# taz.de -- Wiederaufbau in der Ukraine: Beton allein reicht nicht | |
> Der Krieg zerstört Familienplanung, Erinnerungskultur und Gesellschaft. | |
> Das Nachdenken über den Wiederaufbau ist letztlich Verteidigungspolitik. | |
Bild: Von einer russischen Rakete zerstörtes Gebäude in der Stadt Dnipro im J… | |
Kann es vermessen sein, über Wiederaufbau nachzudenken? Wenn der Krieg, | |
dessen Ende allzu oft allzu bald vorhergesagt wurde, nun ein Jahr dauert. | |
Wenn kein Ende in Sicht ist, weil da jemand beschlossen hat, [1][dass es | |
kein Ende geben darf]. Wenn die Hoffnung allzu oft zu vorvorletzt gestorben | |
ist. Oder sich, so sie noch lebt, anfühlt wie naives Rumgewünsche? | |
Andererseits muss man über alles, was die Zukunft mehrerer Generationen | |
betrifft, immer genau jetzt anfangen nachzudenken. Und wenn es um den | |
Wiederaufbau der Ukraine geht, geht es nicht nur um Beton. Es geht um so | |
vieles, was eine funktionierende Gesellschaft ausmacht. | |
Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Krieg führt zu einem Zukunftsproblem, | |
weil er die Bevölkerung aus der Balance bringt. Menschen sterben, Menschen | |
fliehen, Menschen hören auf, Familien zu gründen. Die Ukraine hatte bereits | |
eine bedrohlich niedrige Geburtenrate, ehe der Krieg begann. Studien | |
[2][finden dafür mehrere systemische Gründe]: Eine lange Wirtschaftskrise | |
und große politische Unsicherheit nach dem Systemwechsel 1990, | |
Doppelbelastung von Frauen, der Krieg im Donbass seit 2014. | |
Der landesweite Krieg seit einem Jahr verschärft die Lage massiv. Selbst in | |
einem Universum, in dem er morgen vorbei wäre und alle dreizehneinhalb | |
Millionen ins Ausland und innerhalb des Landes Geflüchteten sofort dahin | |
zurückkehrten, wo sie Anfang 2020 waren, würde in der jungen und mittleren | |
Generation eine riesige Lücke bleiben. | |
## Erinnerungen gelöscht | |
Das zerstört Versorgungsnetzwerke in Familien und Gemeinden, es zerstört | |
das Geben und Nehmen zwischen den Generationen, das so viele wichtige | |
alltägliche Kleinigkeiten am Laufen hält. Es lässt den Fluss von | |
Geschichten versiegen, [3][löscht Erinnerungen, die mündlich überliefert | |
wurden], hinterlässt weiße Flecken im kollektiven Bewusstsein. Kurzum, es | |
macht dieses atmende, flirrende, pulsierende Ding kaputt, das wir | |
Gesellschaft nennen. | |
Damit das Ding wieder lebt, muss natürlich der Krieg enden und natürlich | |
auch Beton her. Aber damit ist es nicht getan. „Für den Krieg mit Russland | |
gibt es eine einfache Lösung“, hat der ukrainischer Analyst Yevhen | |
Hlibovytsky diese Woche provokant dem Sender NPR gesagt, „man muss die | |
feindliche Armee besiegen. Das demografische Problem ist viel | |
komplizierter.“ | |
Darauf zu setzen, dass es nach Kriegen ja häufig einen Familienboom gibt, | |
ist übrigens tatsächlich naives Rumgespiele. Das funktioniert nämlich | |
erstens nur dann, wenn es noch genug potenzielle Eltern gibt. Und zweitens, | |
wenn es eine Perspektive gibt, auf Sicherheit, auf relativen Wohlstand, auf | |
ein Land, in dem man Kinder aufziehen will. Eine solche Perspektive baumelt | |
den Ukrainer*innen in Form der EU seit Jahrzehnten unerreichbar vor der | |
Nase herum. Wenn es stimmt, dass der russische Krieg das Ziel hat, die | |
Ukraine verschwinden zu lassen – dann ist das Nachdenken über einen | |
Wiederaufbau letztlich Verteidigungspolitik. | |
24 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Putins-Rede-zur-Lage-der-Nation/!5914130 | |
[2] https://www.npr.org/2023/02/22/1155943055/ukraine-low-birth-rate-russia-war | |
[3] /Geschichten-von-Grossmuettern/!5902922 | |
## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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