| # taz.de -- Literatur aus dem Gastland Slowenien: Ein Land in Mitteleuropa | |
| > Atemprotokolle, Familienromane, Gesellschaftskritik und Bienen: Eine | |
| > Reise durch die Literatur Sloweniens, Gastland der Frankfurter Buchmesse | |
| > 2023. | |
| Bild: Ein slowenischer Imker auf dem Dach. Tatsächlich sind die Slowenen stolz… | |
| Am Fuße der Julischen Alpen liegt der See von Bled, in der Mitte eine | |
| Insel, auf der eine steile Steintreppe zu einer Kirche führt. Bled ist | |
| eines der bekanntesten Postkartenmotive Sloweniens und der Ort, an dem das | |
| Writers-for-Peace-Komitee des PEN International seit 1984 seine jährliche | |
| Konferenz abhält. | |
| Ausgerechnet das kleine Bled im kleinen Zwei-Millionen-Einwohner-Land | |
| Slowenien hatte sich zu dem Ort entwickelt, an dem Autoren verfeindeter | |
| Staaten oder Gruppen sich trafen: Israelis und Palästinenser, Türken und | |
| Kurden, US-Amerikaner und Russen oder Chinesen. | |
| Auch in der slowenischen Literatur werden bis heute Weltkonflikte | |
| bearbeitet: die beiden Weltkriege, das sozialistische Jugoslawien, der | |
| Unabhängigkeitskrieg der frühen 1990er Jahre. Zudem wirbt das Land damit, | |
| mit die höchste Dichterdichte der ganzen Welt zu haben, gemessen an Köpfen | |
| und Quadratmetern. Tatsächlich erscheinen jährlich ungefähr 3.500 Bücher | |
| (davon 300 Gedichtbände) – das ist gemessen an der Einwohnerzahl doppelt so | |
| viel wie in Deutschland. | |
| ## Slowenien ist Gastland | |
| Einiges davon ist nun im Zuge des diesjährigen Auftritts als Gastland der | |
| Frankfurter Buchmesse auch in deutscher Übersetzung erhältlich. | |
| Miha Kovač, der Kurator des slowenischen Auftritts, erklärte bei einer | |
| Pressekonferenz in Frankfurt, dass die Slowenen nur deshalb als Nation und | |
| Land überlebt hätten, weil sie so viel gelesen hätten. Was für andere | |
| Staaten das Militär, ist für die Slowenen eben das Bücherlesen. Dadurch, so | |
| Kovač, hätten die Slowenen analytisches Denken trainiert, und das habe sie | |
| fit für die Unabhängigkeit gemacht. Ob das nun der Wirklichkeit entspricht, | |
| sei dahingestellt, schön erzählt ist es allemal. | |
| Neben Romanen, Graphic Novels, Sach- und Kinderbüchern findet sich | |
| tatsächlich eine außergewöhnlich große Zahl von Übersetzungen slowenischer | |
| Dichterinnen und Dichter in den aktuellen Programmen der deutschen Verlage. | |
| Da wäre die äußerst umfangreiche Anthologie „Mein Nachbar auf der Wolke“, | |
| die einen weitreichenden Einblick in die Vielfalt der slowenischen Lyrik | |
| des 20. und 21. Jahrhunderts gibt. | |
| ## Gedichte und Essays | |
| Da wären die erstmals übersetzten Gedicht- und Essaysammlungen des | |
| „slowenischen Rimbaud“ Srečko Kosovel („Mein Gedicht ist mein Gesicht“… | |
| wäre der Band mit bisher unübersetzten Gedichten des legendären | |
| Regimekritikers, Börsenbrokers und Kulturattachés Tomaž Šalamun („Steine | |
| aus dem Himmel“), und da wären die neuen Bücher zeitgenössischer Lyriker | |
| wie Aleš Šteger („Atemprotokolle“) Uroš Prah („Erdfall“) oder Anja Z… | |
| Golob („dass nicht …“). | |
| [1][Golob, die zu den Shootingstars der slowenischen Dichterszene gehört, | |
| kritisierte im Gespräch mit der taz, dass Slowenien sich zwar als Land der | |
| Dichter vermarkte], aber viel zu wenig dafür tue, dass die Lyrik im eigenen | |
| Land wieder mehr gelesen und verlegt wird. | |
| Golob ist eine der promintentesten Publizistinnen Sloweniens, was auch | |
| daran liegt, dass sie nicht nur Dichterin, sondern auch politische | |
| Kolumnistin ist, die für ihre scharfe Kritik bekannt ist. | |
| Fast könnte man sagen, dass Kritik ein wesentlicher Bestandteil | |
| slowenischer Kunst ist. Besucht man beispielsweise am See von Bled die | |
| Kirche St. Martin, steht man schmunzelnd vor dem Fresko des legendären | |
| Malers Slavko Pengov. Das „Letzte Abendmahl“, das er hier in den 1930er | |
| Jahren auf die Wände gemalt hatte, zeigt anstelle von Judas Iskariot das | |
| Gesicht des sowjetischen Politikers Wladimir Iljitsch Lenin. | |
| ## Hitler und Mussolini als Hampelmänner | |
| Das Vorbild dafür war ein anderer slowenischer Maler, der für diese Form | |
| einer subtilen Kritik international berühmt geworden war: Tone Kralj, der | |
| zwischen 1922 und 1952 in über 40 Kirchen Bibelfiguren mit den Gesichtern | |
| von Mussolini oder Hitler malte, die als Mörder, Henker oder Hampelmann | |
| erschienen. | |
| Diese leicht verschmitzte, subversive und mit historischen Vergleichen | |
| arbeitende Kritik der Kunst zieht sich bis heute durch Slowenien, man denke | |
| nur an [2][Slavoj Žižek] oder die [3][Gruppe Laibach.] | |
| Wie es sich für ein Land Mitteleuropas gehört, ist die Historie, vor allem | |
| die des 20. Jahrhunderts, in der slowenischen Literatur immer noch ein | |
| großes Thema, das es zu verarbeiten gilt. | |
| Die anlässlich der Messe nun neu übersetzten Romane setzen sich mit | |
| Faschismus, Kommunismus und slowenischer Identität auseinander und wie die | |
| Großwetterlagen sich auf die familiären, die dörflichen und die urbanen | |
| Milieus auswirkten. Oft handelt es sich um klassische Familienromane. | |
| ## Reiche Deutsche, slowenische Bauern | |
| So wird beispielsweise in Vinko Möderndorfers „Die andere Vergangenheit“ | |
| (Residenz Verlag) das zweisprachige Dorf Dolina über drei Generationen | |
| hinweg porträtiert. In Dolina haben die reichen, deutschen Wald- und | |
| Sägewerkbesitzer seit jeher das Sagen und treffen auf die mehrheitlich | |
| slowenischen Bauern und Arbeiter, auf den Bürgermeister und Gastwirt Novak, | |
| später auf die Partisanen. Möderndorfer zeigt die großen Schwierigkeiten, | |
| aber auch die großen Momente, die so eine multikulturelle Gemeinschaft mit | |
| sich bringt. | |
| In Roman Rozinas „100 Jahre Blindheit“ ist es die Familie Knap, in die 1900 | |
| der kleine Matija geboren wird und sein Leben lang blind bleibt. Rozina | |
| porträtiert mit seinem Roman, wie das 20. Jahrhundert durch | |
| Industrialisierung, Krieg und Emanzipationsbewegung die Familie vor immer | |
| neue Herausforderungen stellt. | |
| Mojca Kumerdeys „Chronos erntet“ (Wallstein) beginnt mit den Sätzen: „Das | |
| Land durchlebte moralisch-meteorologisch-medizinische Katastrophen. Genau | |
| wie im Alten Testament, wie das Volk feststellte.“ Ein toller Einstieg, der | |
| im Prinzip der erste Satz der allermeisten Romane sein könnte. Kumerdey | |
| erzählt in ihrem die Geschichte einer Bauerntochter, die sich im 16. | |
| Jahrhundert gegen das Patriarchat wehrt, und zeigt, wie zwischen Aufklärung | |
| und Aberglaube Fährten in Diktatur und Unterdrückung führen. | |
| ## Kampf um Autonomie der Frauen | |
| Von den Schwierigkeiten der Emanzipation handelt auch der neue Roman der | |
| Kärntner Slowenin Maja Haderlap „Nachtfrauen“ (Suhrkamp). Sie erzählt von | |
| Mira, die in Wien das Leben einer Akademikerin führt und nach Slowenien | |
| fahren muss, weil ihre alternde Mutter Anni Hilfe braucht. Diese Rückreise | |
| ist eine Begegnung mit ihrer eigenen und der Vergangenheit ihrer Familie | |
| und vor allem mit der der slowenischen Frauen aus dem Dorf. Anhand von drei | |
| Generationen wird der Kampf um individuelle Autonomie dieser Frauen | |
| erzählt. | |
| „Waben der Worte“ heißt übrigens das Motto des slowenischen Auftritts in | |
| Frankfurt. Es wurde gewählt, weil Slowenien nicht nur die meisten Dichter, | |
| sondern auch die meisten Imker hat. Tatsächlich entstand nur zehn Kilometer | |
| vom See von Bled entfernt die moderne Imkerei: Der von dort stammdende | |
| Anton Janša war erster Hofimker in Wien. Seine Techniken werden bis heute | |
| beim Imkern verwendet und an seinem Geburtstag, am 20. Mai, wird der | |
| Welttag der Bienen gefeiert. | |
| Und schließlich ist die aus Slowenien stammende „Krainer Biene“ die | |
| zweitmeistverbreitete Bienenart der Welt und gilt als fleißig, ruhig und | |
| bescheiden. Das ist schon sehr lustig, denn die Biene erinnert an die | |
| Vorurteile, mit denen man die Slowenen gerne aufzieht. | |
| Vorurteile haben aber auch die Slowenen. Der Autor Vojnović beispielsweise | |
| beschäftigt sich in seinem Roman „18 km bis Ljubljana“ mit den Vorurteilen | |
| der Slowenen gegenüber Menschen anderer Nationalität. Andrej Blatnik | |
| wiederum behandelt in „Platz der Befreiung“ die Vorurteile, die die | |
| Slowenen gegenüber dem Kapitalismus und der Unabhängigkeit pflegten. Ein | |
| Urteil über die slowenische Literatur und Dichtung kann man sich jetzt | |
| jedenfalls in Deutschland ganz gut selbst bilden. | |
| 17 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
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