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# taz.de -- Grenzstadt Wowtschansk: „Wir werden Denkmäler des Kriegs“
> Wowtschansk wird täglich beschossen. Die Anwohner müssen sich nicht nur
> vor Granaten, sondern auch vor dem kalten Winter in Schutz bringen.
Bild: Feststecken im Krieg: Im Stadtzentrum von Wowtschansk hat sich eine Raket…
Wowtschansk taz | Nach 12 Uhr mittags sieht man keinen Menschen mehr auf
den Straßen. Alle sitzen schon zu Hause oder verstecken sich in den
Kellern“, sagt Mykola. Der 60-Jährige weist mit der Hand auf die einzige
belebte Straße im Zentrum von Wowtschansk. Es scheint, als hätten sich hier
alle versammelt, die noch in der Stadt geblieben sind: Einer steht an einem
Geldautomaten an, ein anderer wartet in der Nähe einer Ausgabestelle für
humanitäre Hilfe. Feuerwehrleute löschen ein schwelendes Feuer in einem
Haus, Elektriker reparieren beschädigte Kabel und Verkäuferinnen im Laden
machen eine Raucherpause, solange es keine Kunden gibt.
Mykola steht vor einem von mehreren geöffneten Lebensmittelgeschäften und
wartet auf Kunden. Er arbeitet als Taxifahrer und verkauft nebenbei Benzin
in 5-Liter-Flaschen, in der Stadt ein knappes Gut. „Meistens kommen Leute,
die die Stadt verlassen wollen. Gerade war ein Mann da, der will seine Frau
und sein Kind von hier nach Charkiw bringen. Das ist verständlich, es hat
keinen Sinn, hierzubleiben“, sagt Mykola und blickt sich immer wieder um.
„Wenn sie wiederkommen, dann wird es in der Stadt kein Leben mehr geben“,
sagt der Rentner und weist auf das Ende der Straße, wo schon die Grenze zu
Russland beginnt. Seufzend fügt er hinzu: „Ein Leben gibt es hier schon
jetzt nicht.“
Wowtschansk wurde bereits in den ersten Stunden nach dem Beginn [1][des
russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022] von russischen Truppen
besetzt. Die Stadt liegt nur fünf Kilometer von der Grenze zu Russland
entfernt, im Nordosten der Region Charkiw. Vor dem großen Krieg, wie sie
ihn hier nennen, lebten etwa 12.000 Menschen hier, die Autofahrt nach
Charkiw dauerte anderthalb Stunden. Heute ist nur noch ein Drittel der
Bevölkerung in der Stadt. Bis zur „Gebietshauptstadt“ Charkiw braucht man
nun auf nicht asphaltierten Straßen aus Sand und Stein vier Stunden.
Als Reaktionen auf einen Gegenangriff der ukrainischen Armee sprengten die
russischen Invasoren die Brücken hinter ihnen in die Luft. Jetzt sind die
Einwohner von Wowtschansk von den Hauptverkehrsadern abgeschnitten, weil es
für die Behörden keine Priorität hat, die zerstörten Übergänge
wiederherzustellen. Laut der Straßenmeisterei würde es etwa ein Jahr dauern
und 400 Millionen Hriwna (umgerechnet 10 Millionen Euro) kosten, die Brücke
zu erneuern. Wer jetzt wirklich mit Lasten auf die andere Seite muss, nimmt
ein Boot. Wenn es sehr kalt ist und das Wasser gefriert, schleppen die
Menschen Taschen und Kisten über das Eis.
## Erinnerungen an die Folterkammer
Obwohl Wowtschansk bereits im September befreit wurde, ist auf einigen
Straßen immer noch kaputtes schweres Geräte zu sehen. Es scheint, als ob es
absichtlich nicht weggeräumt wurde, um daran zu erinnern, was die Stadt
unter russischer Besatzung durchgemacht hat.
Wie in vielen anderen besetzten Städten gab es laut Angaben der Polizei des
Gebietes [2][Charkiw] auch in Wowtschansk eine Folterkammer, in der
Zivilisten misshandelt wurden. Das Foltergefängnis befand sich auf dem
Gelände einer Fabrik mitten im Zentrum der Kleinstadt. „Die Schreie
gefolterter Menschen waren wahrscheinlich in der ganzen Stadt zu hören“,
sagt ein Bewohner. Hier saßen sowohl Männer als auch Frauen ein. Bevorzugte
Opfer waren ehemalige Teilnehmer der antiterroristischen Operation im
Donbass, Kämpfer der Territorialverteidigung und proukrainische Aktivisten.
Nach Angaben des Leiters der Nationalen Polizei, Ihor Klimenko, wurden
neben Bürgern der Ukraine auch Ausländer in dieses russische Gefängnis in
Wowtschansk gebracht. So waren hier sieben Bürger Sri Lankas illegal
inhaftiert, Medizinstudenten aus der Nachbarstadt Kupjansk, die ebenfalls
besetzt worden war. Einem der Studenten wurden die Zehennägel mit einer
Zange ausgerissen.
„Heute ist das größte Problem unserer Gemeinde der tägliche Beschuss, die
tägliche Zerstörung und der tägliche Verlust von Menschenleben“, beschreibt
der Bürgermeister von Wowtschansk Tamas Gambaraschwili die Lage. Er hat
dieses Amt erst seit ein paar Monaten. Ihm zufolge setzten die Russen alle
möglichen Waffen ein, aber meistens Minen oder Raketenartillerie. „Ihr
Beschuss folgt keiner Logik, sie zielen auf absolut alle Gebäude – von
Wohngebäuden über Geschäfte bis hin zu Schulen. Dies ist echter Terror
gegen die lokale Bevölkerung“, sagt der Bürgermeister.
In den Hochhäusern leben keine Menschen mehr, sie sind gerade jetzt im
Winter nicht mehr bewohnbar. Örtliche Betriebe schaffen es kaum, Fenster,
die von Druckwellen zerstört wurden, mit Folie und Tafeln abzudichten. Nach
jedem Beschuss müssen Ingenieure defekte Stromleitungen wiederherstellen.
Die Verfügbarkeit von Elektrizität ist für die Menschen hier lebenswichtig.
Wenn es keinen Strom gibt, haben sie keine Möglichkeit, sich warm zu halten
– denn fast unmittelbar nach ihrem Rückzug zerstörten die Russen die
Leitung, die die Stadt normalerweise mit Gas versorgt. „Wir können die
Leitung nicht instandsetzen, da sie sich auf russischem Territorium
befindet. Bis zum Ende des Krieges wird es daher kein Gas in Wowtschansk
geben. Wir bitten die Menschen, sich evakuieren zu lassen, zumindest für
die Wintermonate“, sagt Bürgermeister Gambaraschwili. Lokale Behörden und
Freiwillige versuchen, die Bewohner mit Feuerholz, Öfen und warmer Kleidung
zu versorgen. Doch es gibt noch ein weiteres Problem: Hilfsorganisationen
reißen sich nicht gerade darum, nach Wowtschansk zu fahren.
Ungeachtet dessen wurden im vergangenen Dezember die erste Bankfiliale mit
einem Geldautomaten, eine Apotheke und eine Post wiedereröffnet. „Aber wenn
der Beschuss weiter zunimmt, habe ich Angst, dass sie wieder schließen“,
sagt GambaraschwiIi. In seinem Büro ist es nur mäßig warm und man will sich
gar nicht vorstellen, unter welchen Bedingungen die Menschen jetzt in ihren
Häusern und Wohnungen leben.
Dass nur ein Ende des Krieges der Stadt wieder ihr normales Leben
zurückgeben kann, wissen die Einheimischen nur allzu gut. „Der Sieg ist die
einzige Hoffnung. Schließlich wird sich Russland nicht in Luft auflösen,
sondern immer auf der anderen Seite der Grenze sein. Erst wenn der Bastard
Putin zurückgeschlagen ist, können wir wieder normal leben“, sagt der
54-jährige Serhi, der viel älter aussieht, als er ist.
Er ist ins Stadtzentrum gekommen, um eine Flasche mit Wasser zu füllen und
sich mit Freunden zu treffen. Die Männer stehen unter dem Dach einer
Haltestelle, um sich vor dem Schnee zu schützen. Zwei Meter von ihnen
entfernt ragt das Endstück einer Rakete aus dem Boden. Doch darauf achtet
niemand. Einer der Männer sagt: „Die ist da schon lange hier. Wir haben
versucht, sie herauszuziehen, aber die Rakete ist so tief in den Boden
eingedrungen, dass das niemand geschafft hat.“
## Zwei Bewohner in Haus mit 45 Wohnungen
Auf Außenstehende wirkt es erstaunlich, dass die Stelle nicht markiert oder
gesichert ist, aber die Einheimischen wissen natürlich ohnehin Bescheid.
„Das wird ein Denkmal für den Krieg“, lacht ein anderer Mann. „Ja, auch …
werden Denkmäler des Krieges sein. Natürlich nur, wenn wir das alles
überleben“, sagt Serhi, auf einen Stock gestützt. Ein ironischer Unterton
ist nicht zu hören, der Tonfall klingt eher verzweifelt.
Serhi hat sein ganzes Leben in Wowtschansk verbracht. Hier, in seiner
Heimatstadt, erlebte er den Beginn der Invasion, die Besatzung und die
Befreiung. Jetzt kämpft er jeden Tag ums Überleben. „Vor zwei Tagen bin ich
zum ersten Mal unter Beschuss geraten, da drüben, in der Nähe des
Geldautomaten, buchstäblich 20 Meter von hier entfernt, wo wir jetzt
stehen“, erzählt Serhi, seine Unterlippe beginnt bei der Erinnerung vor
Aufregung zu zittern. „Die Kirche wurde getroffen und auch das Dach eines
Hauses, ein Mann wurde getötet. Das war das Schrecklichste, was ich je in
meinem Leben erlebt habe.“
Er ist einer von zwei Bewohnern, die immer noch in ihrem fünfstöckigen
Gebäude leben. Dort gibt es 45 Wohnungen. Aus den Heizungsanlagen in den
Häusern wurde Wasser abgelassen, damit die Rohre in der Kälte nicht
platzen. Es gibt Strom, wenn kein Beschuss erfolgt und keine Kabel
durchtrennt werden. Nur dann kann Serhi Essen kochen und sich irgendwie
warm halten. „Ich habe einen kleinen Elektroherd und die Freiwilligen haben
mir auch eine Heizdecke und einen kleinen Heizkörper gegeben. Ich ziehe
alle Pullover an, verkrieche mich in meinem Zimmer und schalte die Heizung
ein – so überlebe ich.“ Plötzlich wird das Gespräch von lauten
Explosionsgeräuschen ganz in der Nähe unterbrochen. „Es hat angefangen,
versteckt euch!“, kann er zum Abschied gerade noch sagen, bevor er sich
humpelnd in Richtung seines Hauses entfernt.
Aus dem Russischen
Barbara Oertel
12 Feb 2023
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[2] /Folgen-des-Ukrainekriegs-in-Charkiw/!5909328
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
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Sahra Wagenknecht
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