| # taz.de -- Gedichte aus dem Krieg von Serhij Zhadan: Die Sprache versagte, ers… | |
| > Über den Krieg muss geschrieben werden: Serhij Zhadan, bedeutender | |
| > Intellektueller der Ukraine und zurzeit auch Soldat, veröffentlicht neue | |
| > Gedichte. | |
| Bild: Der Dichter Zhadan, am 23. Juli in der Region Charkiv. Als Freiwilliger t… | |
| Der Atem ist die Grundfunktion des Lebens. Mit ihm beginnt alles, und mit | |
| einem letzten Ein- und Ausatmen endet alles. In der Lyrik des ukrainischen | |
| Schriftstellers Serhij Zhadan ist der Atem ein Leitmotiv. In seinem | |
| Gedichtband „Antenne“ (2020) schrieb er: „Sprache ist Atem, gefüllt mit | |
| Sinn. / Sprache ist die trügerische Chance, / jemanden daran zu hindern, / | |
| von der Brücke in die Seine zu springen.“ | |
| Zhadan ist nicht nur Autor, [1][er ist auch Sänger der Rockband Zhadan i | |
| Sobaky (Zhadan und die Hunde)]. Für ihn gehören Atem, Intonation, Singen, | |
| Erzeugung von Bedeutung und Möglichkeit des Ausdrucks zusammen. Doch der | |
| Atem ist bereits in „Antenne“ auch verbunden mit dem Krieg in der | |
| Ostukraine und dem Kampf für die Freiheit: „So atmen wir unsere Freiheit | |
| aus / … so besingen wir die Gefallenen im goldenen Sand des/ Frühabends.“ | |
| Serhij Zhadans neuer Gedichtband heißt auf Deutsch „Chronik des eigenen | |
| Atems“. Darin widmet sich der Schriftsteller der Sprache und dem Sein in | |
| Kriegszeiten. Die Texte sind zwischen Dezember 2021 und Juni 2023 | |
| entstanden; jene im ersten Teil des Buchs vor Beginn des russischen | |
| Angriffskriegs, jene im zweiten Teil danach. | |
| Die nach dem 24. Februar 2022 geschriebenen Gedichte erzählen von einem | |
| Phänomen, das viele ukrainische Schriftstellerinnen und Schriftsteller | |
| damals an sich beobachteten: die Sprache versagte, erst langsam kehrte sie | |
| zurück. Der russische Überfall auf die Ukraine stellt vermeintliche | |
| Gewissheiten infrage wie den „durch nichts gerechtfertigten Glauben der | |
| Sprachmenschen daran, dass man alles benennen kann, alles seinen Namen | |
| hat“, wie Zhadan schreibt. | |
| Man kann in diesem Band abgleichen, wie sich die Sprache Zhadans verändert | |
| hat; man kann staunen, wie poetisch das Wiederfinden der Sprache klingen | |
| kann, wenn er beispielsweise schreibt, „dass die Sprache stärker ist als | |
| die Angst des Schweigens, sie soll mit sich die Brusttaschen des Lebens | |
| füllen“. Oder wenn er die Grenzen des Ausdrucks benennt: „Es gibt Zeiten, | |
| da werden die Wörterbücher um das Vokabular des Schweigens erweitert, da | |
| sind nicht nur Satzzeichen wichtig, sondern auch Atempausen, da formt sich | |
| der Klang aus diesem wundersamen Gemisch von Gesagtem und Erspürtem, | |
| Verschwiegenem und Erlesenem.“ | |
| ## Grundausbildung in der 13. Brigade | |
| Serhij Zhadan ist nicht nur [2][ein vielfach ausgezeichneter | |
| Schriftsteller] und einer der bedeutendsten Intellektuellen der Ukraine, er | |
| ist zurzeit auch Soldat. Als Freiwilliger trat er im Frühjahr 2024 der | |
| ukrainischen Armee bei, gehört der 13. Brigade der Nationalgarde an. Dort | |
| absolvierte er eine Grundausbildung, und er hat den Rundfunksender Radio | |
| Khartia mit aufgebaut, über den er aus dem Bataillon und aus Frontnähe | |
| berichtet. | |
| An die Front musste er noch nicht, Zhadan produziert Videos, führt | |
| Interviews, zum Beispiel mit einem Politanalysten oder einem Rapper. | |
| Aktuell schreibt er entsprechend wenig. „Das Wort muss jetzt einfach etwas | |
| warten. Es ist jetzt wichtiger, dass wir uns verteidigen, damit wir dann | |
| später wieder Bücher herausgeben und Gedichte schreiben können“, sagte er | |
| dem SFR Anfang Oktober. Im Ukrainischen ist der nun auf Deutsch vorliegende | |
| Band schon 2023 erschienen, also vor der Zeit seines Militäreinsatzes. | |
| In den Gedichten zeigt sich schon da ein verändertes Literaturverständnis | |
| Zhadans. Für mörderische Angriffskriege wie den russischen braucht es | |
| seines Erachtens eher die Sprache des Dokumentarischen, die deskriptive | |
| Sprache, erst im Laufe der Zeit werde Poesie wieder möglich – die | |
| schriftstellerische Aufarbeitung des Kriegs verlegt er eher in die Zukunft. | |
| ## Der Atem ist kostbar | |
| Doch die Dialektik der Sprache ermögliche es auch, einen Ausdruck für das | |
| Nichtauszudrückende zu finden: „Viele Gedichte wird es geben über die | |
| Unmöglichkeit von Poesie nach den Gaskammern, über die Unangebrachtheit von | |
| Literatur in Gerichtssälen“, schreibt er im Nachwort dieses Buchs in | |
| Anspielung an Adorno. Das passt zu dem, was Zhadan schon 2020 in der | |
| [3][Anthologie „Warum Lesen.] Mindestens 24 Gründe“ formuliert hat: „Der | |
| Krieg ist nicht gemacht für Literatur. Und doch ist es unmöglich, nicht | |
| über den Krieg zu schreiben. Über den Krieg muss geschrieben werden.“ | |
| Im Ukrainischen trägt der Gedichtband den Titel „Skrypnykivka“. Er geht | |
| zurück auf den Begründer der ukrainischen Orthografie, Mykola Skrypnyk, und | |
| auf die 1928 verabschiedete ukrainische Rechtschreibung. Was für ein | |
| sprechender Titel, spielt er doch darauf an, was das russische Regime gern | |
| vernichtet sähe: eine eigenständige ukrainische Sprache und Kultur. | |
| Doch vor dem Schreiben kommt das Überleben, kommt das Luftholen. „Der Atem | |
| ist ein kostbares Ding“, stellt Zhadan in einer Passage dieses Buchs fest. | |
| Der Mann weiß, wovon er spricht. | |
| 18 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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