| # taz.de -- PEN-Berlin-Mitgründerin Ursula Krechel: „Literarischen Kontext s… | |
| > Auf dem 1. Kongress der Schriftstellervereinigung PEN Berlin diskutiert | |
| > Mitgründerin Ursula Krechel über Gewalt- und Exilerfahrung in der | |
| > Literatur. | |
| Bild: Eine Wohnung im ukrainischen Balakliya, das bis vor kurzem von der russis… | |
| taz: Frau Krechel, gibt es bei dem [1][ersten Kongress des PEN Berlin] eine | |
| besondere Erwartungshaltung, nach dem Motto „Guckt mal, was der auf die | |
| Reihe bringt“? | |
| Ursula Krechel: Bei uns selbst zumindest ist es nicht die | |
| Erwartungshaltung, sich zu zeigen, sondern die Freude in diesem halben | |
| Jahr, seit es uns gibt, sehr viel erreicht zu haben. Das bedeutet konkret, | |
| sehr viele neue Mitglieder gewonnen zu haben, die vorher nirgendwo | |
| organisiert waren. Es sind Leute, die sagen, genau einen solchen | |
| Zusammenschluss hat es gebraucht. Einen Zusammenschluss von denjenigen, die | |
| nach Deutschland gekommen sind und Schutz gesucht haben, und denjenigen, | |
| die den Schutz bieten können. Das ist die Freude und das ist die | |
| Intensität. | |
| Daran schließt das Thema des Panels auf dem Kongress an, auf dem Sie als | |
| Diskutantin dabei sein werden und das den Titel „Gewalt, Erinnerung, | |
| Literatur“ trägt. Klingt nach einer ziemlichen Herausforderung, sich dem in | |
| 90 Minuten zu nähern. | |
| Das ist richtig – vor allen Dingen, weil das Panel besetzt ist mit Menschen | |
| aus ganz verschiedenen Situationen: sozusagen frisch der Gewalt entronnen, | |
| wie der türkisch-kurdischen Autorin Meral Şimşek, oder Leuten, die sich | |
| immer wieder literarisch mit Gewalt auseinandersetzen wie ich. Aber ich | |
| glaube, es ist sehr sinnvoll, Augenzeugenberichte von Menschen, die gerade | |
| einer gefährlichen Situation entronnen sind, und die Möglichkeiten von | |
| Literatur, die Langfristigkeit des Umgangs mit bestimmten Themen, | |
| zusammenzubringen. Denn oft läuft das parallel. | |
| Ist es produktiv? | |
| Ja, es ist ein gegenseitiges Zuhören, ein Aufnehmen, ein Nehmen und Geben. | |
| Das Ringen mit einer Sprache, die Gewalt schildert und selbst Gewalt | |
| ausübt, ist seit Jahrzehnten Ihr Thema – kommt man da jeweils mit zu Rande, | |
| zu einem Abschluss? | |
| Ob Literatur überhaupt mit etwas zu Rande kommt, ist die Frage. Zumindest | |
| schafft sie ein Sensorium, um Gegenwärtigkeit, das Abgründige, ich sage | |
| bewusst auch das Böse, zu reflektieren. | |
| Es gab immer wieder die Schreibenden, die sich engagierten, von Heinrich | |
| Böll bis Günter Grass, und immer wieder die Stimmen, die behaupteten, das | |
| eine ginge nur auf Kosten des anderen. Wie vereinbar sind Engagement und | |
| das langsame Tempo der Literatur? | |
| Als einen Gegensatz würde ich das überhaupt nicht behaupten. Allerdings hat | |
| sich die Gesellschaft so unglaublich geändert. Wir erleben heute so hautnah | |
| Menschen, die Gewaltsituationen entkommen sind. Sie brauchen uns. Zu der | |
| Zeit von Böll und Grass waren es sehr wenige Menschen, für die man hier | |
| eine individuelle Lösung schaffen musste. Heute sind wir in jeder | |
| Schulklasse von ihnen umgeben. Die Vorstellung, dass Europa kein | |
| friedlicher Ort mehr ist, kein Ort des Rückzugs, rüttelt die ganze | |
| Gesellschaft auf. Wir, die wir in relativer Ruhe 70 Jahre Bundesrepublik | |
| hinter uns haben, haben nun Platz zu machen. | |
| Was bedeutet das konkret für die Schreibenden hier? | |
| Die Auseinandersetzung mit den Geflüchteten, mit denen, denen das freie | |
| Wort verboten worden ist, schafft natürlich eine Art von Reflexion über das | |
| eigene Schreiben, über den eigenen Ort des Schreibens, über die Gewissheit, | |
| mit seinen Themen umgehen zu können. Es kommen Menschen, die über | |
| existenzielle Not berichten, sie sind Augenzeugen, sie sind Opfer ihrer | |
| eigenen Geschichte. Und unsere Vorstellung, von Identität aus einem Kern | |
| heraus zu schreiben, wird dadurch natürlich in Frage gestellt. | |
| Was folgt daraus? | |
| Ich bin der Meinung, dass sich Identität auch im Austausch entwickelt, und | |
| zwar an den Rändern des Eigenen, der eigenen Person. Ich glaube nicht, dass | |
| es einen Kern gibt, aus dem heraus geschrieben wird, sondern dass sich | |
| gerade in den Zonen, in denen Schriftsteller und Schriftstellerinnen sich | |
| Konflikten aussetzen, das Schreiben wirklich konstituiert. | |
| Wie ist das bei Ihrem eigenen Schreiben? | |
| Ich bin sehr viel später hellhörig geworden auf meine eigenen | |
| Gewalterfahrungen als Nachkriegskind, als ein Kind, das durch Trümmer | |
| gestapft ist. Und zwar durch die jetzige Situation, durch die Verlorenheit, | |
| in der sich Leute heute hier befinden. Ich habe mich zum Beispiel früher | |
| nie sonderlich für Flüchtlinge interessiert, weil ich im Westen | |
| Deutschlands aufgewachsen bin. Da gab es nicht so viele Flüchtlinge. Ich | |
| habe mich für sie, leider muss ich sagen, überhaupt nicht interessiert und | |
| bin jetzt über meine eigene partielle Blindheit erstaunt. | |
| Weil in Ihren eigenen Texten Exil und Ausgrenzung immer eine Rolle spielen? | |
| Was mich schreibend immer interessiert hat, ist das Ankommen in einer | |
| Emigration, der Weg in eine fremde Sprache, eine andere Kultur. Insofern | |
| scheint mir die Veränderung des eigenen Schreibens durch die | |
| Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Gegebenheiten doch eine höchst | |
| produktive Situation. Ich höre allerdings auch von Kollegen und | |
| Kolleginnen, dass sie ganz stumm gemacht werden oder dass sie sich beschämt | |
| fühlen über die Wohlfühlsituation, in der sie doch viele Jahre gearbeitet | |
| haben. | |
| Sie sind jetzt Teil einer aufnehmenden Gesellschaft – mit dem Bild einer | |
| Nachkriegsgesellschaft, die da versagt hat. | |
| In den 1950er Jahren stellte sich das Problem anders. Nur fünf Prozent | |
| aller Emigranten aus Nazideutschland sind überhaupt zurückgekehrt. Das | |
| heißt, sie haben Angst gehabt – mit Recht Angst gehabt – vor den | |
| Nachwirkungen oder der Unveränderbarkeit ihrer Gesellschaft. Oder sie haben | |
| anderswo glücklicherweise Fuß fassen können, oder es war einfach niemand da | |
| aus ihrer Lebenssituation, weil alle ermordet worden waren. | |
| Sie haben von dem neuen Selbstverständnis des PEN Berlin gesprochen, als | |
| deutsche Schreibende aus einer Situation der Sicherheit heraus eine größere | |
| Verpflichtung zu haben. Was genau bedeutet das? | |
| Ich sehe die Verpflichtung eher als ein Bedürfnis, sonst würden wir die | |
| Arbeit nicht machen. Es heißt ja nicht nur, den heute Geflüchteten ein Dach | |
| über dem Kopf zu geben und für Lebensnotwendigkeiten zu sorgen. Es bedeutet | |
| auch, für die Möglichkeit zu sorgen, gehört zu werden, eine Art von | |
| literarischem Kontext zu schaffen. | |
| Es klingt sehr durch, dass Sie als Aufnehmende profitieren, was ein | |
| unglückliches Wort dafür ist. | |
| Profitieren ist vielleicht zu ökonomisch gesagt. Es ist ein Lernprozess für | |
| die deutsche Gesellschaft und für die deutsche Kultur allemal, sich damit | |
| auseinanderzusetzen, was diejenigen, die kommen, uns geben: an Erfahrungen, | |
| an literarischen Traditionen. Und dafür bin ich zum Beispiel als eine | |
| Lesende sehr dankbar. | |
| Die literarische Welt Deutschlands hat sich ziemlich bewegt, oder? | |
| Ja. Denken Sie nur an Emine Sevgi Özdamar, die in diesem Jahr den | |
| Büchner-Preis bekommen hat, die Aufmerksamkeit für andere Lebenserfahrungen | |
| und auch für andere Schreibtradition ist ungleich größer geworden. Wenn Sie | |
| an die Literatur der Gruppe 47 denken, da wurden Emigranten wegen ihres | |
| altmodischen Deutsch, wegen ihrer Nichtdazugehörigkeit ausgegrenzt. Nun | |
| gibt es eine Hellhörigkeit für andere Erfahrungen, die literarisch eine | |
| große Bereicherung ist. | |
| 1 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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