# taz.de -- So war die Leipziger Buchmesse: Die Leser*innen-Aufladung | |
> Das Motto der Leipziger Buchmesse war arg defensiv, die Eröffnung | |
> fragwürdig. Doch zum Glück fiel die Messe selbst um einiges lebendiger | |
> aus. | |
Bild: Mit vorwitzigem Accent aigu: Stand des Katapult-Verlags in Leipzig | |
Das war eine einerseits schöne, andererseits zwiespältige Leipziger | |
Buchmesse, so, als ob sie zwei Gesichter hatte. Sobald man sich in den | |
Messehallen herumtrieb und zwischen den Besuchermassen durchdrückte, war | |
vieles gut. Es gab interessante Gespräche, zufriedene Gesichter. | |
Doch man hatte dann auch über die offiziellen Claims und Statements zu | |
sprechen, die seltsam leer und fragwürdig waren, wie verrutscht. Der Wille, | |
dem Buch und dem Lesen zu helfen, gerade in den derzeit ja nicht gerade | |
leichten Zeiten, war fühlbar, doch er gebar ziemlich viele hohle Floskeln. | |
Mit dem Motto der Messe fing das an. Es begrüßte einen von Plakatwänden, | |
als man aus dem Zug stieg, und verfolgte einen auf ausgelegten Flyern bis | |
ins Hotelzimmer. „Who’s still reading“, lautete es – wer liest noch? | |
Das vermittelte etwas arg Defensives, als würde man sich als Leserin und | |
Leser von vornherein auf einem untergehenden Schiff befinden. Und zugleich | |
schwang etwas Selbstbeweihräucherndes mit, à la inmitten dieser Welt voller | |
Unvernunft sind wir – wer immer dieses Wir sein mag – noch die Guten. | |
Positive Identifizierung sieht anders aus. | |
Überhaupt waren die offiziellen Zeichen rund um diese Messe wenig | |
vertrauenerweckend. Die Moderation der feierlichen Eröffnung im Leipziger | |
Gewandhaus geriet arg inhaltsfern. Und Astrid Böhmisch, die seit Anfang | |
dieses Jahres amtierende neue Messedirektorin, beschränkte sich bei ihrer | |
Begrüßungsrede zum Leipziger Buchpreis, bei der sie auch ein inhaltliches | |
Zeichen hätte setzen können und wahrscheinlich auch sollen, auf einige | |
Conférencier-Sätze. | |
## Die Demokratie-Pappen | |
Das Standing, das sich ihr Vorgänger Oliver Zille in Jahrzehnten erarbeitet | |
hat, kann Astrid Böhmisch noch nicht haben, aber zu ihrem Job gehört es | |
eben auch, die Wichtigkeit von Inhalten innerhalb der Marketingmaschine | |
Buchmesse hochzuhalten. Den Beweis, dass sie dazu die richtige Wahl war, | |
muss sie auch nach dieser Buchmesse erst noch erbringen. | |
Und dann war da noch die Sache mit diesen Demokratie-Pappen. Ein Publikum, | |
das Pappschilder in verschiedenen Farben hochhält, auf denen „Demokratie | |
wählen. Jetzt.“ steht, das sollte offenbar Geschlossenheit demonstrieren | |
und als kraftvolles Zeichen von dieser Messe aus in die Welt gesendet | |
werden. Aber das ist natürlich ein ziemlich profundes Missverständnis. | |
Demokratie wird dadurch zum bloßen Slogan degradiert, Vielfalt zur bloßen | |
Buntheit, und damit erweist man beiden keineswegs einen Gefallen. | |
[1][Der Soziologe Armin Nassehi] fand im Interview mit der Berliner Zeitung | |
passende Worte dazu, er sprach von „ausgestellter Tugendhaftigkeit“, die | |
„einen starken Eindruck von Selbstgerechtigkeit erzeugt“, außerdem von | |
Gratismut. Tatsächlich muss sich eine Demokratie gerade im Streit und in | |
der Selbstreflexion erweisen, nicht in einer solchen | |
Friede-Freude-Eierkuchen-Gemeinschaft. Bitte so etwas im nächsten Jahr | |
nicht noch einmal wiederholen! | |
## Stars wie Didier Eribon | |
Doch zum Glück sendete diese Messe eben auch ganz andere Zeichen. Wenn man | |
durch die Gänge und Hallen streifte, waren die Fragwürdigkeiten der | |
offiziellen Rahmung eh schnell vergessen. Das Lesepublikum war zahlreich da | |
– die offiziellen Pressemitteilungen der Messe verkündeten starke Zuwächse | |
gegenüber dem vergangenen Jahr –, und es war neugierig. | |
Besucherinnen, die ein Buch erst skeptisch aus einem Regal nahmen und sich | |
festlasen; eine Menschentraube, die bei einer Lesung immer größer wurde, | |
weil immer mehr Menschen stehenblieben; die Art und Weise, wie sich | |
Menschen in die Seite stupsten, weil sie [2][Didier Eribon] oder ein | |
Mitglied der Prinzen an einem Verlagsstand entdeckt hatten; die | |
enttäuschten Gesichter der Umstehenden, als eine Veranstaltung zum 100. | |
Todestag von [3][Franz Kafka] „aus persönlichen Gründen“ leider abgesagt | |
werden musste (und dann aber auch die Freude von drei Schülerinnen, die von | |
ihrem Deutschlehrer offenbar zu diesem Termin verdonnert worden waren) – | |
beim Vorbeischlendern waren im Fünfminutentakt Szenen zu erleben, für deren | |
differenzierte Beschreibung Marcel Proust jeweils ein Dutzend Seiten | |
gebraucht hätte. | |
Leipzig, das ist eben tatsächlich eine Leser*innenmesse. Und | |
Verleger*innen berichteten einem auch gleichzeitig oft beglückt von | |
guten Verkäufen. Eine Verlegerin steckte einem, sie habe am ersten Messetag | |
in Leipzig so viele Exemplare verkauft wie im vergangenen Herbst bei der | |
Frankfurter Buchmesse insgesamt. Ein Verleger erzählte, dass er gerade in | |
Leipzig sehr gut sehen könne, welche Bücher das Publikum tatsächlich | |
interessieren würden, allein dadurch, welche Bände aus den Regalen | |
herausgenommen und angesehen würden. | |
Natürlich, das sind vielleicht Einzelbeobachtungen, aber zu berichten ist | |
insgesamt durchaus von einem Eindruck, dass das Lesen – manchen Unkenrufen | |
zum Trotz – in dieser Gesellschaft weiterhin auf reges Interesse stößt. Der | |
Literaturbetrieb konnte sich in Leipzig nach den schwierigen Coronajahren | |
geradezu wieder mit sinnstiftendem Leser*inneninteresse aufladen. | |
## Interesse am Ukraine-Stand | |
Das eine große Thema dieser Messe ließ sich dabei eher nicht finden. Der | |
Eindruck war aber, dass Veranstaltungen, in denen es um Ostidentität, | |
Kapitalismuskritik und Rassismusaufarbeitung ging, fast wie von selbst ein | |
interessiertes Publikum generierten. Man darf den Wunsch nach ernsthafter | |
inhaltlicher Auseinandersetzung mit den gravierenden Themen der Gegenwart | |
jedenfalls nicht unterschätzen. Nur ein Indiz in dieser Sache: Die Studie | |
„Triggerpunkte“ von Steffen Mau, im Suhrkamp-Stand in zwei Reihen ganz | |
zentral positioniert, ist auf dem Weg, zu einem richtigen Bestseller zu | |
werden. | |
Jedenfalls waren keinesfalls nur die Fantasy- oder Romance-Stände belagert, | |
der Stand von Correctiv, der mit dem Katapult-Verlag und dem Stand der | |
Volksverpetzer ein gemütliches Politikcluster bildete, war es auch. Sehr | |
hübsch war dabei der lustige Accent aigu bei dem Schriftzug „AfD Kacké“, | |
der oben über dem Katapult-Stand prangte – es sind solche Details, die | |
einen Unterschied zwischen bloß derber Meinungsbekundung und kunstvoller | |
Intervention ausmachen. | |
Und vor dem Ukraine-Stand bildete sich immer dann eine interessiert | |
zuhörende Menschenmenge, wenn ukrainische Autor*innen von ihren | |
gegenwärtigen Erfahrungen und Gemütszuständen berichteten. Eine Mischung | |
aus existenzieller Betroffenheit durch den russischen Angriffskrieg und | |
aber auch Dankbarkeit für jede europäische Unterstützung kam dabei gut | |
rüber. | |
Auch so etwas gehört zu einer Messe: Man wandert durch die vielfältigen | |
Krisen der Gegenwart und kann sich dann jedenfalls für den Moment am | |
Eindruck festhalten, dass man mit seiner Ratlosigkeit angesichts dessen | |
nicht allein ist. | |
Es ist sicher nicht leicht, für so eine Mischung aus echtem Interesse und | |
bloßer Neugier, Business und Debattenkultur, Promi-Begegnung und | |
Literaturbegeisterung passende Slogans zu finden. Festzuhalten ist aber | |
schon erst mal, dass zu defensiven Untergangsszenarios von den vergangenen | |
Tagen aus kein Anlass besteht. Und dazu, Leipzig totzuschreiben, wie das | |
auch schon geschehen ist, auch nicht. | |
24 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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