| # taz.de -- Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Kämpfen für den Frieden | |
| > Pazifisten, die Zhadan als Militaristen und Völkerhasser bezeichnen, | |
| > haben ihn nicht verstanden. Eine Replik auf den Kommentar von Franz Alt. | |
| Bild: Vom Deutschen Buchhandel zu recht mit dem Friedenspreis geehrt: Serhij Zh… | |
| Wer das Morden, das Metzeln und den Vernichtungswillen seitens der | |
| russischen Armee aus nächster Nähe erlebt und für den dabei empfundenen | |
| Ekel, für Abscheu und Hass drastische Worte findet, dem sollte man erst | |
| einmal Verständnis entgegenbringen. Serhij Zhadan wählt in seinem | |
| Kriegstagebuch „Himmel über Charkiw“ krasse Worte, er schreibt über | |
| russische Soldaten als „Abschaum“, „Unrat“ und „Barbaren“. | |
| Wer das zitiert, sollte auch die Kontexte nennen: Es geht um den Angriff | |
| auf den Bahnhof in Kramatorsk, um Raketen, die unweit von Zhadans Wohnung | |
| einschlagen, um reihenweise ermordete Zivilisten. Um Butscha. Oder eben: um | |
| Barbarei. Einige, wie [1][Franz Alt in der taz], halten Zhadan nun für | |
| keinen würdigen Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. | |
| Nicht nur wegen seiner Wortwahl, sondern auch, weil er sich bedingungslos | |
| hinter die ukrainische Armee stellt und damit sicher nicht nur Leute | |
| unterstützt, die politisch unverfänglich sind. Doch aus der deutschen | |
| „Komfortzone“ (Zhadan) heraus, in der die aktuell dringlichsten Probleme 19 | |
| Grad Raumtemperatur und Heizkostenrechnungen sind, lassen sich derlei | |
| Urteile auch bequem fällen. | |
| Als Erstes sollte man das Missverständnis aufklären, Zhadan werde „für“ | |
| seinen „Hass im Krieg“ geehrt, wie Alt impliziert. Der ukrainische Autor | |
| wird für sein Wirken und Werk ausgezeichnet, für Romane wie „Internat“ | |
| (2017), der ebendiese Verrohung, Verfinsterung und Verkommenheit im Krieg | |
| dicht nachzeichnet. Für die Gedichte in „Antenne“ (2020), in denen er die | |
| westliche Ignoranz seinem Land gegenüber anprangert. Dafür, dass er vor | |
| Kindern in der Charkiwer Metro Konzerte spielt. | |
| ## Auszeichnung auch für Humanität | |
| Und, ja, auch dafür, dass er unermüdlich Geld für Hilfsgüter und die Armee | |
| sammelt. Für Humanität. Das Wichtigste zu „Himmel über Charkiw“ sagte | |
| Zhadan während der Pressekonferenz bei der Frankfurter Buchmesse: „Ich | |
| glaube nicht, dass Wut und Hass in dem Buch die zentrale Rolle spielen“, | |
| erklärte er. Damit hat er recht. Die Worte des Hasses werden von deutschen | |
| Pazifisten aus diesem Werk mit der Pinzette herausgepickt und unter dem | |
| Mikroskop gewendet. | |
| Und: „Vielleicht kann man das [die hasserfüllte Reaktion] verstehen, wenn | |
| man sieht, wie vor einem auf der Straße ein Mensch von einer Rakete getötet | |
| wird. Das ist nicht der Moment für politisch korrekte Worte.“ Auch die | |
| ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk konstatierte in Frankfurt, wie | |
| gefühlskalt sie geworden sei. Zhadan sagt, er glaube nicht, dass sich die | |
| Ukrainer für ihre emotionalen Worte rechtfertigen müssten. | |
| In seinem Buch – einfach mal den Epilog lesen – setzt er sich differenziert | |
| mit dem Sprachverlust auseinander. „Himmel über Charkiw“ sieht er nicht als | |
| literarisches Werk. Es sind Facebook-Posts, die ungefiltert seine | |
| Kriegswahrnehmung wiedergeben, als solche betrachtet er sie: Ansichten | |
| einer Kriegspartei. Sein Verlag machte ein Buch daraus. | |
| ## Nicht allein Putins Krieg | |
| Er sei keinesfalls russophob, und doch hält er den Krieg nicht bloß für | |
| „Putins Krieg“, sondern für einen, der von vielen propagandaverstrahlten | |
| Russinnen und Russen mitgetragen wird. Das sehen regimekritische russische | |
| Menschenrechtler:innen und Autor:innen nicht anders. | |
| Man lese einmal den russischen Autor Arkadi Babtschenko („Im Rausch“), auch | |
| der schreibt sich in Rage über seine Landsleute als „Schweinehunde“ und | |
| darüber, „dass sich ein ganzes Volk innerhalb weniger Jahre in eine Masse | |
| von Charakteridioten verwandeln lässt“. Er vergleicht den Putin’schen | |
| Propagandaerfolg mit dem Goebbels’schen. Wollen die deutschen Pazifisten | |
| etwa, dass man die Faschisten auch noch mit netten Adjektiven streichelt? | |
| Wer aus Zhadan einen Militaristen und Völkerhasser macht, verkehrt die | |
| Verhältnisse. In [2][seiner Friedenspreisrede] sagte Zhadan: „Wir | |
| unterstützen unsere Armee nicht deshalb, weil wir Krieg wollen, sondern | |
| weil wir unbedingt Frieden wollen.“ Klarer geht’s nicht. In seiner | |
| Heimatstadt Charkiw liest er regelmäßig vor Soldaten und gibt mit seiner | |
| Band Konzerte. Er ist auch vor Bataillonen aufgetreten, die dem | |
| ultranationalistischen und rechtsextremen Spektrum zugeordnet werden. | |
| Die Situation gibt es nicht anders her. Ein Rechter ist er deshalb noch | |
| lange nicht, wer ihn dazu macht, dient der russischen Propaganda. Schon | |
| 2014, in der Debatte über Rechtsextremisten beim Euromaidan, unterschrieb | |
| er eine Erklärung mit dem Wortlaut: „Wir sind friedliche Menschen | |
| unterschiedlicher ethnischer Herkunft aus verschiedenen Regionen der | |
| Ukraine. Wir sympathisieren nicht mit den rechtsradikalen Organisationen.“ | |
| Auf die Frage, ob er sich als Nationalist oder Patriot bezeichne, sagte er | |
| dem [3][Calvert Journal]: „Ich bin kein Nationalist. Ein Patriot – das ja.�… | |
| Doch der Begriff Patriot sei in der Ukraine anders konnotiert als in | |
| Westeuropa oder den USA. Die Differenz zwischen der westeuropäischen und | |
| der ukrainischen Perspektive kann man dabei gar nicht oft genug betonen. | |
| Man wird den Eindruck nicht los, dass in Deutschland immer auch die | |
| Perspektive des Aggressors eingenommen wird. | |
| Der Historiker und Osteuropaexperte [4][Karl Schlögel] sagte in Frankfurt | |
| alles Wesentliche dazu: Selten seien die Fragen von Schuld und Unschuld, | |
| von Täter und Opfer, von Aggressor und Angegriffenem so eindeutig wie in | |
| diesem Krieg. Nun wird ein großer, hochproduktiver Autor auf einige wenige | |
| Social-Media-Posts oder auf einen Auftritt vor den falschen Leuten | |
| reduziert. Man kann sich vom Sofa aus natürlich einen Friedenspreisträger | |
| mit blütenweißer Weste und Friedenstaube auf der Schulter wünschen. | |
| Das ist Serhij Zhadan nicht. In seiner Friedenspreisrede sprach er von | |
| schmutzigen, schwarzen Händen, vom Leichentransport, von dem Gestank der | |
| Toten. Der Krieg ist grausam, es gibt ihn nicht ohne Widersprüche. Es ist | |
| bezeichnend und es ist eine gute Entscheidung, Serhij Zhadan mit dem | |
| Friedenspreis auszuzeichnen. | |
| 27 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Friedenspreis-des-Deutschen-Buchhandels/!5886985 | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=CKao5sjOXFo | |
| [3] https://www.calvertjournal.com/articles/show/11022/everything-changed-ukrai… | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=cpBZ9sz7N-A | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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