hund. Ich kann ihn nicht zurücklassen, weiß aber auch nicht, wie ich
ihn mitnehmen soll. Ich habe schon vorher darüber nachgedacht und bin sogar
zu einem Tierarzt gegangen. Er hat mir Termine für Impfungen gegeben und
einige Medikamente. Aber die erste Impfung ist erst am 5. März, doch die
Explosionen höre ich schon jetzt – am frühen Morgen des 24. Februar.
## Anruf aus Prag
Meine jüngere Tochter Tanja ruft aus Prag an. Sie studiert dort an der
Karls-Universität. Sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen und ist ganz
aufgeregt. Sie sagt mir, ich solle sofort weg fahren, aber ich begreife das
noch nicht so richtig….
Ich rufe meine ältere Tochter Alena an, sie lebt in Kiew und ist
Grafik-Designerin. Sie antwortet nicht. Nach einiger Zeit meldet sie sich.
Sie weiß von alledem noch nichts. Vor einigen Tagen ist sie zur Eröffnung
einer Kunsthalle nach Prag eingeladen worden, sie hat dafür ein Projekt
vorbereitet. Sie ist dann doch nicht gefahren. Was, wenn plötzlich etwas
passiert und sie nicht mehr würde zurückkehren könnte? Nun ist es passiert…
Die ferne Kanonade vor dem Fenster kommt immer näher, die Geräusche werden
schärfer und lauter. Auf dem Telegram-Kanal „öffentliches Charkiw“ sehe i…
einen Fliegeralarm. Schnell mache ich mich fertig, nehme meinen Hund Alesja
und wir laufen zur nächsten U-Bahn-Station, das sind nur fünf Minuten
Fußweg.
Dorthin sind schon viele Menschen unterwegs, auch in der Unterführung
stehen und sitzen sie – auf Taschen und Koffern, Menschen ganz
unterschiedlichen Alters. Ich gehe direkt zum U-Bahnhof. Hier ist noch mehr
Gedränge. Die Züge auf den Gleisen fahren nicht.
## Viele kleine Kinder
Die Station fungiert jetzt als Zufluchtsort. Die Menschen sitzen und liegen
überall, wo es nur die kleinste Möglichkeit dazu gibt. Ich sehe viele
kleine Kinder und ältere Leute, aber das sind viel weniger. Es gibt viele
ausländische Studenten aus asiatischen und afrikanischen Ländern. In der
Nähe befinden sich große Universitäten – für Pharmazie und Pädagogik. Hi…
sind auch Chinesen, Vietnamesen und Afrikaner, die in Charkiw leben und
arbeiten, mit ihren Familien.
Ich habe weder einen Teppich noch einen Klappstuhl. Und so lasse ich mich
auf den Treppen nieder. Ich versuche zu durchdringen, was da vor sich geht,
aber ich vermag es nicht. Warum müssen alle diese Menschen leiden? Woran
sollen sie schuld sein? Und überhaupt: [2][Wie ist das in einem Europa im
21. Jahrhundert möglich?] Das will mir nicht in den Kopf! Gegen zehn Uhr
abends, als das Trommelfeuer verstummt, beschließe ich nach Hause zu gehen.
Später wird sich herausstellen, dass dieses die ruhigste Nacht ist.
Am nächsten Morgen wird wieder geschossen und ich gehe wieder zu meinem
Zufluchtsort. Dieses Mal finde ich einen freien Platz – sogar in einem
Waggon. Dort bleibe ich bis vier Uhr nachmittags und beschließe, dann
wieder nach Hause zu gehen. Doch nicht für lange, denn schon wieder sind
wir unter Beschuss. Aber es ist schon spät am Abend. Ich ahne jedoch, dass
es um drei Uhr morgens wieder los geht. Ich stelle den Wecker auf 2.30 Uhr
und bin gegen drei Uhr wieder in der U-Bahn-Station.
Allmählich wird mir klar, was ich mitnehmen muss: einige persönliche Dinge,
um wenn nötig, dort zu übernachten; etwas zu essen, Wasser, Hundefutter…
## Das Internet funktioniert noch
Mittlerweile ist Tag sechs seit Beginn des russischen Angriffs. Zum Glück
funktioniert das Internet noch und ich habe endlich einen erträglichen Ort
für mein Nachtlager gefunden. Inmitten dieser Menschenmenge,
zusammengepfercht in einer U-Bahn-Station in einem Schlafviertel einer
1,5-Millionen-Einwohnerstadt, fängst du an zu begreifen: Das frühere Leben
ist vorbei. Aber ich bin überzeugt von unserem Sieg. Das ist jedoch eine
Frage der Zeit und des Preises, den wir dafür bezahlen müssen.
Die wertvollste Erfahrung der vergangenen sechs Tage, das sind die neuen
Leute, die ich kennen gelernt und mit denen ich gesprochen habe. Sie sind
mitfühlend und helfen einander.
Zwei junge Frauen zum Beispiel – Lera und Anja. Lera kommt aus dem Gebiet
Donezk, Anja aus Luhansk. Sie leben seit 2014 in Charkiw, haben ein
Pharmazie-Studium abgeschlossen und sind geblieben. Doch selbst für sie,
die vor acht Jahren die Besatzung des Donbass erlebt haben, ist das, was
jetzt passiert, schockierend und verwirrend.
Dann ist da noch ein junges studentisches Ehepaar. Wir sitzen nebeneinander
und kommen ins Gespräch. Als die beiden sehen, dass ich nur ein Deckchen
habe, bieten sie mir ihre Decke an, die dick und gemütlich ist. „Nehmen
Sie, wir haben noch etwas anderes!“
## Brot und heiße Suppe
Da ist die Frau, die die Toilette sauber macht. Als sie meinen Hund
erblickt, ist sie freundlich zu ihm und freundet sich sofort mit ihm an.
Hier, in unserem unterirdischen Kerker, verteilen freiwillige Helfer
manchmal Lebensmittel – Süßigkeiten für die Kinder, Brot, heiße Suppe,
Äpfel, frische Tomaten …
Oben tobt das Grauen. Dauerfeuer, Kämpfe gegen Saboteure, Raketen schlagen
in Wohnhäuser ein, Zivilisten sterben. Ein alte Frau verlässt das Haus, um
Katzenfutter zu kaufen. Sie wird von einer Granate getötet. Vier Personen
wollen in der Nähe der U-Bahn-Station Wasser kaufen. Sie werden durch einen
Raketeneinschlag in Stücke gerissen….
Am Montag sind 16 Menschen ums Leben gekommen. Am Dienstag [3][wird der
zentrale Platz bombardiert], der zweitgrößte in Europa, der Maidan der
Freiheit. Das Gebäude der Regionalverwaltung wird beschädigt, die Oper, die
Philharmonie. Nach vorläufigen Angaben sterben zehn Menschen. Wer braucht
das und warum? Wie ist so etwas überhaupt möglich?
In Charkiw spricht die Mehrheit der Bevölkerung Russisch, viele haben
Verwandte in Russland und sind dem Nachbarland gegenüber loyal. Doch jetzt
hat sich diese Beziehung radikal geändert: Fassungslosigkeit weicht Wut und
Hass auf die Mörder.
## Unterstützung aus aller Welt
Oben halten unsere Armee und territoriale Verteidigungseinheit mutig dem
Druck der Besatzer stand, der sinn- und gnadenlos ist. Hier unten, unter
diesen absolut friedlichen Menschen, ihren Kindern und Haustieren,
verstehst du den Wert menschlicher Solidarität. Du verstehst, dass das Böse
bestraft werden wird.
Uns wird Unterstützung aus aller Welt zuteil, Freunde aus verschiedenen
Ländern rufen laufend an und schreiben. Die Ukraine steht im Kampf um die
Bewahrung grundlegender menschlicher Werte an vorderster Front. Vor uns
liegen noch viele schwierige Tage und Nächte. Aber wir wissen, was wir
verteidigen, und das gibt uns Kraft.
Igor Solomadin, 69, ist Historiker und lebt in Charkiw. 2015 nahm er an
einem Osteuropaworkshop der taz Panter-Stiftung in Charkiw teil.
Übersetzung aus dem Russischen [4][von Barbara Oertel]
2 Mar 2022
## LINKS
[1] /Politologe-ueber-Ukraine-Krieg/!5838091
[2] /Krieg-in-der-Ukraine/!5835136
[3] /Krieg-in-der-Ukraine/!5838092
[4] /Barbara-Oertel/!a1/
## AUTOREN
Igor Solomadin
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