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# taz.de -- Die Wahrheit: Putins Phantomschmerz
> Geschichte ist ein scharfes Schwert und hat schon für so manch
> schmerzhafte Amputation gesorgt. Erkundungen im Randmilieu raunender
> Heimatfrontkrieger.
Bild: Wladimir Putin hält seine jährliche Rede zur Lage der Nation am 21. Feb…
Im Westberlin der achtziger Jahre gab es einige stadtbekannte Originale. Zu
diesen schrägen Vögeln gehörte auch eine einbeinige Bordsteinschwalbe, die
jeden Abend auf einem Stromkasten in der Potsdamer Straße saß. Dem
Augenschein nach war die Hure mit dem Stumpf gut im Geschäft. Apropos Strom
und Strich, Amputierte und historische Rückblicke: Vor einem Jahr begann
Wladimir Putin seinen Krieg in der Ukraine. Der Hauptgrund für die
„militärische Spezialoperation“ ist, wie Historiker dem russischen Führer
immer wieder bescheinigen, ein „Phantomschmerz“ Putins: Den Verlust des
Sowjetimperiums habe der neue Zar im Kreml nie verwunden.
Geschichte ist ein scharfes Schwert und hat schon für so manche
schmerzhafte Amputation gesorgt – wie derzeit nicht nur auf dem
Schlachtfeld in der Ukraine, sondern auch mit den bekannten Einschnitten im
Energiesektor, nach denen Russland seine gasigen und öligen Innereien jetzt
an anderen Ecken der Welt verkaufen muss. Wobei den Kriegsverbrecher Putin
mit einer behinderten Hure zu vergleichen, dem ehrenwerten Beruf der
Prostituierten nicht gerecht wird.
Vor einem Jahr war die Welt noch in Ordnung, der Krieg trieb sein grausames
Unwesen in Syrien und anderswo weit weg von Europa. Den Donbass hielten die
meisten Deutschen für einen Vorsänger im Kosakenchor. Die Wahrheit war noch
das erste Opfer des Krieges, wie die medialen Binsenritter nicht müde
wurden zu betonen, während sich bereits die ersten Leichen in Butscha
stapelten. Heute kann jedes Kind die Namen Charkiw und Cherson
heruntersingen. Und die Millionen Flüchtlinge sind keine „westasiatischen
Messermänner“ mehr, sondern Frauen und Kinder aus der Ukraine, die vom
sauertöpfischen CDU-Boss Friedrich Merz dennoch nach Art des Abschaums für
Deutschland (AfD) als „Sozialtouristen“ geschmäht wurden.
Im zurückliegenden Kriegsjahr haben sich einige Politiker zu üblen
Kampfdrohnen entwickelt. Wer aber richtig schlechte Laune bekommen wollte,
der musste tiefer eindringen in das Randmilieu der raunenden
Heimatfrontkrieger. Von der Peripherie sieht man das Zentrum am besten, an
den Dienern erkennt man den Herrn.
Unter Putins Lakaien, den köppelnden Elsässern, stach einer besonders
hervor: Mathias Bröckers. Der ehemalige taz-Redakteur, „Wahrheit“-Gründer
und gelernte Verschwörungsfabulierer hat sich nach seinem ersten großen
Lebensthema, dem Elftenseptember, nun auf seinem Blog „Question Authority“
vollkommen dem Putinismus verschrieben. Mittlerweile ist der glühende
Putinist von Kreuzberg nach Zürich gewechselt, wo er sich für einen aus dem
Exil mahnenden und warnenden neuen Thomas Mann hält, während er tatsächlich
nur ein Horst Mahler auf links ist.
## Putins historische Pein lindern
In der Westberliner Schimpfsprache der achtziger Jahre feiert Bröckers mit
girlandenartigen Endsiegsätzen Kriegswoche für -woche seinen Herrn und
Meister im Kreml und dessen „hypersonische Waffen“, die angeblich die von
den bösen Amerikanern beherrschte Weltordnung verändern. Und allein die
liebevolle Herzlichkeit, mit der Bröckers die todbringenden
Hyperschallraketen umschreibt, ruft bei vernünftigen Beobachtern eine
Gänsehaut hervor. Dabei ist die militärische Ahnungslosigkeit des einstigen
Kreuzberger Oberkiffers atemberaubend, seine Fehleinschätzungen sind
Legion, besonders obszön ist jedoch seine Tätersprache.
Schlechte Autoren verlieben sich in Worte, die sie für sich entdeckt haben
und die sie Seite um Seite wiederholen. Wenn, um nur ein Beispiel zu
nennen, zum hundertsten Mal „der Westen“ als „Natostan“ bezeichnet wird,
dann ist das nicht das letzte ästhetische Verbrechen, es gibt durchaus
Steigerungsformen: die Interpunktion. Bröckers schießt Satzzeichen mit der
Kalaschnikow in seine Texte und scheißt auf alle menschlichen Gesetze, im
vernebelten Bewusstsein, ein politischer und sprachlicher Desperado sein zu
wollen. Wer aber brutal Kommas ausradiert, wird irgendwann auch Menschen
vernichten.
Wie aber soll jemand, der nicht einmal die grundlegenden Regeln seines
eigenen Metiers beherrscht, einem die Welt erklären können? Warum liest man
dann überhaupt in diese Abgründe hinein? Um auf die Scheinargumente des
Whataboutisten antworten zu können? Gegen Glaubensbekenntnisse helfen keine
Argumente. Trotzdem hat Bröckers’ für Putinisten typische
Erweckungsliteratur eine kathartische Wirkung. An ihr lässt sich absehen,
was man als Journalist im Alter niemals werden möchte: ein skrupelloser
Wortverbrecher in Gestalt eines renitenten Rentners.
Zurück zum Führer selbst und seiner Prothese, die weniger eine
geschichtliche Geh- als eine Gärhilfe ist. Putin fehlt bei seinem
Phantomschmerz eine in der russischen Schamanenmedizin gern genutzte
sogenannte Antischmerzbrücke. Bei Nervenschmerzen am amputierten Glied wird
der Stumpf mit Alufolie umwickelt. Ausgerechnet Alufolie, die ja
Verschwörungsanhänger stets als Allheilmittel aus dem Aluhut ziehen!
Wäre das nicht eine wundervolle Methode, um Wladimir Putins historische
Pein zu lindern? Den ganzen größenwahnsinnigen Mann einfach in Folie
einwickeln, bis der Schmerz nachlässt! Also am besten eine Ewigkeit lang.
Und wenn Russland dann bei der Entputinisierung einen stechenden
Phantomschmerz spüren sollte, weil es seinen Führer vermisst, wird eben das
gesamte russische Volk es fühlen müssen: Über sieben Schmerzbrücken musst
du geh’n, sieben dunkle Jahre übersteh’n. Bis es langsam, langsam, aber
sicher endlich aufhört.
24 Feb 2023
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Ukraine
Wladimir Putin
Sprache
Bild-Zeitung
Kneipe
Märchen
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Kolumne Unisex
Wladimir Putin
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