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# taz.de -- Bachmannwettbewerb in Klagenfurt: Mit Leberwurst und Gurkerl
> Die 48. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt waren ein
> trotziges Ausrufezeichen. Denn die Buchbranche ist von Krisen geplagt.
Bild: Der Schriftsteller Ferdinand Schmalz warb in seiner Eröffnungsrede des B…
Am Anfang stand die Leberwurst, genauer gesagt: mit „hoppla, die
leberwurst!“ der etwas rätselhafte Titel der traditionellen „Klagenfurter
Rede zur Literatur“, die [1][Schriftsteller Ferdinand Schmalz] zur
Eröffnung des diesjährigen Bachmannwettbewerbs hielt. In dem Text, der von
Schmalz als kleines und konsequent klein geschriebenes Kunstwerk mit großer
Verve vorgetragen wurde, geht es um Schreibkrisen und das „nicht-schreiben,
das den geschriebenen text formt“.
Gute Literatur, so Schmalz, sei vor allem jene, die ihre inneren Krisen
offenlege und es dem Publikum nicht zu leicht mache. Als Leser hätten ihn
Werke geprägt, die „beim ersten lesen so etwas wie ein lustvolles
nicht-verstehen auslösten“. Besonders erkenntnisreich seien für ihn Werke,
die von Schreibkrisen und Gesellschaftskrisen gleichermaßen handelten, die
also jenem Punkt nachspürten, „in dem plötzlich das, was mit dem text
scheiße läuft, genau mit dem zusammenfällt, was mit der welt scheiße
läuft.“
Lustigerweise kam dem Festredner dieser Gedanke, als er Kinder hörte, die
nach der Melodie von Paul McCartneys „Hope of Deliverance“ von der
Leberwurst sangen und damit Schmalz aus einer Klemme halfen, der lange Zeit
nicht wusste, worüber er in Klagenfurt vor den Honoratioren sprechen soll.
## Erstaunliche Breite von Textformen und Themen
Es gehört zum guten Ton der seit 48 Jahren abgehaltenen „Tage der
deutschsprachigen Literatur“, dass im Verlauf des Wettbewerbs auf die
Eröffnungsrede eingegangen wird, was sich in diesem Fall als Problem
herausstellte, weil sich ein lustvolles Nichtverstehen erschöpfen und die
Jury sich nicht vornehmlich damit beschäftigen kann, unverständliche Texte
nachvollziehbar zu machen. Nicht nur einmal diskutierte die Jury über die
Frage, was es für die Bewertung eines Textes heißt, wenn er eine
literaturwissenschaftliche Begleitanalyse oder einen geeigneten Vortrag
braucht.
Insgesamt durfte sich das Publikum beim diesjährigen Wettlesen am
Wörthersee über eine erstaunliche Breite von Textformen und Themen freuen.
Fantasy und Familiendramen, wilde Wortkaskaden und präzise entwickelte
Plots. Die vierzehn geladenen Autorinnen und Autoren beschrieben konkrete
Körpererfahrungen, erkundeten aber auch abstrakte Gedankenräume.
In auffällig vielen Beiträgen sprachen Räume, Wände oder Heizkörper über
leidvolle Erfahrungen. Nicht jede Personifikation glückte; die trostlose
Beziehungsgeschichte von [2][Sarah Elena Müller] mochte nicht überzeugen,
auch wenn darin eine vorwitzige Türschwelle zur Protagonistin wird.
Henrik Szántó beeindruckte hingegen mit der Prosapartitur „Eine Treppe aus
Papier“, in der Stimmen von Hausbewohnern als mannigfaltige Echoräume in
einem Gebäude über sechs Jahrzehnte übereinander gelagert werden. Dabei
handelt es sich nicht nur um ein Formexperiment in der ersten Person
Plural, es geht um die Geschichte eines deutschen Verbrechens, um die
Verschleppung und Ermordung einer jüdischen Familie. Leider erhielt diese
formal wie inhaltlich wichtige Prosa keine Auszeichnung.
## Perfekt kalkulierte Schimpfarie
Der Wettbewerb war schon fast zu Ende, als die österreichische Autorin
Johanna Sebauer eine groteske Satire präsentierte, in der ein Streit über
die Gefährlichkeit von Essiggurken die Gemüter in den unsozialen Medien
eskaliert: „Er habe also ein Gurkerl herausgefischt aus diesem
fetzengeschissenen Gurkerlglas, habe abgebissen und das Gurkerl, das von
ihm erwählte, sei von einer solchen Knackigkeit gewesen, gefedert habe es,
das Gurkerl, beim Abbeißen, und habe ihm einen Tropfen dieses
scheißdrecksgschissenen Hurnsgurkerlwassers in sein linkes Auge
geschossen, wo es jetzt brannte wie das Höllenfeuer und seinen gesamten
Augapfel würde wegätzen, so nämlich fühle sich das an.“
Sebauer widerlegte mit ihrer perfekt kalkulierten Schimpfarie auch
Festredner Schmalz, indem sie eindrucksvoll bewies, dass ein aufs Verstehen
abzielender, weil unmittelbar komischer Text, selbst wenn er mit
dialektalen Kunstworten spielt, zu literarischer Qualität führen kann. In
einer seltsam umständlichen und intransparenten Punktevergabe erhielt die
Autorin den mit 7.500 Euro dotierten 3sat-Preis der Jury. Zudem durfte sie
die 7.000 Euro für den Publikumspreis nach Hause nehmen.
Zwei Wettbewerbsbeiträge korrespondierten auf unheimliche Weise: Zum einen
[3][Tijan Silas] familiäre Kriegsfolgengeschichte „Der Tag, an dem meine
Mutter verrückt wurde“ und Tamara Štajners emotionales Mutter-Tochter-Stück
„Luft nach unten“. Sila erzählt von Mutter und Vater, die auf
unterschiedliche Weise irre an der Welt werden. Die Familie hat die
mörderische Belagerung Sarajevos erlebt, die vom 4. April 1992 bis zum 29.
Februar 1996 dauerte. Verwandte sind gestorben, Freunde schwer verletzt.
Die mentalen Auswirkungen auf die Überlebenden zeigen sich Jahre später. An
einer Stelle heißt es: „das Nebeneinander von Wut und Wahn sollte ein
wesentliches Merkmal der Krankheit meiner Mutter bleiben.“ Sie wittert
überall eine Verschwörung, und daran zerbricht auch der Vater des
Erzählers, der sich zu einem Messie entwickelt. Er sammelt kaputte
Elektrogeräte, weil er denkt: „Man kann alles reparieren.“ Doch das Leid,
das sich in seine Seele gefressen hat, wird nicht mehr heilen.
Auch der Ich-Erzähler des vermutlich autofiktionalen Textes erinnert sich
an die Todesangst im Bombenschutzkeller und versucht seitdem nicht
durchzudrehen. Er flüstert sich ein psychostabilisierendes Mantra zu:
„Bleib da! Bleib da!“
## Wutbrief an die Mutter
Während Sila in einer zwar nüchternen, aber eben auch skurrilen Tonlage
erzählt, ist die Geschichte Tamara Štajners ein emotionaler Grenzgang. Hier
erinnert sich eine Tochter nicht nur an die beengten Familienverhältnisse
und den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens. Die Ich-Erzählerin schreibt
einen Wutbrief an die Mutter, die zugleich eine Liebeserklärung ist. Jeden
Sonntag musste das nackte Kind zum Wiegen ins Wohnzimmer. Die Mutter
ereifert sich über die körperlichen Mängel der heiratsfähigen Tochter –
eine kaum auszuhaltende Szene.
Später, als die Mutter im Sterben liegt, kommen die Erinnerungen an die
Schmach zurück, und die Tochter hadert mit dem Verzeihen. Wie wird sie es
schaffen, die Traumata, die über Generationen wirken, nicht auch durchs
eigene Leben zu tragen? Gegen Ende des Vortrags weinte die Autorin und
konnte kaum weiterlesen. Sie erhielt den mit 10.000 Euro dotierten
Kelag-Preis. Die 25.000 Euro für den Bachmannpreis darf, völlig verdient,
Tijan Sila einstreichen.
„Die Möglichkeit einer Ordnung“ heißt eine konzis erzählte Trauergeschic…
von Denis Pfabe, die in einem Baumarkt spielt. Er durfte sich über den
Deutschlandfunk-Preis und 12.500 Euro freuen. Weniger preiswürdig war teils
die Arbeit der Jury. Oft erging sich die Debatte in Geschmacksurteilen.
Neuzugang Laura de Weck blieb erstaunlich blass. Ansonsten spielten alle
ihre bekannten Rollen.
Thomas Strässle gab sich zurückhaltend-wissenschaftlich, Mithu Sanyal
gestikulierte wild mit ihren Armen und redete gerne über ihre Gefühle beim
Lesen. Philipp Tingler beharrte auf Sprachanalyse und machte sich gerade
deshalb wie in den Vorjahren unbeliebt. Dabei mag man sich die Jury-Runde
ohne seine meinungsstarken Kommentare gar nicht mehr vorstellen. Es war ein
Sieg der literarischen Vernunft, dass seine Kandidaten, Sila und Pfabe, mit
Preisen ausgezeichnet wurden.
Klaus Kastberger interpretierte die Rolle des Vorsitzes, indem er sie
weitgehend ignorierte und so launig-erratisch weitermachte wie bisher („Ich
hasse Baumärkte!“). Am besten vorbereitet waren Brigitte Schwens-Harrant
und Mara Delius, deren Ausführungen oft gehaltvoller waren als die Texte.
## Entspannter an der Zukunft arbeiten
Wie auch immer man diesen oder jenen Text, diese oder jene Juryleistung im
Detail beurteilen mag, der Bachmannwettbewerb wirkte in diesem Jahr wie ein
trotziges Ausrufezeichen in einer von Krisen geplagten Buchbranche: Selten
kamen so viele Medien- und Verlagsleute, ehemalige Preisträger und
Kulturprominenz, vor allem aber auffallend viele junge Literaturfans nach
Klagenfurt. Der ORF-Sendesaal und die Presseräume waren genauso überfüllt
wie der Garten vor dem Studio.
Das öffentliche Lesen und Diskutieren von Literatur scheint in Zeiten, in
denen Rezensionsplätze in Zeitungen reduziert und Literaturformate im
Fernsehen verschwinden, einen Höhenflug zu erleben. Das ist keineswegs
selbstverständlich. Der Bewerb erlebte Finanzierungs- wie Sinnkrisen. Nach
der Pandemie und digitalen Sonderausgaben war völlig unklar, ob das
professionelle Publikum wieder zurückkäme.
Die Organisatoren und vielen Sponsoren des sommerliche Wettlesens am
Wörthersee können nun etwas entspannter an der Zukunft der traditionellen
Veranstaltung arbeiten und dafür sorgen, dass der Bachmannwettbewerb auch
künftig das wichtigste Literaturereignis im länderübergreifenden,
öffentlich-rechtlichen Rundfunk bleibt. Vielleicht sollten die
Medienmanager, die anderswo kürzen, das nächste Mal explizit zu den Tagen
der deutschsprachigen Literatur nach Klagenfurt eingeladen werden.
30 Jun 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Carsten Otte
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