# taz.de -- Der verheimlichte Kuba-Deal | |
> Wie die Welt 1962 durch eine Lüge vor dem Atomkrieg bewahrt wurde | |
Bild: New York, 26. Oktober 1962: Showdown im Sicherheitsrat | |
von Peter Kornbluh | |
Am 28. Oktober 1962 schickte der sowjetische Regierungschef Nikita | |
Chruschtschow ein privates Schreiben an US-Präsident John F. Kennedy. Darin | |
ging es um die Entschärfung der gefährlichsten Konfrontation zwischen zwei | |
Supermächten, die es in der jüngeren Geschichte gegeben hat. | |
Offiziell sah der Kompromiss zu Lösung der Kubakrise so aus: Die UdSSR zog | |
ihre atomar bestückten Mittelstreckenraketen zurück, die sie auf der | |
Karibikinsel stationiert hatte; dafür garantierten die USA, das | |
kommunistisch regierte Kuba nicht anzugreifen. In Wahrheit wurde die Lösung | |
der Krise jedoch auf einem heimlichen Treffen zwischen Justizminister | |
Robert Kennedy und Anatoli Dobrynin, dem sowjetischen Botschafter in | |
Washington, am Abend des 27. Oktober vereinbart. | |
Bei dieser Begegnung stimmte der jüngere Kennedy im Auftrag seines Bruders | |
einem Deal zu, der top secret bleiben sollte: Als Gegenleistung für den | |
Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba sicherten die USA zu, ihre atomaren | |
Jupiter-Raketen aus der Türkei abzuziehen. | |
In seinem privaten Brief an John F. Kennedy wollte der sowjetische | |
Regierungschef eine schriftliche Bestätigung dieser Absprache erreichen. | |
Allerdings wisse er sehr wohl, versicherte Chruschtschow, wie heikel das | |
Thema für den US-Präsidenten sei. Die Frage des Abzugs der US-Raketen aus | |
der Türkei sei so „komplex“, dass Kennedy wohl zu Recht „nicht wünscht,… | |
öffentlich zu diskutieren“. | |
Dieses vertrauliche Schreiben übergab Dobrynin am 29. Oktober Robert | |
Kennedy. Doch statt es dem Präsidenten zu überbringen, gab der | |
Justizminister es am nächsten Tag dem sowjetischen Botschafter zurück; mit | |
der Bemerkung, die USA würden ihre Versprechen auch dann einhalten, wenn | |
die nur in mündlicher Form abgegeben wurden. Ein schriftliches Dokument | |
werde es nicht geben. Auch er selbst wolle nicht an der Übermittlung eines | |
solchen Briefes beteiligt sein, „denn wer weiß schon, wo und wann solche | |
Briefe auftauchen oder irgendwie publiziert werden“. | |
Dem detaillierten Bericht Dobrynins an den Kreml zufolge begründete der | |
jüngere Kennedy seine Forderung, den Brief zurückzunehmen, mit der | |
Erklärung: „Das Auftauchen eines solchen Dokuments würde meiner künftigen | |
politischen Karriere irreparablen Schaden zufügen.“ | |
So begann das aufwendige Unternehmen zur Vertuschung der Wahrheit über die | |
Beilegung der Kubakrise 1962 und die Abwendung eines Atomkriegs. Präsident | |
Kennedy war entschlossen, seine Zusagen bezüglich des Verzichts auf die | |
Jupiter-Raketen in der Türkei geheim zu halten. Zum einen, um den USA die | |
Führungsrolle in der Nato zu erhalten, deren Mitglied die Türkei war; zum | |
anderen, um seine politische Reputation zu schützen. Denn die hätte ebenso | |
gelitten wie die seines Bruders, wenn bekannt geworden wäre, dass er | |
tatsächlich mit der UdSSR verhandelt hatte, um die Welt vor der atomaren | |
Selbstzerstörung zu bewahren. | |
Um den Raketen-Deal zu vertuschen, belog der Präsident seine Amtsvorgänger | |
im Weißen Haus, er täuschte die Medien und er orchestrierte sogar | |
persönliche Angriffe gegen seinen Botschafter bei den Vereinten Nationen, | |
Adlai Stevenson, der als erster und einziger Berater darauf gedrängt hatte, | |
die Kubakrise durch das Tauschgeschäft auf diplomatischem Wege beizulegen. | |
Nach Kennedys Ermordung am 22. November 1963 errichteten seine Mitarbeiter | |
eine Mauer des Schweigens, die über 25 Jahre hielt. Indem sie die wahre | |
Geschichte vernebelten, verstellten sie freilich auch den Blick auf die | |
Lehren aus einer Krise, die die Welt an den Rand eines Atomkriegs brachte. | |
Wenige Stunden nach der Rundfunkansprache Chruschtschows am Morgen des 28. | |
Oktober, in der dieser den Abzug der Atomraketen verkündet hatte, begann | |
Präsident Kennedy seine eigene falsche Darstellung zu verbreiten. So ließ | |
er über das im Weißen Haus installierte geheime Abhörsystem | |
Telefongespräche aufzeichnen, in denen er seinen drei noch lebenden | |
Vorgängern Eisenhower, Truman und Hoover darlegte, wie er in der Krise | |
angeblich agiert hatte. | |
Wie der Historiker Sheldon Stern berichtet, machte Kennedy Eisenhower weis, | |
er habe sich auf den Türkei-Deal „nicht einlassen können“, Truman log er | |
vor, er habe Chruschtschows Forderung nach Abzug der Jupiter-Raketen | |
abgelehnt, und Hoover sagte er, die Sowjets hätten nachgegeben und seien | |
„auf ihre vernünftigere Position“ zurückgegangen, Kennedys Versprechen, | |
Kuba nicht anzugreifen, zu akzeptieren.[1] | |
## Kennedys vorgebliche Härte | |
Tags darauf erörterte der Präsident mit seinem Bruder den unerwarteten | |
Chruschtschow-Brief und beschloss, dass es keine „schriftlichen Spuren“ der | |
geheimen Vereinbarung über die Jupiter-Raketen geben dürfe. Anschließend | |
übermittelte Robert Kennedy folgende Botschaft an Dobrynin: „Ich habe das | |
Gefühl, dass ein Schriftwechsel über unsere Unterhaltung zu diesem | |
Zeitpunkt nicht sehr hilfreich ist.“ Der Satz steht in dem | |
Topsecret-Bericht Robert Kennedys über sein Treffen mit Dobrynin. | |
Nun machte sich John F. daran, Geschichten in den Medien zu lancieren, die | |
alle Spekulationen über einen Deal mit Moskau beenden sollten. Seinem | |
Freund Charles Bartlett, einem Journalisten, der während der Raketenkrise | |
als Geheimemissär mit Kontakten zu sowjetischen Geheimdienstleuten fungiert | |
hatte, gab er grünes Licht für eine Insider-Story über die Entscheidungen, | |
die zur Beendigung des Konflikts geführt hätten. Zusammen mit Stewart Alsop | |
verfasste Bartlett einen Artikel für die Saturday Evening Post, der unter | |
dem Titel „In Time of Crisis“ Anfang Dezember erschien. | |
Mit dieser Story war die offizielle Darstellung über die Beilegung der | |
Kubakrise in der Welt. Insbesondere ein Zitat, das Kennedys Außenminister | |
Dean Rusk zugeschrieben wurde, galt seither als Schlüssel zum Ablauf der | |
Krise: „‚We’re eyeball to eyeball, and I think the other fellow just | |
blinked.‘“ Mit andern Worten: Chruschtschow habe nachgegeben, als Kennedy | |
mit einer Invasion in Kuba gedroht habe. Der Präsident habe das atomare | |
„chicken game“ gewonnen, der Rückzug der sowjetischen Raketen sei ein Sieg | |
der USA im Kalten Krieg gewesen. | |
Rusks Ausspruch stehe für „einen großen Moment in der amerikanischen | |
Geschichte“, psalmodierten Bartlett und Alsop. Der Text enthielt allerdings | |
auch eine üble politische Verleumdung: Adlai Stevenson sei gegenüber der | |
Sowjetunion zu „weich“ gewesen, da er politische Verhandlungen statt | |
militärischer Aktionen befürwortet hatte. Bartlett und Alsop beschrieben | |
Stevenson gar als Appeasement-Politiker: „Adlai wollte ein München. Er | |
wollte US-Basen gegen kubanische Basen tauschen“, zitierten sie „einen | |
Regierungsbeamten“. | |
Noch vor Erscheinen des Artikels ließen ihn die Herausgeber der Saturday | |
Evening Post in New York und Washington an die Medien verteilen – begleitet | |
von einer Presseerklärung mit dem Titel: „Die kontroverse und bisher nicht | |
enthüllte Rolle, die UN-Botschafter Adlai Stevenson auf dem Höhepunkt der | |
Kubakrise gespielt hat“. | |
Die Attacke auf Stevenson löste einen politischen Feuersturm aus – was | |
Präsident Kennedy im voraus klar gewesen sein musste. Sein Sonderberater | |
Arthur Schlesinger Jr. berichtete später, dass Kennedy ihn am 1. Dezember | |
in das Oval Office bat, um ihm von der bevorstehenden Publikation zu | |
erzählen. Dabei äußerte Kennedy, wegen seiner engen Freundschaft mit | |
Bartlett werde alle Welt annehmen, „dass das aus dem Weißen Haus gekommen | |
ist“. Er bat Schlesinger, „Adlai zu sagen, dass ich nie mit Charlie oder | |
irgendeinem anderen Journalisten über die Kubakrise gesprochen habe und | |
dass dieser Artikel nicht meine Haltung darstellt“.[2] | |
In Wahrheit hatte der Präsident mit Bartlett nicht nur gesprochen, während | |
dieser die Story schrieb, sondern sie sogar selbst redigiert. Sie | |
repräsentierte also sehr wohl seine Haltung beziehungsweise seine | |
politischen Absichten. Wie der Historiker Gregg Herken herausfand, stammte | |
das zitierte Urteil des „Regierungsbeamten“ über Stevenson von Kennedy | |
selbst.[3]Er hatte den Rufmord an Stevenson höchstpersönlich inszeniert, um | |
als Hardliner dazustehen. | |
## Rufmord am einzig vernünftigen Berater | |
„Der Präsident hat das ‚München‘-Zitat eingefügt, als er das Typoscrip… | |
Textentwurfs mit Anmerkungen versah“, schreibt Herken. Er stützt sich auf | |
Interviews mit der Familie Alsop und den Briefwechsel zwischen dem | |
Journalisten und Clay Blair Jr., dem Chefredakteur der Saturday Evening | |
Post.[4] | |
Die Rolle des Präsidenten müsse topsecret bleiben („keine Kopien oder | |
Notizen, burn after reading“) schrieb Alsop vier Monate nach der Ermordung | |
Kennedys an Blair, als der ihn drängte, eine Enthüllungsstory über die | |
Beteiligung des Präsidenten an dem Alsop-Bartlett-Artikel zu schreiben. | |
Alsop zufolge war die Typoskriptseite mit Kennedys handschriftlichen | |
Anmerkungen noch 1962 an den Präsidenten zurückgegeben und vernichtet | |
worden. „Dabei wäre es eine interessante historische Fußnote gewesen.“ | |
Nach der Ermordung Kennedys wurde der Mythos vom „Sieg“ in der Kubakrise | |
weiter gepflegt, obwohl viele aus seinem engsten Zirkel Bescheid wussten. | |
Die Memoiren ehemaliger enger Mitarbeiter, etwa des Chefberaters Theodore | |
Sorensen, vermieden jeden Hinweis auf den Raketendeal. Robert Kennedys | |
Krisentagebuch enthielt zwar eine detaillierte Schilderung seiner | |
entscheidenden Unterredung mit Dobrynin vom 27. Oktober 1962, doch als | |
seine Aufzeichnungen 1969 posthum unter dem Titel „Thirteen | |
Days“[5]veröffentlicht wurden, fehlten die entsprechenden Passagen. | |
Im Rahmen einer Konferenz über die Kubakrise, die im Januar 1989 in Moskau | |
stattfand, gestand Sorensen, welche Rolle er selbst als Herausgeber des | |
Buches gespielt hatte. In Robert Kennedys Tagebuch sei die türkische | |
Dimension des Deals zwar explizit dargestellt worden, aber das sei damals | |
noch ein Staatsgeheimnis gewesen. Deshalb habe er es „als meine Aufgabe | |
betrachtet, das aus seinen Tagebüchern zu streichen“. | |
Aufgedeckt wurden all diese Verschleierungsmanöver erstmals 1988, und zwar | |
in McGeorge Bundys Buch „Danger and Survival: Choices About the Bomb in the | |
First Fifty Years“. Darin betont Bundy, Kennedys Nationaler | |
Sicherheitsberater, dass nie etwas durchgesickert sei: „Soweit ich weiß, | |
hat keiner von uns jemals weitererzählt, was geschehen war. Wir leugneten | |
auf allen Ebenen, dass es einen Deal gegeben habe.“ | |
Die volle Wahrheit über die Verhandlungen während der Kubakrise kam nur | |
scheibchenweise ans Licht. 1987 begann die John F. Kennedy Presidential | |
Library, die Abschriften vormals geheimer Tonbandaufnahmen der | |
Besprechungen im Weißen Haus freizugeben. Sie dokumentierten, wie der | |
Präsident mit seinen Beratern die Vor- und Nachteile eines Raketendeals | |
diskutierte, um eine atomare Katastrophe abzuwenden. | |
Nach der Auflösung der Sowjetunion begann das russische Außenministerium, | |
wichtige Dokumente freizugeben, darunter die Berichte, die Dobrynin über | |
seine Gespräche mit Robert Kennedy nach Moskau übermittelt hatte. Erheblich | |
erweitert wurden die historischen Kenntnisse über die Kubakrise – und ihr | |
wahres Ende – auch durch internationale Konferenzen wie die zum 30. und 40. | |
Jahrestag, an denen Zeitzeugen aus dem damaligen politischen Umfeld der | |
Kennedys und ehemalige sowjetische Militärkommandeure sowie Fidel Castro | |
teilnahmen. | |
All dieses historische Material ist bis heute von unmittelbarer Relevanz – | |
angesichts der gegenwärtigen „time of crisis“, in der Russland im | |
Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Einsatz von Atomwaffen droht. | |
Inwieweit die Lehren der Vergangenheit auf die Gegenwart anwendbar sind, | |
wissen wir nicht. Doch vor 60 Jahren hat Nikita Chruschtschow in seinem | |
Brief vom 28. Oktober 1962 an John F. Kennedy eine prophetische Mahnung | |
formuliert: „Mr. President, die Krise, die wir durchgestanden haben, könnte | |
sich wiederholen. Das bedeutet, dass wir die Streitfragen angehen müssen, | |
die zu viel explosives Material beinhalten. Wir können die Lösung dieser | |
Fragen nicht verzögern, denn die Fortdauer dieser Situation ist mit vielen | |
Ungewissheiten und Gefahren behaftet.“ | |
1↑ Sheldon M. Stern, „Averting ‚The Final Failure‘: John F. Kennedy and… | |
Secret Cuban Missile Crisis Meetings“, Stanford University Press, 2003. | |
2↑ Arthur M. Schlesinger, „Die tausend Tage Kennedys“, Bern (Scherz) 1965. | |
3↑ Gregg Herken, „The Georgetown Set: Friends and Rivals in Cold War | |
Washington“, New York (Alfred A. Knopf) 2014. | |
4↑ Der komplette Briefwechsel wurde erstmals Ende Oktober 2022, 60 Jahre | |
nach der Kubakrise, vom National Security Archive veröffentlicht. | |
5↑ „Dreizehn Tage. Die Verhinderung des Dritten Weltkrieges durch die | |
Brüder Kennedy“, Bern/München (Scherz) 1969. | |
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
Peter Kornbluh ist Direktor der Chile- und Kuba-Abteilung beim National | |
Security Archive und Autor (mit William M. LeoGrande) von „Channel to Cuba: | |
The Hidden History of Negotiations Between Washington and Havana“, Chapel | |
Hill (The University of North Carolina Press) 2015. | |
12 Jan 2023 | |
## AUTOREN | |
Peter Kornbluh | |
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