# taz.de -- ZDF-Zweiteiler zur NS-Zeit: Das Unglück im Glück | |
> Gemäßigt und gut: Matthias Glasner hat Ursula Krechels buchpreisgekrönten | |
> Roman „Landgericht“ verfilmt. | |
Bild: Die Eltern sind entschlossen, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen | |
So viel ist gewiss: Alle Geschichtslehrer des Landes werden diesen | |
Zweiteiler archivieren, um ihn Generationen von Schülern vorzuführen. Alle | |
Geschichtslehrer? Nein! Ein unbeugsamer Björn Höcke wird seine Meinung über | |
die „dämliche Bewältigungspolitik“ nicht revidieren. | |
Für das Nachdenken über den Nationalsozialismus gibt es keinen | |
Schlusstermin. Dieser Film führt es noch einmal vor Augen. Und das nicht | |
obwohl, sondern weil der Holocaust in ihm nur ein fernes Echo ist. | |
Keiner aus der Familie mit jüdischem Vater kommt nach Auschwitz. Die Eltern | |
treffen die richtigen Entscheidungen. Alle überleben. Man könnte sagen, sie | |
haben Glück gehabt. Aber dann hätte man den Film nicht gesehen. | |
„Landgericht“ handelt vom großen Unglück, das (im ersten Teil) | |
Nazideutschland über eine Familie bringt und das (im zweiten Teil) die | |
Bundesrepublik Deutschland danach perpetuiert. | |
## Odysee | |
Was sagt ein Vater (Ronald Zehrfeld) am Frühstückstisch an dem Morgen, an | |
dem er seinen achtjährigen Sohn und seine fünfjährige Tochter in einen der | |
Kindertransporte nach England setzt, nicht wissend, wann und ob er sie je | |
wiedersehen wird? Er sagt: „Soll ich dir ’n Marmeladenbrot schmieren?“ | |
Was denkt eine Mutter (Johanna Wokalek), wenn sie zehn Jahre später in | |
England ihre Tochter doch wiedersieht und diese sie nicht nur nicht | |
erkennt, sondern ignoriert, weil sie, nach einer Odyssee von Dickens’schen | |
Ausmaßen, das Glück gehabt hat, eine neue Mutter zu finden? | |
„Landgericht“ ist die Verfilmung des gleichnamigen, nah an der Biografie | |
des realen Richters Robert Bernd Michaelis entlang geschriebenen Romans von | |
Ursula Krechel, für den sie vor fünf Jahren mit dem Deutschen Buchpreis | |
ausgezeichnet wurde. | |
Die Adaption, das Drehbuchschreiben hat Heide Schwochow besorgt. Fünf Filme | |
(zuletzt „Bornholmer Straße“) hatte sie für und auch mit ihrem Sohn | |
Christian geschrieben, nun hat Matthias Glasner Regie geführt. | |
## Fernsehen als Event | |
Der dreht am liebsten mit Jürgen Vogel (auf den er hier verzichten muss), | |
gerne wilde Genrefilme, stets geht dabei ums existenzielle große Ganze, das | |
er so drastisch wie kompromisslos („Der freie Wille“) und auch, ja: leise | |
(„Gnade“) in Szene setzt. | |
Letzteres wiederum ist dem (mit Benjamin Benedict und Sebastian Werninger) | |
produzierenden Nico Hofmann gänzlich fremd. Sein Verständnis von Fernsehen | |
als Event („Dresden“, „Unsere Mütter, unsere Väter“) kennt keine Gren… | |
der Überdramatisierung. Er lebt mit dem Vorwurf, dass seine Nazis zu | |
sympathisch rüberkommen. | |
Es hat sich also ein illustres Team zusammengefunden. Das Reibungspotenzial | |
hat offenbar an den richtigen Stellen mäßigend gewirkt. Es fehlt der | |
Nazibombast. Es fehlen die großen Nazimänner. Die kleinen Nazis zeigen | |
sich, als die allein in Berlin zurückgebliebene Mutter den Hausstand | |
verkaufen muss: „Ersticken soll sie an ihrem Geiz!“ | |
Ursula Krechel goutiert das Resultat mit vornehmer Zurückhaltung: „Dass er | |
jetzt am Ort des Geschehens im ZDF eine Art von Wiedergutmachung erfährt, | |
ist eine freudige Genugtuung – für die Romanfigur und seine Autorin.“ Der | |
Ort des Geschehens ist Mainz, wo der Familienvater nach dem Krieg, nach dem | |
Exil in Havanna, wieder Richter wird und für die Wiedergutmachung kämpft. | |
## Primetime-Zweiteiler | |
Ein gelernter Jurist, dem selbst großes Unrecht widerfahren ist, der an | |
„das Recht auf Gerechtigkeit“ glaubt, kann den Zeitgeist des Verdrängens | |
nicht akzeptieren. Er kann daran zerbrechen. | |
Diesen Weg nachzuzeichnen, so empathisch, so unerbittlich und plausibel in | |
der Abfolge der Ereignisse, und dabei noch allen Handelnden und noch dazu | |
dem ganzen Land gerecht zu werden: Das ist für so einen – bis in die | |
kleinen Nebenrollen herausragend besetzten – Primetime-Zweiteiler keine | |
geringe Leistung. | |
Was sagt eine Frau, wenn sie ihren Mann nach zehn Jahren wiedersieht? Eine | |
überdramatisierte Version der Szene kann sich jeder leicht ausmalen. In | |
„Landgericht“ sagt die Frau einfach: „Du hast ja noch deine alte Brille.�… | |
30 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Jens Müller | |
## TAGS | |
ZDF | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Autoren:innenverband PEN | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
PEN-Berlin-Mitgründerin Ursula Krechel: „Literarischen Kontext schaffen“ | |
Auf dem 1. Kongress der Schriftstellervereinigung PEN Berlin diskutiert | |
Mitgründerin Ursula Krechel über Gewalt- und Exilerfahrung in der | |
Literatur. | |
Deutscher Buchpreis: Ästhetik des Romans | |
Mit der Entscheidung der Jury für den Deutschen Buchpreis für Ursula | |
Krechel kann man zufrieden sein. Auch die Shortlist zeugte von Eigensinn | |
und Anspruch. | |
Deutscher Buchpreis 2012: Im neuen Deutschland | |
Ursula Krechel gewinnt den Buchpreis 2012. „Landgericht“ beschreibt das | |
Schicksal eines jüdischen Exil-Heimkehrers im Nachkriegs-Deutschland. |