Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Toter Hund nicht totzukriegen
> Eine der beliebtesten urbanen Legenden aller Zeiten ist wieder einmal
> aufgetaucht. Mit allen gängigen Zutaten: Tier, Luxus und Tod.
Bild: Schaut so unschuldig, kann aber auch nichts dafür, dass er immer wieder …
Ein gewöhnlicher Morgen im März. Keine besonderen Vorkommnisse. Bis zu dem
Zeitpunkt, als ein junger Nachwuchsautor, dessen Name wir an dieser Stelle
besser verschweigen, damit ihm nicht schon zu Beginn seiner Laufbahn der
Makel des Reinfalls anhaftet, eine Elektropost an die Wahrheit schickt.
Er habe da, schreibt das Greenhorn, eine auf einer wahren Begebenheit
basierende Geschichte, die ihm über einen Bekannten zugetragen wurde. Die
Story in drei Sätzen: Eine Frau sei mit ihrem Hund zum Shopping auf dem
Neuen Wall in Hamburg unterwegs gewesen, als der Dackel tot umgefallen sei.
Daraufhin sei sie in den Gucci Store gelaufen und habe sich eine Tüte geben
lassen, um das tote Tier heimbringen zu können. In der S-Bahn aber sei die
Tasche mit dem toten Hund gestohlen worden.
Da war sie wieder: Die „Toter Hund in Tüte“-Geschichte. Diesmal also
Hamburg. Wann war sie eigentlich das letzte Mal im weiten Reich der Fabeln
unterwegs? Fast genau vor einem Jahr. Am 1. März 2022 schickte eine
PR-Tante für den Luchterhand Verlag eine Pressemitteilung mit dem Titel:
„Ein toter Hund in einer Louis-Vuitton-Tasche.“ Werbung für das neue Buch
des österreichischen Schriftstellers Daniel Wisser „Die erfundene Frau“:
„Der Band besteht aus zweiundzwanzig Erzählungen, ist allerdings keine lose
Sammlung verstreuter Texte, sondern ein Konzeptband. Jede Erzählung trägt
als Titel einen weiblichen Vornamen“, heißt es.
Also schnell in die Erzählung „Frau Ilse“ hineingelesen, auf die sich die
Reklametante in der Schlagzeile bezieht: „Frau Ilse“ nimmt ihren
„Schoßhund, ein reinrassiger Malteser“, mit zum Einkaufen in die
„Habsburgergasse“. Diesmal befinden wir uns also in Wien. Und dort betritt
„Frau Ilse“ das „Louis Vuitton“, wo ihr Hund „Pacer“ verstirbt. Feh…
die „Papiertragetasche“ mit dem Aufdruck der Luxusmarke, um den Leichnam
abzutransportieren. Leider lässt „Frau Ilse“ die Tüte im Wiener
Spitzenlokal „Schwarzes Kameel“ mit Doppel-e liegen. Soweit die eher steife
Nacherzählung des bekannten Stoffs.
## Peinliche Buchwerbung
Doch was ist das für ein Schriftsteller, der eine vertrocknete Mär
wiederkäut? Und wo war der Lektor des Verlags, der die Stoffwahl des Autors
nicht verhinderte? Wir sind ja hier nicht bei Goethe und „Faust“. Und
prompt wird eben das „Toter Hund“-Stück, weil es das auffälligste ist, zur
peinlichen Buchwerbung verwendet. Das ist ja ein doller „Konzeptband“.
Aber werfe der den ersten Hund … ja, die Wahrheit ist auch schon auf die
urbane Legende hereingefallen. Denn darum handelt es sich: Der „Tote Hund“
ist eine „Spinne in der Yucca-Palme“. Nach dem berühmten Buch von Rolf
Brednich. Darin sammelte der deutsche Erzählforscher 1990 moderne Mythen,
die verwandt sind mit traditionellen Ammenmärchen.
Als skurrile Anekdote wird ein fiktives groteskes Ereignis mündlich oder
über soziale Medien weitergetragen. „In seltenen Fällen wird sie auch,
bedingt durch unzureichende Recherche, als Nachricht in Medien verbreitet
(Zeitungsente)“, bekundet Wikipedia, ohne den gar nicht seltenen Fall des
„Toten Hundes“, der nicht totzukriegen ist, zu erwähnen.
Am 10. Dezember 2013 leitete zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung ihre
Märchenversion mit einem schönen Satz ein: „Es gibt sie immer wieder, die
Geschichten von dummen Verbrechern …“ Von dummen Journalisten schweigen wir
erhaben, während die SZ den Protagonisten, der zur Abwechslung ein Mops
war, in der Münchner Residenzstraße tot umfallen lief. Jedenfalls war es
eine „Prada-Tüte“, die als Tiersarg und Diebesgut herhalten musste.
Die SZ-Schnurre nahm der Tagesspiegel am 23. Dezember 2013 zum Anlass, den
Vorgang zur „bizarrsten Zeitungsmeldung 2013“ zu erklären, aber auch gleich
zu durchschauen: „Der Plot taucht seit Jahren immer wieder auf.“
Verdienstvollerweise listete die „Reportageschule ‚Zeitenspiegel‘“, die…
Ganze „recherchiert und geschrieben“ hatte, ein paar der lustigsten Fälle
auf: „Ein Chow-Chow stirbt vor dem KaDeWe und wird in eine Tüte gepackt,
diese dann gemopst“; oder „In Speyer kollabiert ein Bernhardiner vor einem
Elektronikgeschäft, wird in einen Karton gelegt und im Auto verstaut, ein
Dieb stiehlt das Auto“; oder „In Düsseldorf stirbt ein Hund vor einer
Prada-Filiale, wird verpackt und gestohlen. Sein Name: Gucci.“ Womit wir
fast schon bei der Wahrheit und ihrer Märchenfassung wären. Zuvor
allerdings noch ein paar Worte zur Herkunft des animalischen Mythos.
Die Urquelle hat das amerikanische Onlinemagazin The Vice für seine Ausgabe
am 3. Februar 2020 gründlich recherchiert. Anlass war – na, was wohl? – der
wahrscheinlich Hundertste Aufguss der Hundestory, diesmal im „extremely
popular true crime podcast ‚My Favourite Murder‘“. Und natürlich war es
eine „true story“, die da aufgetischt wurde. Mit den üblichen Zutaten,
diesmal aber mit dem Handlungsort L.A. Seinen 19 Millionen Zuhörern habe
der Podcast die „Dead dog in a suitcase“-Legende präsentiert, ohne zu
ahnen, dass sie „at least 33 years old“ sei, wie Vice-Autor Issy Sampson
bemängelte.
## Dänische Dogge
Erstmals aufgetaucht sei die Hunde-Story 1987 im Revolverblatt New York
Post, wo die inzwischen selbst schon legendäre Klatschkolumnistin Cindy
Adams die Geschichte einer älteren Dame erzählte, der eine Dänische Dogge
von einem Dieb gestohlen wurde. Dicker auftragen kann man eigentlich nicht
mehr, aber die Anekdote landete 1989 in einem Artikel des amerikanischen
Mythenforschers Jan Harold Brunvand, der zu einer „Schlüsselfigur“ bei der
Verbreitung urbaner Legenden wurde, wie The Vice genüsslich anmerkte.
Eine Verbreitung, zu der auch die Wahrheit einst beigetragen hat, als am
25. Juli 2012 beim großen Sündenfall ein Wahrheit-Autor, dessen Namen wir
hier besser ebenfalls verschweigen, damit ihm nicht zum Ende seiner
Laufbahn der Makel des Reinfalls anhaftet, das Geschehen nach Düsseldorf
verlegte und einen „Pekinesen bei Prada“ das Zeitliche segnen ließ.
Schenken wir uns an dieser Stelle lieber die Selbstkasteiung und fassen
kurz die Funktion der Großstadtsagen zusammen, die – so die gängige Theorie
– der Bewältigung von tiefer liegenden gesellschaftlichen Konflikten und
Ängsten diene. Das Lachen über den grotesken Vorgang habe dabei eine
kathartische Wirkung. Womit, um im wissenschaftlichen Therapeutenjargon zu
bleiben, moderne Mythen, wie Wikipedia es ausdrückt, „strukturverwandt mit
Verschwörungstheorien“ sind und in Krisenzeiten Hochkonjunktur haben.
Weshalb die Wahrheit zuletzt zu Coronazeiten noch öfter als sonst
unverlangt mit, wie wir es inzwischen auch nennen, „Friseurgeschichten“
bombardiert wurde. Alle beruhten selbstverständlich auf einer wahren
Begebenheit, wurden durch Schwiegermütter oder ähnliche Instanzen bezeugt,
was allerdings die Sinne der sowieso schon überaus scharfsinnigen
Wahrheit-Redakteure erst recht schärfte. Schließlich gehört es zu ihren
Aufgaben, Wahres von Unwahrem zu trennen. Und tote Hunde von Mythen in
Tüten.
15 Mar 2023
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Märchen
Hund
Tod
Kolumne Die Wahrheit
Gedichte
Kneipe
Ukraine
Die Wahrheit
Lionel Messi
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Der nackte Arsch von Leipzig
Die Frühjahrsbuchmesse 2023 findet ein furioses Finale. Mit einem
gewaltigen Fleischberg von geradezu österreichischen Dimensionen im Abort.
Die Wahrheit: Der Preis ist scheiß
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die
Leserschaft an einem Poem über einen lyrischen Kritikerkritiker erfreuen.
Die Wahrheit: Mao und Frau Pieper
In der legendären Berliner Absturzkneipe „Ruine“ war das Spülwasser ranzig
und niemand der Gäste bei Trost. Aber eine alte Dame fegte den ganzen Tag.
Die Wahrheit: Putins Phantomschmerz
Geschichte ist ein scharfes Schwert und hat schon für so manch schmerzhafte
Amputation gesorgt. Erkundungen im Randmilieu raunender Heimatfrontkrieger.
Die Wahrheit: Die Erfinder des Pontifex
Der Papst und die gestohlenen Anekdoten. Ein wahrer Nachruf der ganz
besonderen Art auf Benedikt XVI. selig.
Die Wahrheit: Breaking News: Messi wird Papst
Franziskus tritt zurück +++ Vatikan im Chaos +++ Argentinien am Abgrund +++
Infantino heilig gesprochen +++ Weltlage verschärft sich +++
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.