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# taz.de -- Neuer Roman aus Slowenien: Coming-of-Age eines Landes
> In dem Roman „Platz der Befreiung“ erzählt Andrej Blatnik von Slowenien …
> und einem jungen Mann, der das Versprechen auf Freiheit ernst nehmen
> möchte.
Bild: Ljubljana, 1989, vom Rathausplatz aus gesehen
Der Systemwechsel, der mit den Jahren 1989–1991 verbunden ist, hält die
Welt bis heute in Atem. Was das Ende des Staatssozialismus für die
Generation bedeutet hat, die damals selbst in ihren Wendejahren waren, ist
aber auch abseits von Putin noch lange nicht zu Ende erzählt. Diejenigen,
die vor 30 Jahren Teenager und junge Erwachsene auf dem Weg in die
individuelle Eigenständigkeit waren, sind heute jene, die das Sagen in
ihren Gesellschaften haben.
Es sind die Menschen, die heute zwischen 40 und 60 Jahre alt sind und damit
jene, die heute praktisch wieder in den Wendejahren sind. Sich zumindest
ganz allmählich schon auf den Weg zur letzten großen Wende, das
Rentenzeitalter, gemacht haben.
Eine der Ideen, die die Zeit der Wende, des Wandels, des Zusammenbruchs
großer Ideen so wie jede Passage begleitet, ist die Aussage, dass ab jetzt
alles anders wird, eine andere Zeit beginne, dass alles, was heute noch
gelte, morgen passé sei. Also die Paulus-Propaganda vom auferstandenen
Jesus, vom Ende der Welt, wie wir sie bisher kannten.
Von diesem Moment, den es vor 30 Jahren auch in Slowenien gab, handelt der
Roman „Platz der Befreiung“. Geschrieben hat ihn Andrej Blatnik, einer der
erfolgreichsten Schriftsteller seines Landes. Blatnik schildert die Zeit,
in der Slowenien selbstständig wurde, aus der Perspektive eines namenlosen
jungen Mannes in der Hauptstadt Ljubljana, der sich gerade selbst auf dem
Weg in die Selbstständigkeit befindet: soeben mit der Uni fertig, seine
Punkband aufgelöst, auf der Suche nach der ersten eigenen Wohnung und einem
Auskommen als freier Literaturkritiker.
Der ganze Roman nimmt die Aussage, dass Privates politisch ist, radikal
ernst: Er parallelisiert die Coming-of-age-Geschichte des jungen Mannes mit
der gesamtgesellschaftlichen des Landes. Der ganz normale und dennoch
schmerzhafte Abnabelungsprozess von den Eltern wird mit der nicht ganz
unblutigen Geschichte der Loslösung Sloweniens von Jugoslawien verglichen.
„Glück kann dem Menschen weder der Staat noch das System noch eine
politische Partei geben“, lautet ein Bonmot des jugoslawischen Politikers
Edvard Kardelj. „Sie können es ihm aber nehmen“, lautet eine Antwort von
Blatniks namenlosen Protagonisten.
## Ist wirklich alles anders geworden?
Sein persönliches Glück kann er nämlich einfach nicht finden. Als die
Republik Slowenien 1991 [1][die Selbstständigkeit proklamiert] und sich
damit von der sozialistischen Föderation Jugoslawien unabhängig macht, ist
der namenlose Protagonist gerade schwer verliebt. In eine Frau, die
ausnahmslos in ironischer Distanz kommuniziert und sämtliche Sätze, in
denen es um ihre Beziehung geht, mit den politisch-gesellschaftlichen
Umbrüchen vergleicht.
Die Frage, die den ganzen Roman leitet, ist die, ob die paulinische
Propaganda aus der Wendezeit stimmt: Ist wirklich alles so grundegend
anders geworden? Erzählt wird, wie das Versprechen der Freiheit vom
Sozialismus zu einer Abhängigkeit von anderen Sinn- und vor allem
Geldgebern wird. Erzählt wird, wie an die Stelle kollektiver Konzertbesuche
die individuelle Depression tritt, und dass Literaturkritiker zwar nicht
mehr als Nachtportier, dafür aber als Werbetexter arbeiten müssen, um zu
überleben.
Der namenlose Protagonist hat keine Antwort auf die Frage, ob all die
revolutionären Veränderungen am Ende tatsächlich die Freiheit brachten, die
gemeint war. Er hat vor allem Fragen. Warum zum Beispiel alle eine andere
Antwort auf die Frage haben, weshalb die Poesie in den sozialistischen
Staaten eine so große Rolle spielte. Oder wie zum Teufel gerade der Platz
in Ljubljana heißt, auf dem sich seit Jahrzehnten alle verabreden. Es ist
der Platz, der dem Roman den Titel gibt: nach etlichen Umbenennungen im
Laufe der Jahre weiß einfach niemand mehr, wo er sich verabreden soll.
Blatniks Roman ist zwar auch wegen einiger schön allgemeingültiger
Beobachtungen und präzisen Modellierungen slowenischer Typen
empfehlenswert. Aber vor allem ist er großartig, weil er aus sehr vielen
kurzweiligen, ironischen, lakonischen und auch mal beklemmend kurzen
Dialogen besteht.
Blatnik kann mit diesen Dialogen das Gefühl vermitteln, man stünde als
Leser*in mitten auf dem Platz der Befreiung, verstünde Slowenisch und
könnte sagen: „Ja, genau so war’s. So haben die damals gesprochen“ – d…
jungen Intellektuellen mit den jungen Soldaten, die obdachlos gewordenen
alten Klassenkameraden mit dem Kellner, der Vater in ständiger Angst vor
der Verfolgung mit seiner Ehefrau oder der Saisonarbeiter aus dem Süden mit
dem Punk aus dem Norden.
## Bassist in einer Punkband
Blatnik selbst ist Jahrgang 1963, stammt aus Ljubljana und war Bassist
einer Punkband. Er hat schon etliche Bücher veröffentlicht, aber „Platz der
Befreiung“, der 2021 in Slowenien erschien, ist eine gute Grundlage für
einen Einblick in die gegenwärtige slowenische Gesellschaft, von der man
abseits des Balkans kaum mehr mitbekommt als Slavoj Žižek und die
[2][legendäre Kunstband Laibach.] Letztere kommt im Roman ebenfalls vor.
Ebenfalls als Beispiel dafür, dass sich ständig was ändert und doch alles
beim Alten bleibt. Im Fall von Laibach sind es die Bandmitglieder.
29 Apr 2023
## LINKS
[1] /Balkan-Korrespondent-ueber-den-Jugoslawienkrieg/!5896694
[2] /Kontroverse-um-Laibach-in-der-Ukraine/!5919154
## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
Slowenien
Kapitalismus
Coming-of-Age
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Literatur
Melania Trump
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