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# taz.de -- Kurzgeschichten von Serhij Zhadan: Den Siegern verzeiht man
> Die Sprache durchdringend: Wie sich der Krieg in alle Bereiche des Lebens
> einschreibt, davon erzählt der ukrainische Autor Serhij Zhadan in zwölf
> Short Storys.
Bild: Menschen im Bus, hier in Charkiw im Januar 2023
Der Krieg spielt nicht nur dort, wo die Bomben fallen, wo die Soldaten in
Schützengräben verharren, wo das Rattern der Artilleriegeschosse zu hören
ist. Er schreibt sich vielmehr in den Organismus einer ganzen Gesellschaft
ein, ist subkutan immer da. Diesen Eindruck gewinnt man in zwölf neuen
Short Storys von [1][Serhij Zhadan,] die nun auf Deutsch unter dem Titel
„Keiner wird um etwas bitten“ erschienen sind.
Der wohl berühmteste ukrainische Gegenwartsautor erzählt darin von allzu
alltäglich gewordenen Beerdigungen, von der Atmosphäre auf den verlassenen
Straßen von Charkiw, von zerstörten Schulen und von Leichentransporten, von
Beruhigungs- und Schlafmitteln, mit denen die Menschen ihr Leben meistern.
Er erzählt von einem Land im Überlebensmodus.
Serhij Zhadan leistet gerade selbst Kriegsdienst bei den ukrainischen
Streitkräften. An der Front kämpfen muss er nicht, er ist in seiner Brigade
für Kommunikation zuständig und hat ein Frontradio mit aufgebaut (Radio
Khartia).
Für den Schriftsteller, der für sein Werk vielfach ausgezeichnet wurde,
haben sich die Prioritäten seit Beginn des russischen Angriffskriegs
verschoben, auch sein Schreiben hat sich verändert. Die Geschichten sind
mosaik- und momenthafter, oft stellt der 50-jährige Autor das Dasein im
Krieg nüchtern, sachlich, in kurzen Dialogen dar.
## Leere Fußballplätze
Eine Parabel auf die gegenwärtige Situation der Ukraine ist am ehesten die
Geschichte von Bohdan und seinem Sohn Tocha, die durch das kaputte und
verwaiste Charkiw ziehen. Der Vater ist ein großer Fußballfan, der Sohn ein
Fußballspieler, doch die Stadien und Plätze sind leergefegt, die meisten
Mitspieler von Tocha haben das Land verlassen, an Kicken ist nicht zu
denken. Sie schauen schließlich zu Hause die Aufzeichnung jenes Matchs der
WM 1986 an, bei dem Maradona mit der Hand das Tor erzielte.
Als Bohdan dem Sohn erklärt, warum Maradona in diesem Moment so ein Großer
war, scheint es für einen Augenblick, als würde er über den Krieg sprechen:
„Weil er gewonnen hat. Er hat gewonnen, verstehst du? Den Siegern verzeiht
man viel. Nicht alles natürlich, aber viel. Der Sieg entwaffnet. Denn man
schaut auf den Sieger und versteht, wozu er bereit war. Wozu war er bereit?
Zu allem. Auf den Platz gehen und diesen verdammten Sieg an sich reißen,
wie ein Herz aus einer fremden Brust.“
Auch das, was nicht gesagt wird, tönt sehr laut in den Gesprächen seiner
Protagonist:innen. In einer Geschichte besucht eine junge Frau einen
ehemaligen Schulfreund, der im Krankenhaus ist und im Rollstuhl sitzt; er
ist offenbar im Krieg verletzt worden. Beide unterhalten sich recht
einsilbig miteinander: „,Hast du mich wenigstens erkannt?', fragte sie. –
‚Erst nicht.‘ – ‚Hab ich mich verändert?‘ – ‚Alle haben sich ver…
du siehst.‘ – ‚Verstehe.‘“
In diesem Stil schleichen die beiden umeinander herum, sie flirten
miteinander, bleiben zugleich auf Distanz. Der Krieg schreibt sich in die
Kommunikation der beiden ein, er ist latent immer da, insofern steht diese
Story Pars pro Toto für den gesamten Band.
## Der Krieg durchdringt die Sprache
Zhadans Geschichten lassen Bilder im Kopf entstehen. Es ist, als sähe man
vor sich, wie der alte einsame Lehrer Pal Iwanytsch an seiner zerstörten
Schule Wache schiebt, als blicke man in das Hotelzimmer, in dem ein Soldat
ein Rendezvous mit einer Soldatin hat und bei dem beide nichts wollen, als
einfach nur zu ruhen und zu schlafen, als sei man in der Kirche, in der die
Trauerfeier für den Kommandeur stattfindet und die Blicke der Soldaten auf
die Blicke der Witwe treffen und die Rede des Priesters an allen
vorbeigeht. In der letzten Geschichte kehrt Zhadan zu den
Protagonist:innen seiner ersten Geschichte zurück, ein Kreis schließt
sich.
Wie sehr der Krieg auch die Sprache Zhadans durchdringt, zeigt sich am
deutlichsten in den poetischen Beschreibungen, die er einfließen lässt. Er
reflektiert den Beginn des russischen Angriffskrieges, „diese ersten Tage
vor einem Jahr, die Panik, die in die Lungen floss und einen nicht atmen
ließ, die Schwärze, durch die hindurch man nichts erkennen konnte“, er
beschreibt eine Aufteilung in ein Davor und ein Danach:
„Es war noch nicht lange her, da war das Leben zerbrochen, war die Zeit
zerbrochen, hatte sich das Gefühl des Atmens verändert, sein Rhythmus und
seine Regelmäßigkeit.“ Den Krieg fängt Zhadan in Begegnungen und
Unterhaltungen ein. Die Front ist weit weg und doch irgendwie da in seinen
Storys. Gerade deshalb meint man, hier so viel davon zu verstehen, was es
bedeutet, im Kriegszustand zu sein.
30 Mar 2025
## LINKS
[1] /Gedichte-aus-dem-Krieg-von-Serhij-Zhadan/!6046776
## AUTOREN
Jens Uthoff
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