| # taz.de -- Schriftsteller an der Front: Schriftsteller gegen das erzwungene Sc… | |
| > Trotz Krieg bleibt die ukrainische Kunst lebendig. Schriftsteller und | |
| > Künstler verarbeiten das Grauen der Front und schaffen eindringliche | |
| > Werke. | |
| Bild: Romane im Krieg schreiben ist schwierig | |
| Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen: Inter armas silent musae. | |
| Diese Wendung aus dem lateinischen nutzte der Kunsthistoriker Wilhelm von | |
| Bode Ende des Ersten Weltkriegs mit Blick auf die Künstler und | |
| Intellektuellen, die verstummten, als sie in den Krieg zogen. Das trifft | |
| wohl auch für die zahlreichen Opfer unter ukrainischen Künstlern zu, die | |
| von den russischen Aggressoren, oft ganz gezielt, zum Schweigen gebracht | |
| werden. So wie auch die gezielte Zerstörung der ukrainischen | |
| Kulturdenkmäler den Versuch darstellen, das kulturelle Gedächtnis der | |
| Ukraine auszulöschen. | |
| [1][Der Schriftsteller und Soldat Bohdan Kolomijtschuk] verweist auf | |
| Parallelen des gegenwärtigen Kriegs zum Ersten Weltkrieg. Und tatsächlich | |
| ist es nicht nur das sinnlose Sterben im Stellungskrieg – die Kämpfe um | |
| Bachmut vielen als Symbol dafür in Erinnerung – aber auch der Umstand, dass | |
| zahlreiche Schriftsteller und Künstler freiwillig als Soldaten in der | |
| ukrainischen Armee dienen. Und wie die deutschsprachigen Künstler im Ersten | |
| Weltkrieg, so sind auch die Ukrainer im gegenwärtigen Krieg nicht | |
| verstummt, sondern ganz im Gegenteil. Sie versuchen, ihre Erfahrungen im | |
| Krieg und besonders an der Front künstlerisch zu reflektieren, dem | |
| Unfassbaren des Grauens eine Form zu geben, damit es andere erfassen | |
| können. Sie schaffen damit nicht nur Zeitzeugnisse, sondern wirkungsvolle | |
| Literatur, deren große literarische Bedeutung sich gegenwärtig kaum | |
| erfassen lässt – ähnlich wie während und nach dem Ersten Weltkrieg viele | |
| mitreißende Werke des literarischen Modernismus der Feder von Kriegsautoren | |
| und ihren Reflexionen entstammten. | |
| [2][Artem Tschech war vor dem russischen Angriff] auf die Ukraine 2014 ein | |
| angesagter Pop-Autor. Mit dem Maidan 2013/14 und seinem Wehrdienst 2015/16 | |
| an der Front der Ostukraine änderten sich sein Leben und Schreiben. Seine | |
| Erfahrungen aus der ersten Armeezeit finden sich im Prosaband „Nullpunkt“, | |
| auf deutsch im Arco Verlag 2022 erschienen. Es folgten weitere Romane, in | |
| denen psychische Wunden durch den Krieg thematisiert werden. Seit Februar | |
| 2022 ist er wieder in der Armee, an verschiedenen Frontabschnitten, er | |
| wurde in Bachmut verletzt. | |
| Bohdan Kolomijtschuk schreibt seit über zehn Jahren höchst erfolgreich | |
| historische Prosa und Krimis, seit dem Vernichtungsfeldzug Russlands gegen | |
| die Ukraine dient er als Frontsanitäter in der ukrainischen Armee. | |
| ## Ein Roman im Ausnahmezustand | |
| Artem Tschech, Schriftsteller | |
| Im Dezember 2021 fuhr ich in eine Ferienhütte, um meinen neuen Roman zu | |
| beenden. Ich arbeitete bereits neun Monate an dem Text, der langsam und | |
| unaufgeregt aus mir wuchs, so wie Grasbüschel durch den Asphalt: „Die | |
| Ballade vom freien Weg“ erzählt die Geschichte eines ukrainischen | |
| Einwanderers zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs. Es sollte eine Story | |
| über Bewegung und Freiheit sein, über einen Menschen, der stärker ist als | |
| seine Vergangenheit. Ein wichtiges Buch, und ich kam langsam zum Finale. | |
| Bis zum großen Angriffskrieg Russlands waren es da noch weniger als drei | |
| Monate. Während der einsamen Tage im Ferienhaus dachte ich häufig daran, | |
| dass ich wieder die Militäruniform anziehen und in den Kampf ziehen würde. | |
| Wie sehr ich diesen Gedanken verabscheute. | |
| Der Krieg rückte ohne Maskerade näher. Und alle meine Ahnungen schienen mir | |
| durchaus realistisch. Allzu wirklich. In Erwartung des Kriegs und des | |
| großen Leids hatte ich nicht mehr die Kraft und die Moral, den Roman zu | |
| beenden. Dann begann der Krieg. | |
| Und die erste Nacht zog herauf. Während meine Frau und mein Sohn im Flur | |
| saßen und versuchten, trotz des unerträglichen Geheuls der Sirenen und des | |
| Getöses der Explosionen, sich zu beruhigen, ja, sogar ein wenig zu | |
| schlafen, akzeptierte ich schließlich die Möglichkeit, im Krieg zu sterben, | |
| als eine quasi sichere Sache, als unabwendbare Tatsache. Und diese | |
| Akzeptanz beruhigte mich, machte mich mutiger, stärker und ausgeglichener. | |
| Und mein Roman, den ich so lange ausgetragen hatte, verwandelte sich | |
| augenblicklich in einen Schatten. Er flackerte noch hier und da in meinen | |
| Gedanken, versuchte sich hin und wieder zu realisieren, doch in der neuen | |
| Realität gab es keinen Platz mehr für ihn. Ich glaubte noch an ihn, aber | |
| dieser Glaube wurde schwach. Ich schickte das Manuskript als E-Mail-Anhang | |
| an meine Frau und meinen Verleger. Für alle Fälle, um ihn zu retten. Auch | |
| Schriftsteller sterben schließlich – besonders als Soldaten. | |
| Ich hoffte, auch in der Armee weiterschreiben zu können. Aber die Realität | |
| des Kriegs lässt keinen Raum für Fiktion. Der Krieg ist zu laut, er | |
| übertönt all deine inneren Stimmen, bis auf die eine, die dir zuruft: | |
| Überleb! | |
| Zu Beginn versuchte ich, mir wenigstens Notizen zu machen, bruchstückhaft | |
| etwas aufzuschreiben, einzelne Sätze, bis ich verstand, dass es vergeblich | |
| war. Über einen Weg lässt sich nicht schreiben, wenn man auf der Stelle | |
| tritt. Über eine Flucht lässt sich nicht schreiben, wenn deine einzige | |
| Aufgabe ist – die Position zu halten. | |
| Wie soll man auch schreiben, wenn einen die Anspannung fest im Griff hat, | |
| wenn man kaum mehr Luft schnappen kann und das Gefühl überwiegt, dass in | |
| einem einzigen Moment der ganzen Welt das Licht abgedreht wurde? | |
| Und dann kam der schwarze Graben des Fleischwolfs Bachmut. Schwarz und grau | |
| wie ein Grab. Der Wind wehte den Rauch der sengenden Stadt zu uns, und die | |
| Körper unserer Soldaten lagen im hohen Mai-Gras, und die russische Armee | |
| goss unaufhörlich Feuer und Eisen über uns aus. | |
| Ich dachte in diesem Graben oft an den Roman. Ich machte mir Vorwürfe, weil | |
| ich ihn im Winter nicht zu Ende geschrieben hatte. Was möglich gewesen | |
| wäre, ich hatte es jedoch nicht geschafft. Und die Wahrscheinlichkeit, ihn | |
| unvollendet zurückzulassen, peinigte mich, und ich hasste mich zunehmend | |
| für diese Faulheit und Inkonsequenz. „Aber was denn für einen Roman?“, | |
| dachte ich dann wieder, „und überhaupt, welche Kunst denn? Überleben! Das | |
| Einzige, was Du jetzt fertigbringen musst, ist: Überleben!“ Und ich | |
| überlebte. | |
| Mein unvollendeter Roman lebte lange eineinhalb Jahre mit mir, er wartete, | |
| bis der Krieg enden wird, bis ich zu ihm und zu meinem früheren Ich | |
| zurückkehren würde. Doch würde dieses frühere Ich überhaupt imstande sein, | |
| über einen „freien Weg“ zu schreiben mit dem Wissen, wie leicht dieser | |
| verschütt gehen kann. Ich war nicht überzeugt. | |
| Später dann, als ich Urlaub bekam und wieder in die Ferienhütte fuhr, | |
| konnte ich den großen Roman über den damaligen Krieg mit den Erfahrungen | |
| unseres Krieges beenden. Ich schrieb leicht und schnell, als hätte es diese | |
| schrecklich lange Pause nicht gegeben. Am Ende sind alle Kriege gleich, | |
| denn sie bringen Tod, Schmerz und Trauer auf die gleiche Weise. | |
| Ich schrieb auf, was ich gesehen hatte, ich beutete ganz ungeniert meine | |
| Erfahrungen aus. Mir ist nichts mehr peinlich! Und als Schriftsteller | |
| schäme ich mich für fast nichts mehr. Dieser Krieg nahm mir das Wichtigste: | |
| Die Zeit und die Möglichkeit zu arbeiten. Dafür hasse ich ihn am meisten. | |
| ## Mein Freund Katczinsky | |
| Bohdan Kolomijtschuk, Schriftsteller | |
| Ich bin in einem relativ reifen Alter in die Armee eingetreten. Im Februar | |
| 2022 war ich gerade 38 Jahre alt geworden. Mir gefiel die Alterskategorie | |
| „unter vierzig“. Die Uni hatte ich schon lange hinter mir, ebenso die | |
| Arbeitssuche und die Suche nach einem Verleger, der meine literarischen | |
| Arbeiten interessant fände. Ich hatte mich kopfüber ins | |
| Schriftstellerdasein gestürzt und vor jenem denkwürdigen Winter 2022 | |
| bereits einige Romane publiziert. | |
| Am Beruf des Schriftstellers gefällt mir eigentlich alles: Die Arbeit am | |
| Manuskript, wenn ich tagelang nicht aus dem Haus komme, die Recherchen und | |
| selbst die Deadline des Lektors, die mich zu Disziplin zwingt und mich mit | |
| freudiger Erwartung auf das entstehende Buch erfüllt. | |
| Der Mensch ist dann wahrhaft frei, wenn er seine Freiheit selbst | |
| einschränkt. In der Armee opferte ich als erstes meine Freiheit. Noch bevor | |
| ich an die Front verlegt wurde, wurmte mich am meisten, dass die | |
| vierundzwanzig Stunden des Tags nun nicht mehr mir gehörten, sondern | |
| jemandem, der dem militärischen Rang nach älter als ich war. Und dieser war | |
| nun Herr über meine Zeit. | |
| [3][An der Front vermisste ich Ruhe] und Einsamkeit am meisten. Wenigstens | |
| einige Stunden der Stille ohne Explosionen, um für mich zu sein, um meine | |
| Gedanken zu sammeln. Die wenigen damaligen Texte schrieb ich unter dem | |
| Einfluss einer immensen Geräuschkulisse: fernes Artilleriefeuer und | |
| Artilleriefeuer ganz in der Nähe, das Stimmgewirr der Kameraden um mich | |
| herum, das Rauschen und Pfeifen der Funkgeräte. All das in einem alten | |
| verlassenen Kellergewölbe, wo wir unser Lager aufgeschlagen hatten. | |
| „Ein Remarque würdiges Arbeitszimmer“ witzelte ich, auch wenn es damals | |
| meist nicht sehr witzig war. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass | |
| der Krieg vor hundert Jahren und der jetzige sich im Grunde kaum | |
| unterscheiden. Das Einzige, wodurch sie sich unterscheiden, ist der | |
| Technisierungsgrad der Armeen, die Bewaffnung ist moderner und tödlicher. | |
| Freilich können die Armeen heute wie vor hundert Jahren nur jenes | |
| Territorium besetzen, wo ihre Pioniere Schützengräben gebuddelt haben. Wenn | |
| ich so überlege, habe ich mit den Protagonisten aus Erich Maria Remarques | |
| berühmten Anti-Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ mehr Gemeinsamkeiten | |
| als Unterschiede. Die gleichen Gefahren, das Gefühl vom Rest der Welt | |
| losgelöst zu sein und sogar das gleiche kleine Soldatenglück: eine trockene | |
| Uniform, annehmbare Verpflegung, ein bequemes Bett. | |
| Ich gehe in Gedanken die Protagonisten des Romans durch. Und es stellt sich | |
| heraus, dass ich und Katczinsky (Kat) gleich alt sind. Ein erfahrener | |
| Soldat, der für den jungen Paul Stütze und Hilfe war. Freilich besteht | |
| unsere gegenwärtige Armee schon längst nicht mehr aus 18 bis 20-Jährigen. | |
| Das Durchschnittsalter eines ukrainischen Soldaten an der Front liegt über | |
| 40 Jahren. Das heißt also, eigentlich lachhaft, ich bin ein „junger | |
| Kämpfer“. | |
| Und unsere Katczinskys hier haben gut 50 Jahre auf dem Buckel. Es sind | |
| kräftige, im Vergleich zu den andern vielleicht etwas langsamere, Männer | |
| mit rissigen Händen und zahlreichen Spitalaufenthalten. Ein Glück, wenn man | |
| so jemanden in seiner Einheit zu Beginn der Dienstzeit hat. Ein Glück, wenn | |
| er dein Freund wird. | |
| Am dritten Jahrestag des vollumfänglichen und vollidiotischen Kriegs habe | |
| ich als Schriftsteller nichts vorzuweisen außer einiger nicht geschriebener | |
| Bücher und Absenzen auf Buchmessen und Festivals. Erstaunlicherweise ist | |
| unser Land dank der Armee und der Unterstützung unserer Partner nicht von | |
| der Landkarte verschwunden, obwohl die Chancen 2022 nicht gut für uns | |
| standen. | |
| Krieg ist trotz all seiner höllischen Dynamik ein ziemlich monotoner und | |
| öder Prozess. Immer wenn ich mich für ein Interview bereit erkläre, ertappe | |
| ich mich, dass ich den Journalisten nichts Besonderes zu sagen habe. Hier | |
| an unserer Front ist alles unverändert. Im Osten nichts Neues. | |
| (Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil) | |
| 24 Feb 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Literatur-ueber-die-Ukraine/!5839457 | |
| [2] /Buecherentsorgung-in-der-Ukraine/!5897280 | |
| [3] /Gedichte-aus-dem-Krieg-von-Serhij-Zhadan/!6046776 | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Kratochvil | |
| Artem Tschech | |
| Bohdan Kolomijtschuk | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Bücher | |
| Schriftsteller | |
| GNS | |
| Kunstmuseum Wolfsburg | |
| Wehrpflicht | |
| Literatur | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
| Literatur | |
| Russische Literatur | |
| Krieg | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ausstellung „Im Angesicht des Krieges“: Barfuß durch eine verwüstete Land… | |
| Die Künstlerin Iryna Vorona führte ein Tagebuch in Bildern, als russische | |
| Truppen ihre Stadt besetzten. Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt einige davon. | |
| Ole Nymoen und die Frage des Krieges: Kampflos in die Unfreiheit? | |
| Der deutsche Bestseller-Autor Ole Nymoen will nicht für sein Land kämpfen | |
| und würde dafür ein Leben in Unfreiheit in Kauf nehmen. Ein Pro und Contra. | |
| Schreibwettbewerb für Geflüchtete: Eine Behausung in Worten | |
| Fluchterfahrung eint die Gewinner:innentexte des Schreibwettbewerbs | |
| „Heimat suchen, Heimat finden“. Die Lesung fand im Berliner Ensemble statt. | |
| Krieg in der Ukraine: Europäische Solidarität in Kyjiw | |
| Vertreter*innen aus 13 Ländern reisen in die Ukraine. Sie bringen | |
| Unterstützung in Milliardenhöhe mit. | |
| +++ Krieg in der Ukraine +++: EU sanktioniert russische Schattenflotte | |
| Die EU-Spitzen reisen zum 3. Jahrestag des russischen Angriffs nach Kyjiw. | |
| Friedrich Merz: Ukraine muss an Friedensverhandlungen beteiligt werden. | |
| Gedichte aus dem Krieg von Serhij Zhadan: Die Sprache versagte, erst langsam ke… | |
| Über den Krieg muss geschrieben werden: Serhij Zhadan, bedeutender | |
| Intellektueller der Ukraine und zurzeit auch Soldat, veröffentlicht neue | |
| Gedichte. | |
| Bücherentsorgung in der Ukraine: „Russische Literatur ins Altpapier“ | |
| Aus Hass auf die russischen Angreifer räumen viele Ukrainer*innen ihre | |
| Bücherregale leer. Das betrifft Comics, aber auch Klassiker wie von | |
| Tolstoi. | |
| Literatur über die Ukraine: Bücher im Krieg? | |
| Schon vor der russischen Invasion stellte Serhij Zhadan fest: Krieg ist | |
| nicht gemacht für Literatur. Warum man jetzt ukrainische Autoren lesen | |
| sollte. |