# taz.de -- Leipziger Buchmesse beginnt: Mit der Krise tanzen | |
> Die Leipziger Buchmesse besteht aus mehreren Klimazonen. Und man erfährt | |
> Neues aus Ungarn und vom Schreiben im Angesicht des Krieges. | |
Bild: In den Messehallen wechseln die Klimazonen. Vereinzelt trifft man sogar a… | |
Von einer Klimazone in die nächste: Die Temperaturen schwanken ein wenig | |
je nach Gebäudeteil, in den man von der gewächshausähnlichen Glashalle der | |
Messe Leipzig aus einbiegt. Am wärmsten ist es bei den Mangafans, die sich | |
bunt (oder knapp) bekleidet über Comics informieren. | |
Doch in Wallung gerieten auch einige nicht kostümierte | |
Messebesucher:innen. [1][Nach Bundeskanzler Scholz] sah sich auch | |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag mit | |
propalästinensischen Protestrufen konfrontiert. | |
Mehrfach musste der SPD-Politiker seine Rede unterbrechen, bis alle | |
Aktivisten aus dem Saal geführt worden waren. Weitere Störungen sind nicht | |
ausgeschlossen. Ein paar Formate zu Israel und dem Krieg in Nahost stehen | |
noch auf dem Programm. | |
Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse wurde in der Kategorie | |
Belletristik [2][Barbi Marković mit „Minihorror“], Kurzgeschichten über | |
Arbeits- und Beziehungsalltag. Zum besten Sachbuch gekürt wurde Tom Holerts | |
„‚ca. 1972‘. Gewalt – Umwelt – Identität – Methode“ über das Ja… | |
Kontext der revolutionären Euphorie von 1968. | |
## Die Leichen des Kriegs | |
Revolutionen, Kriege und Krisen spiegeln sich auf der Buchmesse durchaus | |
wider. Die Ukraine hat wie im vergangenen Jahr einen eigenen Stand, Thema | |
ist der Krieg aber auch im Kontext der Niederlande, die zusammen mit | |
Flandern in diesem Jahr eher harmloses Gastland der Messe sind – sieht man | |
einmal vom Erstarken der Rechten im königlichen Flachland ab. | |
[3][Die niederländische Autorin Lisa Weeda] schreibt in ihrem Roman „Tanz, | |
tanz, Revolution“ zwar nie explizit von der Ukraine, doch Besulia, das | |
Land, das von seinem nördlichen Nachbarn angegriffen wurde, ist leicht mit | |
ihr zu verwechseln. Die zahlreichen Leichen, die der Krieg tagtäglich | |
produziert und die wie von Zauberhand in den Wohnungen der Menschen in | |
einem anderen, vom Krieg verschont bleibenden Landes auftauchen, können im | |
Roman, den Weeda in Leipzig bei einer Diskussionsrunde vorstellt, frei nach | |
Pina Bausch wieder lebendig getanzt werden. | |
Eine Frage paust sich durch ihre schnörkellose, auf Effizienz getrimmte | |
Sprache: Was passiert, wenn wir mit unserem Körper für Leid und Leiche | |
verantwortlich gemacht werden? | |
Weeda ist in den Niederlanden geboren, ihre Vorfahren stammen aus der | |
Ukraine. Dmitrij Kapitelman, der auf der Bühne in der Schaubühne Lindenfels | |
neben Weeda sitzt, kam in Kyjiw zur Welt und mit acht Jahren nach | |
Deutschland. In seinem Roman [4][„Eine Formalie in Kiew“] erzählt er vom | |
bürokratischen Hindernislauf, der nötig wird, um einen deutschen Pass zu | |
erhalten. Die Struktur des Einwanderungsprozesses sei so gestaltet, dass | |
möglichst viele Menschen aufgeben, bilanziert Kapitelman. | |
## Epoche des „Trans“ | |
Die Schaubühne Lindenfels ist einer von zahlreichen Außenposten der | |
Leipziger Buchmesse. Auf dem Messegelände selbst drängen sich unterdessen | |
die Besucher:innen. Im Zelt des Gastlands wird es ganz besonders eng, als | |
die niederländische Autorin Connie Palmen auftritt. Ihr neuer Essayband | |
„Vor allem Frauen“ kreist um weibliches Künstlertum. Dabei leitet Palmen | |
auch Diagnosen über die Zeit ab. | |
„Wir leben in der Epoche des ‚Trans‘ “, sagt Palmen, die wie so viele i… | |
niederländischen Schriftstellerkolleg:innen wie selbstverständlich | |
Deutsch spricht. Niemand müsse in seiner Stadt oder seinem Geschlecht | |
wohnen bleiben. Deswegen seien die Menschen heute so verunsichert, meint | |
sie. „Es gibt kein Schicksal mehr.“ | |
Um Gegenwart in Literatur zu übersetzen, suchen einige Autor:innen | |
momentan ihr Heil in der Übertreibung. So enthält „Der Fluch des Hasen“ v… | |
Bora Chung, dessen Übersetzerin Ki-Hyang Lee in Leipzig ausgezeichnet | |
wurde, Geschichten, die sich zwischen Märchen, Horror und Fantastik | |
bewegen. | |
## Junge ungarische Literatur | |
Surreal packt auch Panni Puskás das Leben im populistischen Ungarn in | |
zynische Prosa, erzählt von nackten, marodierenden Kindern und seltsamen | |
Ureinwohner:innen. Es tut gut, von junger ungarischer Literatur zu hören, | |
hallen die alten Großmeister wie Nádas, [5][Kertész,] [6][Esterházy] doch | |
immer noch so laut nach, dass Neueres hierzulande kaum vernehmbar ist. | |
Wie die Übersetzerin Christine Schlosser auf der Messe erzählt, hat der | |
Berliner Übersetzer:innenkreis für ungarische Literatur daher | |
eigenständig junge Literatur aus Ungarn für den Sammelband „Anscheinend | |
gehört die Welt uns?“ ins Deutsche übertragen. Von Verlagen wünscht sie | |
sich mehr Mut zum Risiko, auch Unbekanntes aus dem Land des Zauberwürfels | |
für deutsche Leser:innen zugänglich zu machen. | |
Das ist unbedingt geboten, denn von den Ungar:innen lässt sich lernen: | |
Davon zu lesen, wie es sich im Populismus lebt, besitzt traurige | |
Aktualität. Auch in Deutschland. Gerade in Sachsen. | |
22 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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