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# taz.de -- Ursachen des Kriegs gegen die Ukraine: Das Werwolf-Prinzip
> Die Suche nach den Ursachen des Ukraine-Kriegs wird künftige Historiker
> zur inneren Dynamik Russlands führen. Aber auch zur Politik der
> Nato-Staaten.
Bild: Moskau hat erwartet, dass ihm als atomare Supermacht Respekt und Anerkenn…
Angenommen, wir sind im Jahr 2038, und angenommen, Historiker streiten
weiterhin über die Ursachen des russischen Krieges gegen die Ukraine. Dann
könnte das so aussehen:
Das erste Narrativ konzentriert sich auf die innenpolitische Dynamik in
Russland beziehungsweise in der Sowjetunion und betrachtet die russische
Aggression als konsequente Folge nationalistischer, kolonialistischer und
imperialer Triebkräfte der Moskauer Eliten. Angefangen vom Imperialismus
der Zarenzeit schlagen Historiker den Bogen zum Totalitarismus und zu den
Verbrechen Stalins, bis hin zur sowjetischen Gewaltherrschaft nach dem 2.
Weltkrieg und schließlich dem Revisionismus des Kreml unter [1][Wladimir
Putin], der seine Herrschaft auf Lebenszeit zementiert hat. Demnach
betrachtet Putin die Auflösung der Sowjetunion als schweren Fehler und
strebt die Wiederherstellung des Großmachtstatus Russlands an, unterstützt
von großen Teilen der russischen Elite und der Bevölkerung, die der
Staatspropaganda vertrauen. Nach innen baut er systematisch ein
autokratisches Unterdrückungssystem auf und schreckt dabei nicht vor Morden
an Oppositionellen im In- und Ausland zurück. Die größte Bedrohung für sein
Regime sieht er in der Übertragung des westlichen liberalen
Demokratiemodells nach Osteuropa.
Spätestens 2014 ist mit der Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen
des Donbass die Aggressivität der russischen Führung nach außen sichtbar
geworden. Die Eigenstaatlichkeit der Ukraine lehnt Putin ab und folgt dabei
einem Drehbuch, das schon seit dem russischen Krieg gegen Georgien im Jahre
2008 feststeht, auch wenn der damalige georgische Präsident Micheil
Saakaschwili diesen Krieg törichterweise begonnen hatte. Seither rüstet der
Kreml die Streitkräfte und die Nationalgarde mit den vom Westen aus den
Energieexporten gezahlten Billionen konsequent auf. Die Entspannungspolitik
und die Prinzipien „Wandel durch Handel“ oder „Stabilität durch Handel“
sind gescheitert. Die Osterweiterung der Nato hat sich im Rückblick als
kluge und weitsichtige Strategie bestätigt. Ohne den Schutzschirm der
Allianz hätten die drei baltischen Staaten längst ihre Unabhängigkeit
verloren. Noch klüger wäre allerdings gewesen, die Ukraine und Georgien
auch in das westliche Militärbündnis aufzunehmen.
Die Historiker, die das zweite Narrativ vertreten, befassen sich zunächst
mit der Russlandpolitik der Vereinigten Staaten und ihrer westlichen
Verbündeten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den der Westen als Sieg
im Kalten Krieg feierte und dem schließlich ohne Rücksicht auf russische
Sicherheitsinteressen der Nato-Erweiterungsprozess folgte.
Moskau hat die Ausdehnung des Nato-Raums von Beginn an als gravierendes
Sicherheitsproblem wahrgenommen und ist endgültig misstrauisch geworden,
als die Nato auf ihrem Gipfel in Bukarest 2008 der Ukraine und Georgien die
Mitgliedschaft grundsätzlich zusagte. Die US-Regierungen seit Bill Clinton
und vor allem osteuropäische Nato-Staaten sind nie bereit gewesen, der
Russischen Föderation eine ernsthafte Rolle in einer gesamteuropäischen
Sicherheitsarchitektur einzuräumen. Im Nato-Russland-Rat redeten
Botschafter, Außen- und Verteidigungsminister sowie Staats- und
Regierungschefs schon in der ersten Dekade meist aneinander vorbei. Die
Kündigung des „Anti Ballistic Missile (ABM)“-Vertrags durch Washington 2002
und der Aufbau der strategischen Raketenabwehr der USA in Europa
destabilisierten die Beziehungen zwischen der Nato und Russland weiter.
Moskau befürchtete schon damals, dass die amerikanische Raketenabwehr den
wahren Zweck verfolge, eines Tages das russische Abschreckungspotential zu
neutralisieren, was Washington allerdings stets bestritt.
Der Umsturz in der Ukraine Anfang 2014 war schließlich der entscheidende
Kipppunkt zum neuen Ost-West-Konflikt. Der Kreml betrachtete den
„Euro-Maidan“ als eine von den USA unterstützte Aufstandsbewegung. Aus
Moskauer Sicht war die Maidan-Revolution eine weitere westliche Offensive
in der geopolitischen Auseinandersetzung zwischen Moskau und Washington.
Der Kreml unterstellte den USA das Ziel, Oppositionsbewegungen in Russland
zu unterstützen, um auch in Moskau eines Tages einen Regierungswechsel
herbeizuführen. Rund zwei Monate vor dem Beginn des russischen Angriffs auf
die Ukraine wandte sich der Kreml an die USA und die Nato-Staaten mit
Vertragsentwürfen, in denen es darum ging, eine Aufnahme der Ukraine in die
Nato vertraglich auszuschließen, was von der Nato mit dem Hinweis auf die
freie Bündniswahl und die Nato-Politik der offenen Tür zu schnell
zurückgewiesen wurde. So wurde nicht ernsthaft getestet, ob Putin bereit
gewesen wäre, in Verhandlungen über einen sicheren Status der Ukraine ohne
Nato-Beitritt einzutreten und die Invasion zu vermeiden.
Eine dritte und wachsende Gruppe von Historikern sieht inzwischen die
Ursachen für den russischen Angriff in einer Kombination aus beiden
Erzählungen. Sie konzentrieren ihre Analyse auf die Interessengegensätze
und die machtpolitische Rivalität zwischen den USA und Russland seit dem
Zusammenbruch der Sowjetunion und beziehen die einander entgegengesetzten
politischen Kulturen, Wertorientierungen und die historische Entwicklung
Russlands ein. Das Denken und Fühlen der [2][Eliten in der russischen
Gesellschaft] ist seit Jahrhunderten durch zwei gegensätzliche Strömungen
geprägt. Die Westler-Slawophilen wie Dostojewski, Turgenjew und Tolstoi
haben im 19. Jahrhundert das Widersprüchliche im russischen Lebensgefühl in
ihren literarischen Figuren aufleben lassen und vermutlich auch in sich
selbst verspürt. Da gibt es die sanfte, empathische Seite, die sich offen
zeigt gegenüber der westlichen Kultur. Doch die im 19. Jahrhundert geführte
Debatte um die Frage, ob sich Russland an westlichen Werten orientieren
oder einen eigenen slawischen Weg gehen sollte, geht bald in einen
allgemeinen Panslawismus über.
Diese andere, dunklere russische Seite war immer präsent, von der Zarenzeit
bis in die Spätphase der Sowjetunion. Kompromissloses Machtstreben,
Gewalt, Empathielosigkeit und Zynismus sind für diese Haltung
kennzeichnend. Während unter Michail Gorbatschow und bis etwa zum
Millennium eher die emphatische, kooperative Seite dominierte, wurde die
Außen- und Militärpolitik danach revisionistischer.
Einige [3][Historiker] und Literaten benutzen eine Werwolf-Metapher, um das
widersprüchliche Wesen der russischen Staatsmacht zu beschreiben. Ein
Veränderungsprozess ist auch in der Persönlichkeitsentwicklung von
Verantwortungsträgern wie Präsident Putin und Außenminister Lawrow zu
verzeichnen. Putin zeigte sich in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft
ab 1999 offener für eine intensive Kooperation mit dem Westen, für
Demokratie und Marktwirtschaft. Dies belegen die im Rückblick erstaunlich
wirkenden TV-Aufzeichnungen seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag im
Jahre 2001. Ehemalige deutsche Diplomaten, die in den 1990er Jahren den
damaligen Botschafter Lawrow noch als russischen Ständigen Vertreter bei
den Vereinten Nationen erlebt hatten, erinnern sich an einen heiteren Mann,
mit dem sie vor allem im Sicherheitsrat produktiv zusammenarbeiten konnten.
Lawrow wirkte später in seiner Rolle als langjähriger Außenminister
verbittert und aggressiv, was auch auf die westliche Russlandpolitik
zurückgeführt wird.
Historiker dieser dritten Schule nehmen Bezug auf die Binsenweisheit, dass
Außen- und Sicherheitspolitik ein interaktiver Vorgang und der Gang der
Geschichte das Ergebnis von Wechselbeziehungen zwischen Staatschefs ist.
Dazu kommt innenpolitischer Druck auf die Führungspersönlichkeiten an der
Spitze. Einige sehen sogar eine Dominanz der Innenpolitik, was mehr oder
weniger in allen Staaten gilt.
Im Westen wollte man nicht sehen, dass der westliche liberale
Demokratietransfer durch die Nato- und die EU-Erweiterung vom Kreml als
langfristig angelegter geostrategischer Schachzug interpretiert wird,
Russland nicht nur zurückzudrängen, sondern auch auf dessen innere
Entwicklung Einfluss zu nehmen. Dies führte zu innerer Autokratisierung und
Abschottung des russischen Herrschaftssystems gegen liberale Strömungen.
Wie so oft in der Geschichte hat die Außenpolitik Washingtons und die
anderer westlicher Staaten die „unintended effects“ ihrer Politikansätze
nicht beachtet.
Moskau hat erwartet, dass ihm als atomare Supermacht Respekt und
Anerkennung seiner Sicherheitsinteressen zustehen. Im Kern hat die
Russlandpolitik des Westens das imperiale, gewaltbereite Potential im
Verhalten der russischen Führung stimuliert. Darin liegt ein gewisser
politisch-historischer Beitrag des Westens zu den Entwicklungen in Moskau,
die zum russischen Krieg gegen die Ukraine geführt haben. Dies kann jedoch
auch in historischer Perspektive den völkerrechtswidrigen brutalen Krieg
gegen die Ukraine in keiner Weise rechtfertigen.
Auch wenn dieses dritte Narrativ die historische Debatte zu dominieren
scheint, geht der Historikerstreit über die Ursachen der russischen
Aggression gegen die Ukraine weiter. So wird der dritten Erzählung
entgegengehalten, dass bei einer weitergehenden Einbindung Russlands in die
europäische Sicherheitsordnung die imperialen Triebkräfte Moskaus weiter
gewachsen wären. Alle Analysen der Vorgeschichte des russischen Kriegs
gegen die Ukraine enthalten Annahmen und spekulative Elemente, zumal der
Kreml die Akten über all diese Vorgänge noch nicht geöffnet hat.
9 Apr 2023
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## AUTOREN
Helmut W. Ganser
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