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# taz.de -- Roman „Aleksandra“ über Familie im Donbass: Im Palast der Albt…
> Menschen aus dem Donbass, zerrissen von einem Jahrhundert politischem
> Terror: Lisa Weeda erzählt im Roman „Aleksandra“ ihre Familiengeschichte.
Bild: War unfreiwillig zur Expertin eines Landes geworden, aus dem ihre Großmu…
Am 24. Februar 2022 klingelt im niederländischen Utrecht ununterbrochen das
Handy der Autorin Lisa Weeda. „Radio, Fernsehen, Zeitungen, alle meldeten
sich bei mir und wollten wissen, was Putin denkt, ob er den roten Knopf
drückt und wann der Krieg aufhört. Es war ein total absurder Tag“, erzählt
Weeda ein Jahr später, immer noch merklich irritiert. Über Nacht war die
1989 in Rotterdam geborene Künstlerin unfreiwillig zur Expertin eines
Landes geworden, aus dem ihre Großmutter stammte und das sie selbst erst
vor wenigen Jahren kennengelernt hatte.
Das lag an ihrem Roman. Wenige Wochen vor [1][Putins Großangriff] war
„Aleksandra“ erschienen, ihr erster Roman, in dem sie die Geschichte ihrer
aus dem Donbass stammenden Familie großmütterlicherseits verarbeitet. Nicht
übermäßig viele Leute interessierten sich vor dem 24. Februar für das Buch,
das die [2][Spur der Gewalt in dieser Region] durch das 20. Jahrhundert
verfolgt. Doch das ändert sich jetzt schlagartig: Während Weedas
ukrainische Familie in Luftschutzbunker oder gleich ganz aus dem Land
flüchtet, wird ihre „Aleksandra“ in den Niederlanden zum Bestseller.
An einem der außergewöhnlich warmen Februartage dieses Jahres beherrschen
Fahrräder, Schnittblumen und arabische Süßigkeiten die hübsche Stadt
Utrecht. Vor der monumentalen Zentralbibliothek spielt eine Band unter dem
Banner „Jesus saves“. Hinter den schönsten Fenstern der Welt füttern
Familien ihre Kinder, vor ihnen füttern Touristen die Enten in den
Grachten. Die Autorin Lisa Weeda lebt in diesem Bullerbü, seit sie zum
Studieren an die hiesige Kunsthochschule kam. Auf die Frage, ob sie den
Roman heute anders schreiben würde, sagt sie: „Ich hätte das Buch wohl
nicht veröffentlicht. Es wäre mir opportunistisch vorgekommen.“
## Leichtigkeit und Präzision
Die Integrität nimmt man der zierlichen und zurückhaltenden Lisa Weeda
sofort ab, auch wenn ihr deutscher Verlag den Jahrestag des Krieges als
Erscheinungsdatum für die deutsche Übersetzung gewählt hat. Lisa Weeda ist
jemand, dem man vertraut. Das liegt vielleicht daran, dass sie dort, wo
andere Schrifsteller jede Frage nach den wahren Hintergründen empört
zurückweisen, offen vom realen Personal ihres Romans erzählt, den sie als
„literarische Fiktion“ verstanden wissen will. Es liegt auch daran, dass
sie zwar leise und zurückhaltend spricht, sämtliche Sätze aber aus
beeindruckend sorgfältig gewählten Worten bildet. Und, daran, dass sie
dabei keinen Moment lang anstrengend ist.
Diese mit Leichtigkeit vorgetragene Präzision ist auch das, was an
„Aleksandra“ beeindruckt. Den Rahmen bildet die Ich-Erzählerin Lisa aus den
Niederlanden, die im Auftrag ihrer Großmutter Aleksandra im Jahr 2018 in
den Donbass reist. Lisa soll Cousin Kolja ein Tuch bringen. Seit einem
Jahrhundert werden auf diesem Tuch die Familienmitglieder wie auf einem
Stammbaum mit bestickten Linien bedacht: Rot für das Leben, Schwarz für die
Trauer.
Auf dem Tuch, so erfahren wir im Laufe des Buches, mehren sich die
schwarzen Striche: Hinter den Namen Nastja, die [3][im Holodomor] – der von
Stalin gezielt gegen ukrainische Bauern benutzten Hungerkatastrophe –
verhungert, hinter Petr und Tolja, die vor einer Zwangsverpflichtung durch
die Rote Armee fliehen, hinter Klim, der an der Seite der Nazis fällt,
hinter Nikolaj, der sich in Stalins Fabriken die Lungen ruiniert, hinter
Aleksandr, der in Afghanistan stirbt, hinter Igor, der 2014 und eben hinter
Kolja, der 2015 im Donbass ermordet wird. Als „Kulaken“ gebrandmarkt, wird
die Familie von Lisas Großmutter unter Stalin in den Osten deportiert. Als
„Untermenschen“ werden sie von den Nazis verfolgt. Und als vom Westen
gekaufte „Verräter“ geraten sie ins Visier der neuen Herrscher im Donbass
nach der Annektion durch Russland.
## Zentrale der Weltrevolution
Lisa Weeda benutzt einen Trick, um die komplexe Geschichte zu erzählen. In
einem Fiebertraum trifft sie ihren Urgroßvater, der in einem riesigen
Palast lebt. Es ist der Palast, den Stalin zu seinen Lebzeiten als
„Zentrale der Weltrevolution“ erbauen lassen wollte. Daraus wurde nichts.
Nach Stalins Tod baute man auf dem Platz statt des weltgrößten Hauses das
weltgrößte Freibad, den Moskwa Pool.
In Lisas Traum aber ist Stalins Palast grauenhafte Wirklichkeit, wird zum
Panoptikum der Gewalt. Gemeinsam mit ihrem längst verstorbenen Urgroßvater
wandert Lisa durch den Palast. Auf jeder Etage öffnen sich Türen und
Fenster, hinter denen sich Familienmitglieder und deren Schicksale
verbergen.
## Was keine Doku leisten kann
Lisa Weeda zeigt in „Aleksandra“, was Literatur leisten kann. Keine
History-Doku kriegt diese Verdichtung hin, wie sie die Autorin mit Hilfe
dieses fantastischen Elements erreicht. Sicher wird es Leser*innen
geben, die spätestens bei den weißen Hirschen mit dem goldenen Pfeil im
Rücken das Gefühl haben, mit der Autorin sei die Phantasie doch etwas zu
heftig durchgegangen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Einer Legende
zufolge verwandeln sich die Pferde, die die Donkosaken so berühmt machten,
nach ihrem Tod in weiße Hirsche. Aleksandras Familienmitglieder sind
Nachfahren von Donkosaken.
Es sind aber nicht nur reitende Helden und Unschuldige unter den Opfern.
Lisa Weeda erzählt auch von Anhängern der Nazis und der Stalinisten. Von
Verrätern, Opportunisten, Nationalisten. Von Sturen, Naiven,
Abergläubischen und Korrupten. Von Bauern und Geschäftsleuten und von
Frauen mit zehn Mal mehr Arsch in der Hose als alle Männer im Haushalt
zusammen. Es sind die Geschichten der gewöhnlichen Menschen, die von den
großen Mächten zerrissen werden. Die nicht in Geschichtsbüchern stehen.
## MH17 kommt nicht vor
Nicht in Lisa Weedas Roman ist [4][der Abschuss des Passagierflugzeugs
MH17] über der Ukraine, in dem 196 Niederländer starben. „Ich kannte
niemanden persönlich, der dabei gestorben ist“, rechtfertigt sie im
Gespräch zunächst die Auslassung dieser Geschichte. Aber präzisiert dann:
„Es war mir wichtig, die Aufmerksamkeit nicht schon wieder dem Westen zu
schenken. Ich wollte einen Roman schreiben, der sich auf den Osten
konzentriert.“ Auch deshalb, auch als Kritik der westeuropäischen Ignoranz,
nehmen Stalinisierung und Russifizierung der Ukraine viel größeren Platz
ein als die Zeit des NS und damit die Geschichte der titelgebenden Oma
Aleksandra. Dass Lisa Weeda in Westeuropa geboren ist und nicht in Luhansk
wie ihre Großmutter, liegt daran, dass diese 1942 von den Nazis nach
Griesheim, in ein Werk der IG Farben, deportiert wurde, wo sie
zwangsarbeiten musste.
Nach dem Krieg wanderte Aleksandra mit einem Niederländer, den sie in
Griesheim kennen und lieben gelernt hatte, in dessen Heimat aus, wo sie bis
heute, inzwischen 98 Jahre alt, lebt. Erst 2013 beginnt die damals
87-Jährige ihrer Enkelin von ihrer Deportation und ihrer Zeit als
„Ostarbeiterin“ zu erzählen. Die wiederum beginnt zu recherchieren. „Die
ganze Sache hatte auch sehr absurde Züge“, erzählt Weeda. „Meine ganze
Familie jubelte gemeinsam mit mir, als ich den Deportationsbescheid
gefunden habe. Als hätte ich eine Trophäe gewonnen“. Seitdem hat Lisa Weeda
immer wieder die Ukraine besucht, Interviews mit Angehörigen geführt,
kollaboriert mit einer Künstlergruppe im Donbass, erstellt Texte,
Computerspiele und interaktive Installationen über die Ukraine.
Aus Angst, in der Ukraine als Kollaborateurin angeklagt zu werden, kehrte
Aleksandra jahrelang nicht dorthin zurück. Vielleicht aber auch in der
Ahnung, dort nie Frieden finden zu können. „Man kann nicht immerzu nur
Abschied nehmen, man muss auch weitergehen können“, entschuldigt sich
Aleksandra im Roman. Vielleicht ist das der Schlüsselsatz von Lisa Weedas
Erzählung. Aleksandra hat die Entscheidung getroffen, ihrer Heimat den
Rücken zu kehren. Sie hat gemacht, was die meisten Westeuropäer machen:
Wegschauen. Der Preis für sie war ungleich höher. Ihren Vater hat
Aleksandra nie wieder gesehen. Westeuropa aber hat bis vor Kurzem nie genau
hingesehen.
24 Feb 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
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