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# taz.de -- Erster Jahrestag des Ukrainekriegs: Wie der Krieg enden könnte
> Was sind die roten Linien Russlands? Welche Interessen haben die USA? Der
> Versuch einer Vorschau auf schmerzhafte Entwicklungen und schmutzige
> Deals.
Bild: Für viele Menschen kommt das Ende des Krieges zu spät
Natürlich lässt sich nicht mit Bestimmtheit voraussagen, wann und wie der
Ukrainekrieg endet, und nur Scharlatane geben vermeintlich sichere
Prognosen ab. Über wahrscheinliche Szenarien, die Kerninteressen und „rote
Linien“ der zentralen Akteure ins Visier nehmen, muss dagegen sehr wohl
geredet werden.
Dass es Interessen sind, die vorrangig das Handeln von Großmächten
bestimmen, ist nichts Neues. [1][Egon Bahr] hat es trefflich in folgende
Sentenz gekleidet: „In der internationalen Politik geht es nie um
Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten.
Merken Sie sich das, egal was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“
Fragt man nach Russland und den USA, so kann man beiden ein zentrales
Interesse attestieren, ein so großes europäisches Land wie die Ukraine mit
solchen Ressourcen an Menschen und Bodenschätzen, mit landwirtschaftlichem,
aber auch Hightech-Potenzial ausgestattet, dauerhaft nicht dem politischen
Gegner zu überlassen.
Für die Russische Föderation gilt die Ukraine zudem als
sicherheitspolitisch notwendige, „eigene“ Einflusssphäre. Eine imperiale
großrussische Ideologie unterlegt diesen Anspruch, umgesetzt wird er von
einem skrupellosen Schlägertyp. Offensichtlich hat Russland das „Wegkippen“
der Ukraine ins westliche Lager als rote Linie definiert und deshalb einen
völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen.
Ebenso ist das Festhalten an den bereits seit 2014 – ebenfalls
völkerrechtsverletzend – besetzten Gebieten, eventuell sogar dem ganzen
Donbass, für Russland nicht verhandelbar. Bei der [2][Krim] jedenfalls sind
sich auch die westlichen Analytiker einig, würde die Russische Föderation
zumindest alle zur Verfügung stehenden konventionellen Waffen einsetzen, um
die Halbinsel nicht zu verlieren.
Schaut man sich die zentralen amerikanischen Interessen aus übergeordneter
Warte an, so ist nicht Russland, sondern China der Hauptkonkurrent in einer
erweiterten bipolaren Weltordnung. Russland steht dabei auf der Seite des
autokratischen Chinas, wird aber, wie es Barack Obama schon 2014
formulierte, als „Regionalmacht“ nicht wirklich ernstgenommen (von der
Tatsache abgesehen, dass das riesige russische Nuklearwaffenpotenzial nicht
außer Acht gelassen wird).
Wenn sich also der kleine Bruder Chinas bei beschränktem eigenem Risiko
schwächen lässt, dann ist das geostrategisch gesprochen – neben der Macht-
und Markterweiterung durch ein neues Bündnismitglied – eine Gelegenheit,
die sich die USA aus realpolitischer Sicht nicht nehmen lassen.
## Die Schuldfrage ist zweifelsfrei geklärt
Die Schuld- und Verantwortungsfrage für diesen Angriffskrieg ist nach
internationalem Recht allerdings zweifelsfrei geklärt: Die Russische
Föderation ist der Täter und die Ukraine das überfallene Opfer, das alles
Recht auf seiner Seite hat, sich zu verteidigen.
Dass sich das nicht wiederholt, hat der amerikanische Verteidigungsminister
Lloyd Austin schon unmittelbar nach Beginn des jüngsten Ukrainekriegs
[3][im April 2022] als Ziel der USA formuliert. Es liege in ihrem
Interesse, Russland in einem solchen Maße zu schwächen, „dass es die Art
von Dingen, die es mit dem Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr
machen kann“, und dazu ergänzt: „Wir wollen, dass sie nicht in der Lage
sind, diese Ressourcen schnell zu ersetzen.“
Die Lieferung von immer schwereren westlichen Waffen an die Ukraine, in der
nächsten Stufe – wenn notwendig – sogar mit Kampfflugzeugen, dient also der
Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts, welches aus
realpolitischer Sichtweise gegenwärtig notwendig und ohne sich abzeichnende
Alternativen ist.
## Ein beißender Euphemismus für massive Zerstörung
Ebenso dient sie der militärischen Schwächung Russlands: Die
Waffenindustrien des Westens können den Verlust an geliefertem
militärischem Material in einem Abnutzungskrieg wesentlich schneller wieder
ausgleichen als die russischen. Dass „Abnutzung“ ein beißender Euphemismus
für massive Zerstörung und unermessliches menschliches Leid ist, soll hier
explizit erwähnt werden.
Die waffenmäßige Ausstattung der ukrainischen Armee samt logistischer
Unterstützung in dem Maße, dass die russische Armee die sogenannte
Kontaktlinie [4][des Minsker Abkommens] nicht mehr halten kann, würde
jedoch höchst wahrscheinlich eine zentrale russische rote Linie
überschreiten. Das Eskalationsrisiko stiege damit unermesslich an, woran
auch die USA kein Interesse haben, geschweige denn die Europäer. Ein „Sieg
über Russland“ ist daher höchst unwahrscheinlich.
Diese roten Linien sind, je länger der Krieg andauert und je mehr an
Material und Menschenleben zerbombt wird, auf beiden Seiten unverhandelbar
geworden, wie sich auch auf westlicher Seite zeigen lässt: Wäre ein
schneller Sieg der russischen Armee vor einem Jahr von vielen noch
achselzuckend als „Was kann man erwarten, wenn der russische Bär sich das
ukrainische Karnickel einverleiben will?“ abgetan worden, so haben sich die
Wetteinsätze drastisch verändert. Das Halten der nichtbesetzten Ukraine ist
für den Westen zwischenzeitlich zu einer Position geworden, von der nicht
mehr abgerückt werden kann.
Wie [5][1948 bei der Blockade West-Berlins], welches mit größtem
finanziellen und logistischen Aufwand vom Westen per Luftbrücke gehalten
wurde, so ist jetzt eine vollständige russische Besetzung der Ukraine und
deren Verwandlung zu einem zweiten Weißrussland nicht mehr duldbar. Der
Preis, den der Westen und vor allem Europa bezahlt, von der dauerhaften
Erhöhung der Militärausgaben über die Energiekrise bis hin zu einer
wohlstandsvernichtenden Inflation, hat einen Point of no Return
überschritten: Die Ukraine muss jetzt mit praktisch allen Mitteln als
eigenständiger Staat mit einer West-Option erhalten werden.
## Die Frage nach dem längeren Atem
Wie also könnte der Krieg ausgehen? Lässt man einmal das niemals
auszuschließende Risiko einer nuklearen Eskalation außer Acht, wird sich
aus realpolitischer Sicht der Elend, Leid und Flucht bringende Krieg
hinziehen. Wenn man davon ausgeht, dass Russland nicht besiegt werden kann,
die Ukraine aber nicht verlieren darf, ist die Frage, wer den längeren Atem
hat, ausschlaggebend.
Der Westen kann sicherlich noch lange immer schwerere Waffen liefern und
wird dies voraussichtlich auch tun. Die russische Armee hat allem Anschein
nach ebenfalls noch genügend konventionelle Waffenlagerbestände sowie ein
Vielfaches an Menschen, die zum Militärdienst (zwangs-)verpflichtet werden.
In der Ukraine ist allerdings der Nachschub an kampffähigen und -willigen
Menschen beschränkt. Wenn der Westen keine Soldaten in den Ukrainekrieg
schickt, wovon im Moment auszugehen ist, wird, so die Grundlage für das
kommende Szenario, die Kampfkraft der ukrainischen Armee über kurz oder
lang abnehmen.
Spätestens in dem Moment – und bis dahin kann der Krieg unglücklicherweise
noch länger sehr blutig und zerstörerisch weitergehen –, in dem die
westlichen Militärführungen, informiert von insbesondere den amerikanischen
Geheimdiensten, zur Überzeugung kommen, dass eine ukrainische Kapitulation
droht, geschieht, was historisch nicht selten passiert: Der
Interessenausgleich wird hinter verschlossenen Türen diplomatisch
ausgehandelt.
So wie bei [6][der Kubakrise 1962], als der Sowjetunion für den Verzicht
auf die Stationierung von Raketen auf Kuba unter Ausschluss der
Öffentlichkeit der Abzug von amerikanischen Jupiter-Raketen aus der Türkei
zugesichert wurde, so ist mit guten Gründen zu mutmaßen, dass ein solcher
Deal auch dieses Mal kommt.
## Verhandlungen in Hinterzimmern
Insofern hat der Philosoph Jürgen Habermas – auch von einem realpolitischen
Blickwinkel aus – recht, wenn er, [7][aktuell in der Süddeutschen Zeitung],
„aus näherliegenden Gründen wie der Erschöpfung von personellen Reserven“
ableitet, es „drängt die Zeit zu Verhandlungen“, wenngleich diese nicht auf
offener Bühne, sondern in Hinterzimmern ablaufen.
Voraussetzung dafür ist, dass Russland an einer Absicherung seiner
zentralen Ziele und roten Linien interessiert sein wird, und das wird es
sein, weil es die roten Linien des Westens ebenfalls kennt und selbst nicht
daran interessiert ist, dass die allerschwersten konventionellen westlichen
Waffen zum Einsatz kommen oder die Nato direkt mit eigenem Personal
eingreift.
Bevor man sich im hier skizzierten Szenario auf ein Schweigen der Waffen
einigt, wird möglicherweise vereinbart werden, dass die
Waffenstillstandslinie dann nicht mehr wie beim Minsker Abkommen dauerhaft
Kriegsfront bleibt, sondern von Blauhelmsoldaten aus Nichtkonfliktparteien
samt beidseitiger Demilitarisierungszone überwacht wird.
Zugleich wird man Russland eventuell zusichern, dass die Ukraine auf einen
geraumen Zeitraum hin, sagen wir 25 Jahre, verlässlich nicht in die Nato
aufgenommen und nur begrenzt militärisch ausgerüstet sein wird –
abgesichert durch ein robustes Beistandsabkommen der EU und
Großbritanniens.
Die Krim und der besetzte Teil des Donbass werden dann als dauerhaft
russische Einflusssphäre akzeptiert, wenngleich die völkerrechtliche
Anerkennung versagt wird, ähnlich wie 1967 bei der Besetzung der syrischen
Golan-Höhen.
Im Gegenzug wird der Westen sicherlich in einem Memorandum of Understanding
die Zurückhaltung Russlands bei einem eventuell kommenden China-USA-Krieg
einfordern. All dies nur in Geheimabkommen – denn natürlich würde man das
niemals öffentlich zugeben. Und die Ukraine und Russland könnten sich
gesichtswahrend als „im Felde“ unbesiegt und standhaft darstellen.
Solche „schmutzigen Abkommen“, welche die roten Linien genauso
respektieren, wie sie die Interessen der Großmächte zumindest in zentralen
Aspekten berücksichtigen, sind realpolitische Wirklichkeiten, nicht
völkerrechtliche Normvorstellungen. Dennoch muss gesagt werden, dass sie,
so paradox das klingen mag, wünschenswerter sind als eskalierende
Alternativszenarien.
Die Vorstellung, dass das Führen von Verhandlungen zum gegenwärtigen
Zeitpunkt etwas anderes bedeuten könnte, als solche dirty deals
abzuschließen, gehört ins Reich des naiven Wunschdenkens.
22 Feb 2023
## LINKS
[1] /Nachruf-Egon-Bahr/!5225196
[2] /Ein-halbes-Jahr-Krieg-in-der-Ukraine/!5873518
[3] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ukraine-krieg-usa-wollen-russla…
[4] /Friedensabkommen-fuer-die-Ostukraine/!5020373
[5] /Berlin-Blockade-vor-70-Jahren/!5591116
[6] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5906734
[7] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/das-dilemma-des-westens…
## AUTOREN
Helmut Däuble
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Joe Biden
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