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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Erfinder des Pontifex
> Der Papst und die gestohlenen Anekdoten. Ein wahrer Nachruf der ganz
> besonderen Art auf Benedikt XVI. selig.
Bild: Äußerst seliger „Mitarbeiter der Wahrheit“: Benedikt XVI
Der folgende Text ist eine Kombination zweier Kolumnen, die im Jahr 2007
erstmals erschienen sind und aus gegebenem Anlass bearbeitet und leicht
gekürzt wurden, um den „Mitarbeiter der Wahrheit“, wie sich Papst Benedikt
XVI. selbst nannte, ein allerletztes Mal zu würdigen.
Es gibt eine gute Tradition in der Wahrheit: Wenn ein neuer Staats- oder
Regierungschef ins Amt eingeführt wird, erscheinen auf der Wahrheit-Seite
Anekdoten über diese Berühmtheit. Die Anekdote ist eine wunderbar
verschnarchte Form der Komik, die im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit
erlebte. In einer Anekdote wird eine unbekannte Begebenheit rund um eine
historische Persönlichkeit pointenreich erzählt. Selbstverständlich sind
die Wahrheit-Anekdoten alle erfunden. Sie sollen immer auch eine Parodie
auf die Anekdote an sich sein mit ihrem salbungsvollen Schmunzeltonfall und
der oft einfältigen Froschperspektive des Erzählers.
Als im Jahr 2005 Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt wurde,
veröffentlichten wir „[1][die schönsten Anekdoten über den sympathischen
Mützenträger]“. Die 14 Geschichten wurden von Carola Rönneburg, Corinna
Stegemann und Michael Ringel geschrieben. Sämtliche Texte waren komplett
erdichtet: dass der Papst nachts heimlich Hanutas isst; dass seine
Lieblingsfernsehsendung „Drei Engel für Charlie“ ist; oder dass er als
Student gern scherzhaft rief: „Habemus Kartoffelmus.“
Kurz darauf veröffentlichte das Boulevardblatt Berliner Kurier eine
Doppelseite unter dem Titel: „Schoko-Waffeln, Weizenbier – Drei Engel für
Charlie“. Die leichtgläubigen Boulevardisten hatten einfach unsere
Anekdoten als wahr abgeschrieben, woraufhin wir den Kurier zur „Gurke des
Tages“ erklärten. Wie uns später aus Kollegenkreisen zugetragen wurde,
bekamen die verantwortlichen Redakteure einen mächtigen Rüffel von oben.
## Höchst dreiste Wegelagerer
Das sollte potenziellen Abschreibern eigentlich Warnung genug sein. Doch
die Wegelagerer wurden immer dreister. Eines Tages fiel uns ein im
Saarbrücker VDM Verlag erschienenes Buch in die Hände: „Worüber der Papst
lacht. Anekdoten, Aperçus und Allerlei über Benedikt XVI.“ Wer heutzutage
noch ein ernst gemeintes Anekdotenbuch über den Papst veröffentlicht, der
muss schon eine gehörige Portion Schnarchsäckigkeit besitzen.
Kein Wunder, dass es sich bei den Herausgebern um zwei Adelige handelte:
Maximilian Graf von Dürckheim und Esther von Krosigk. Beworben wurde das
Buch mit der Frage: „Wussten Sie, dass der Heilige Vater während besonders
stressiger Arbeitsphasen nachts heimlich ‚Hanuta‘ aß … oder dass er als
junger Student in der Mensa rief: ‚Habemus Kartoffelmus‘?“ Ja, das wussten
wir. Denn das haben wir uns schließlich selbst ausgedacht.
Das 80-Seiten-Buch enthält 81 Anekdoten. Elf sind von der Wahrheit
übernommen. Ohne Nachfrage, ohne Quellenangabe, ohne Nachdruckgenehmigung.
Manche wurden schlecht umgeschrieben, manche blieben im Originalzustand.
Elf von 81, das sind immerhin rund 13 Prozent des Buchinhalts. Die
Herausgeber machen es sich allerdings leicht und schreiben im Vorwort:
„Oftmals sind die eigentlichen Urheber von Anekdoten … unbekannt.“
Wer schon nicht recherchieren kann, der sollte wenigstens googeln, so lässt
sich die Urheberschaft mühelos ermitteln. Stattdessen danken die
Herausgeber „den zahlreichen engen Freunden und Begleitern des Papstes, die
viele dieser Anekdoten so oder so ähnlich persönlich erlebt haben“. Und wir
danken herzlich dafür, dass wir jetzt enge Freunde des Papstes sind.
Manchmal hat man das Gefühl, Benedikt hat es richtig Spaß gemacht, Papst zu
sein. Da stand der alte Zausel mitten in seiner verrauchten Druidenküche
und rührte mit der Riesenschöpfkelle im großen dampfenden Kessel voller
Zaubertrank, der bei Protestanten Warzenbefall und Schweißausbrüche
auslöste und Katholiken schier wahnsinnig werden ließ vor Begeisterung
darüber, dass die Messe wieder in lateinischer Sprache gelesen werden
durfte und die Protestanten keine Kirche haben. Und wer war schuld an dem
ganzen Schlamassel: wir. Die Wahrheit.
## Dem Pontifex persönlich vorgelegt
Kurz nach Erscheinen der ersten Kolumne über die erfundenen Papst-Anekdoten
schrieb uns der Verleger des Buchs, in dem sich elf Wahrheit-Anekdoten
wiederfanden, dass es nicht sein könne, dass wir uns diese Geschichten
ausgedacht hätten. Er habe „dem Heiligen Vater alle Anekdoten des Buches
persönlich vorgelegt. Er hat sich darüber köstlich amüsiert und keinerlei
Anzeichen gegeben, dass einige von ihnen fiktional sein könnten.“
Daraus ergeben sich drei Möglichkeiten: Entweder der Papst war mittlerweile
völlig senil und konnte Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr
auseinanderhalten. Oder der Unfehlbare war enorm clever und hatte das
Ewigkeitspotenzial der Anekdoten erkannt, dass nämlich sein wirkliches
Leben so langweilig war, dass es gegen unsere komischen Erzählungen gar
nicht bestehen konnte.
Also folgte er lieber der Erkenntnis Arno Schmidts, dass die Wirklichkeit
sowieso nur in der Literatur stattfindet, und amüsierte sich köstlich über
seinen Coup. Oder die Anekdoten sind tatsächlich wahr. Wir, die
Wahrheit-Autoren, sind im Auftrag des Herrn unterwegs – beziehungsweise:
Wir sind Gott! Wir hatten uns die Anekdoten gar nicht ausgedacht, wir
lenkten vielmehr den guten Ratzinger schon lange auf seinem Lebensweg bis
hin ins Amt des Pontifex.
Das ist die einzige schlüssige Erklärung. Man muss sich nur die
Folgeschäden im real existierenden Katholizismus ansehen. So sind, wie wir
jetzt erfuhren, vor Jahren in Regensburg Ministranten durch die Straßen
gelaufen und haben Hanutas an Passanten verteilt, weil sie gelesen hatten,
dass die Haselnusstafeln „die Lieblingssüßigkeit des Heiligen Vaters“
seien. So entstehen Religionen.
Wenn sich dereinst Archäologen oder Religionsforscher wundern, warum in
katholischen Kirchen statt Oblaten Hanutas gereicht werden, dann sind wir
es gewesen, die diesen schmackhaften Wechsel ermöglichten. Denn die
Wahrheit, also Gott sprach: „Der Leib Christi solle fortan bestehen aus
Schokoladenwaffeln mit Haselnussstückchen, die 6,8 Gramm Fett, 10,5 Gramm
Kohlenhydrate und 1,9 Gramm Proteine in sich tragen. Amen.“
Apropos Amen. Das allerletzte Wort in der Anekdoten-Geschichte ist
hoffentlich noch nicht gesprochen. Wir erwarten selbstverständlich immer
noch von der Firma Ferrero eine größere Menge Hanutas als Gegenleistung
dafür, dass wir die Schokowaffeln zum unverzichtbaren Element des
katholischen Ritus gemacht haben.
1 Jan 2023
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## AUTOREN
Michael Ringel
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