# taz.de -- Slavoj Žižek über Krieg und Klima: „Ich bin gegen die woke Lin… | |
> Der Philosoph Slavoj Žižek will „Kriegskommunismus“ zur Bewältigung der | |
> Klimakrise. Was soll das sein? | |
Bild: Slavoj Žižek, wohin geht die Reise in Zeiten von Spätkapitalismus und … | |
Slavoj Žižek betritt das Foyer eines Hotels in Frankfurt am Main, und seine | |
Stimme ist sofort raumfüllend. Beim Gespräch gibt er sich alle Mühe, seinem | |
Ruf als „der gefährlichste Philosoph des Westens“ gerecht zu werden. Wie in | |
allen Porträts über ihn vermerkt, denkt und redet er assoziativ, ohne Punkt | |
und Komma. Als Zwangsneurotiker, sagt er, spreche er nicht deshalb | |
ununterbrochen, damit etwas geschehe, sondern weil nichts geschehen könne, | |
solange er selbst rede. | |
wochentaz: Herr Žižek, Ihre Antwort auf die Bedrohung der menschlichen | |
Lebensgrundlagen durch die Erderhitzung lautet: Kriegskommunismus. Was | |
soll das sein und was soll das bringen? | |
Slavoj Žižek: Wir sind in einer Lage, in der man die Wahrheit zwar ohne | |
Probleme aussprechen kann, doch diese Wahrheit wird nicht ernst genommen. | |
Das Ekelhafteste der vergangenen Jahre war die UN-Klimakonferenz in | |
Glasgow, alle waren sie da, der damalige Prince Charles und alle anderen. | |
Und sie alle sagten, wie ernst es sei und wie schlimm es stehe, aber es war | |
bereits in der Veranstaltung und ihrer Funktion inbegriffen, dass das keine | |
echten Konsequenzen haben würde. Unsere grundsätzliche Haltung ist: Wir | |
wissen, dass es ernste Probleme gibt, aber wir akzeptieren nicht, dass wir | |
wirklich unsere Art zu leben ändern müssen. | |
Sondern? | |
Unsere Haltung ist immer noch: Lasst uns mal schön drüber sprechen und | |
vielleicht ändern wir dann opportunistischerweise hier und dort ein kleines | |
bisschen. Der letzte Schock in dieser Beziehung war für mich der russische | |
Krieg gegen die Ukraine. Ich habe einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, | |
was unser geheimer oder gar nicht so geheimer Wunsch war. | |
Nämlich? | |
Der Wunsch war: Okay, lasst uns das schnell beenden, Russland gewinnt | |
sowieso. Ich sprach anfangs mit einigen Politikern, die mir sagten: Es wird | |
schnell vorbei sein, dann werden wir ein paar Jahre gegen Russland | |
protestieren, aber schnell zum Normalen zurückkehren. Die schlimmste | |
Überraschung war, dass die Ukrainer nicht bereit waren, so einfach zu | |
verlieren. Und obwohl wir nun so tun, als bewunderten wir ihren Heroismus, | |
sind wir im Geheimen wütend auf die Ukrainer, weil sie nicht verlieren | |
wollen. | |
Da werden wir total sauer, wenn man uns das unterstellt. | |
Ja, das mögen wir nicht. Es ist eine total verdrehte Situation, und das ist | |
auch der Grund, warum ich in Deutschland praktisch nicht mehr vorkomme, ich | |
komme ab und zu noch in der Welt vor. Aber zum Beispiel die Zeit hat mich | |
fast verboten. | |
Die Zeit-Kollegen sagen, das sei ja wohl der Witz des Universums. | |
Wann haben Sie mich zum letzten Mal in der Zeit gelesen? In Großbritannien | |
habe ich regelmäßig im Guardian geschrieben, dem größten britischen | |
Linksliberal-Mitte-Medium, jetzt bin ich da praktisch verboten. Das ist | |
das, was Sie gerade eingeworfen haben: Man sollte solche Dinge nicht | |
aussprechen. | |
Noch mal zur Ausgangsfrage: Was ist Kriegskommunismus? | |
Ich meine damit etwas ganz Einfaches. Als die Pandemie begann, riefen sogar | |
Boris Johnson und ganz besonders Trump: Hier passieren Dinge, die man nicht | |
dem Markt überlassen kann. Der Letzte, der in dieser Hinsicht wirklich | |
gehandelt hat, war der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt 1942 | |
im Zweiten Weltkrieg: Direkte Anweisungen an die Industrie, Flugzeuge, | |
Waffen, das und das müsst ihr tun. Ich träume nicht von einer künftigen | |
Regierung der unglaublichen Solidarität. Denken Sie nicht, dass wir uns auf | |
die Klimakrise wirklich vorbereiten müssen? Ich zitiere jetzt einen | |
Philosophen, der als rechts gilt, aber sehr viel ambivalenter ist. | |
Sie sprechen von Sloterdijk? | |
Richtig. Peter Sloterdijk. Er sprach über „objektive Sozialdemokratie“, wie | |
er das nennt. Das meint nicht die Partei, sondern Maßnahmen, die heute zum | |
Sozialkontrakt von Gesellschaften gehören: kostenlose Schule, kostenlose | |
Gesundheitsversorgung und so weiter. Wir sollten davon so viel wie möglich | |
behalten – und uns zudem als Gesellschaft auf die ökologischen und | |
ökonomischen Probleme vorbereiten, aber auch verstehen, dass lokale | |
Probleme globale Gründe haben. Man kann sie nicht lokal lösen, es braucht | |
Koordination, die größer als nationalstaatliche ist. | |
Zuerst mal wollen Sie aber einen zentralistischen Ökostaat im Kriegsmodus? | |
Ich sage nicht Verstaatlichung, ich kenne die daraus resultierenden | |
Probleme ja genau. Es gibt dann Korruption, es wird ineffizient und so | |
weiter. Aber manchmal braucht es eine soziale Intervention, die den Markt | |
reguliert. Das nenne ich provokativ Kriegskommunismus, aber eben um klar | |
zu machen: Das ist kein kleiner Albtraum, der am Morgen wieder vergangen | |
ist. Wir sind jetzt in einer permanenten Notlage. Darin enthalten ist auch | |
reale Kriegsgefahr. Das betrifft nicht nur die Ukraine. Wie Walter Benjamin | |
sagt: Wir können nicht einfach, wie Marx dachte, den Zug Richtung Zukunft | |
übernehmen; was wir brauchen, ist die Notbremse. Wir müssen aus diesem Zug | |
aussteigen. | |
Wie wäre es, zu sagen: Leute, ihr seid erwachsen, es gibt zwei | |
Möglichkeiten: Wir passen uns an den Klimawandel an und machen die | |
Wirtschaft zukunftsfähig – oder wir lassen es bleiben. Mehrheit | |
entscheidet. Ihr habt die Freiheit; auch zu Aufgabe und Unfreiheit. [1][In | |
der Hoffnung, dass dadurch klar wird, dass wir im Moment eben nicht handeln | |
und uns aktiv für Handeln entscheiden.] | |
Da stimme ich total mit Ihnen überein, sehr gut. Die ganze Strategie des | |
hegemonialen Diskurses von heute zielt darauf, zu sagen, wir tun ja schon | |
das „Mögliche“. Aber Kriegskommunismus geht weiter: Roosevelt sagte nicht, | |
wir brauchen mehr Waffen, er befahl es. Es geht nicht darum, was der Markt | |
will oder was die Leute wollen: Wir sind in einem Krieg ums Überleben und | |
brauchen jetzt ein bisschen mehr von einer guten Herrschaft. | |
Das ist Populismus. | |
Ist es nicht, weil es gegen die populäre Meinung gehen muss. Was ist | |
Populismus heute? Etwas sehr Seltsames. Erinnern Sie sich an den 6. Januar | |
2021 in Washington? Die neue Rechte stahl uns mit ihrem Sturm aufs Kapitol | |
sogar die Revolution. Trumps Chefideologe Steve Bannon sagte: Ich bin ein | |
wahrer Leninist, ich will den Staatsapparat zerstören. Die paradoxe | |
Situation war dann, dass die Linke plötzlich die Sprache von Gesetz und | |
Ordnung sprach, nach der Nationalgarde rief und sagte: Warum greift die | |
Polizei nicht brutaler durch? Aber wenn Sie diesen softautoritären Schub | |
Richtung stärkerer Staat und Kriegskommunismus nicht mögen: Was ist denn | |
Ihre Lösung? | |
Meine Antwort ist und bleibt die liberale Demokratie und das Argument. | |
Ja, ja, ich weiß selbstverständlich, wie wertvoll die liberale Demokratie | |
ist, keine Frage, aber meine Sorge ist: Kann sie immer noch Leute | |
mobilisieren? Zumindest brauchen wir mehr Notfallstaat-Mobilisierung oder | |
vielleicht mit noch mehr Entfremdung – Leute, die dadurch zulassen, dass | |
der Staat handelt. | |
Ich geben Ihnen recht, dass wir in einer grotesken Parodie von Habermas’ | |
kommunikativem Handeln Sprechen mit Machen verwechseln. Je stärker wir | |
beschwören, die Klimakrise bekämpfen zu wollen, desto mehr CO2 hauen wir | |
in die Atmosphäre raus. Um in Ihren Psychologien zu denken: Ist uns das | |
wirklich nicht klar oder tun wir das absichtlich? | |
Hier bin ich ein Pessimist: Unterschätze nie das Ausmaß, in dem Leute | |
bereit sind, sich selbst zu täuschen. Die Frage ist nicht einfach, ob wir | |
das absichtlich tun oder nicht. Das hier ist etwas, was Freud in | |
wunderbarer Sprache die fetischistische Verleugnung nennt. Wir wissen, dass | |
es Ernst ist, aber wir nehmen es trotzdem nicht ernst. Wir wissen um die | |
Gefahren, aber wir können dennoch nicht handeln. Da ist etwas Verzweifeltes | |
in dieser Situation, vielleicht – entschuldigen Sie, wenn ich das sage – | |
brauchen wir eine ernsthafte Katastrophe für das Aufwachen. | |
Ich mag das überhaupt nicht, auf eine geile Katastrophe zu hoffen, weil wir | |
Menschen es angeblich sonst nicht kapieren. | |
Tja. Wir in Westeuropa lebten auf einem wunderbar isolierten Kontinent, | |
Krieg gab es nur im Fernsehen. Der Krieg gegen die Ukraine dagegen ist in | |
unserer Nähe, wir können ihn nicht wegschieben. Das bringt aber wieder | |
eigene Probleme mit sich. Während ich die Ukraine hundertprozentig | |
unterstütze, so mag ich es doch nicht, wenn Selenski sagt: Wir verteidigen | |
die europäische Zivilisation. Damit spricht er Putins Sprache, indem er das | |
Gegenteil von Putin sagt, also Westeuropa sei dekadent und so weiter. Nein, | |
das ist ein radikalerer und generellerer Konflikt. Wir verteidigen einige … | |
nennen wir das mal naiv: Werte. Universale Werte. Die wirkliche Lektion | |
aber ist, dass es eben auch nicht mehr rein lokale Kriege gibt. Und genau | |
deshalb haben wir auch nicht mehr das Recht, auf Distanz zu bleiben. | |
Der russische Angriff auf die Ukraine hat uns Deutsche aus unserem | |
gemütlichen geopolitischen Nirwana geworfen. Wir haben angefangen, darüber | |
nachzudenken, ob der Hinweis auf die deutsche Schuld noch angewendet werden | |
kann, um sich aus allem rauszuhalten. | |
Aber haben Sie eine Antwort, wie man Leute mobilisiert? Ich meine | |
mobilisieren im Sinne des Wortes, und ich meine gerade Linksliberale. Die | |
sagen oft zu mir: Ich hab die Patenschaft für ein kleines Kind in Somalia | |
übernommen, ich sende jeden Monat 50 Dollar, einmal im Jahr kriege ich ein | |
Foto. | |
Was wollen Sie uns sagen? | |
Ein australischer Stamm, glaube ich, hat Folgendes zu westlichen Besuchern | |
gesagt: Wenn ihr gekommen seid, um mit uns zu kämpfen, willkommen. Wenn ihr | |
aber gekommen seid, um mit uns zu sympathisieren, dann verpisst euch. Ich | |
will sagen: Wir müssen diese Charity-Logik ablegen, die darin besteht, dass | |
wir bezahlen, damit andere bleiben, wo sie sind, weit weg von uns – und wir | |
nichts an dem ändern müssen, wie wir leben. Und jetzt sage ich Ihnen mal | |
etwas, wofür mich viele Linke hassen. | |
Bitte. | |
Ich habe nie diese simplizistische Theorie akzeptiert, dass man seinen Grad | |
an radikalem Linkssein daran bemisst, wie viel Einwanderung man möchte. | |
Zunächst mal: Offene Einwanderung ist keine Lösung, sondern fast schon eine | |
Formel für Bürgerkrieg. Zweiter Punkt: Diejenigen, die kommen, sind in der | |
Mehrheit die Privilegierten dort, die sich die Inanspruchnahme dieser | |
Netzwerke und der Fluchtindustrie leisten können. Häufig junge Männer. Es | |
bringt nichts, darüber nachzudenken, wie viele hierher kommen sollen. Meine | |
wahre Sympathie gilt denen, die dort bleiben. Es braucht also einen | |
grundlegenden radikalen Wechsel, globalökonomisch, sonst wird das nicht | |
funktionieren. | |
Wo soll der herkommen? Der Westen hat viele Fehler gemacht beim Versuch, | |
anderswo grundlegende Wechsel durchzusetzen. | |
Ja, Putin ist die Reaktion gewesen auf die katastrophale ökonomische | |
Situation in den Jelzin-Jahren unter westlichem Einfluss. Der Westen hat | |
damals mit seinen ökonomischen Ratschlägen Russland Richtung China | |
geschoben. Schauen Sie: China hat den Kapitalismus intelligenter | |
eingeführt, man begann mit kleinen Unternehmen, die natürliche Ressourcen | |
für den alltäglichen Bedarf hergestellt haben. In Russland war das | |
umgekehrt: Sie privatisierten Öl, Minen, Rohstoffe, das war eine | |
Katastrophe. Anti-Eurozentrismus ist heute fast schon eine Mode. Die | |
Mehrheit der Linken in Lateinamerika, Putin und die Rechten in den | |
Vereinigten Staaten haben eines gemeinsam: Hass auf das vereinte Europa. | |
„In Vielfalt geeint“ heißt das schöne Motto der EU. | |
Ich denke immer noch, dass Europa ein großes Vermächtnis der Emanzipation | |
und der EU-Idee hat, dass verschiedene Kulturen zusammen ihre Probleme | |
lösen. | |
Das ist ja eine total langweilige Position für einen Provokateur wie Sie. | |
Die habe ich auch. | |
Ja, die ist langweilig. Ich weiß schon, dass die Leute mich den Kerl | |
nennen, der gern das Gegenteil sagt, das mag auch so sein. Aber vielleicht | |
ist ja langweilig sein die neue Haltung. Was ist denn die Alternative? | |
Katastrophe. Nein: Ökonomisch vereint, aber kulturell getrennt, das ist | |
mein Ideal. | |
Also auch nicht den viel beschworenen Kulturgraben zwischen Stadt und | |
Land, Osten und Westen bearbeiten? | |
Nein, nehmen Sie die Schweiz: ökonomische Vereinigung mit kultureller | |
Autonomie. Wales, Schottland! Kulturelle Identitäten sind die besten Waffen | |
gegen neue rassistische Tendenzen. Aber ich zweifle, ob die traditionellen | |
liberalen Demokratien in Zukunft funktionieren werden. Man hat alle vier | |
Jahre Wahlen, während China bis 2050 durchplanen kann. Wir brauchen eine | |
Idee, wie wir individuelle Freiheit schützen und dennoch größere | |
Koalitionen hinbekommen. Deshalb bin ich auch so gegen die woke Linke. Weil | |
sie spaltet sich in Kleingruppen, die sich gegenseitig attackieren. Statt | |
Gemeinsames voranzubringen, sät sie ständiges Misstrauen gegenüber allem, | |
was man sagt, und völlig ohne grundsätzliches Programm. Das ist wirklich | |
tragisch und selbstzerstörerisch. Wir werden uns stärker in Richtung große | |
Koalitionen orientieren müssen. Vielleicht hatte ja Deng Xiaoping recht – | |
dafür werden Sie mich jetzt aber wirklich hassen –, dass er dem Druck 1989 | |
nicht nachgegeben hat, in China Demokratie einzuführen. | |
Er hatte recht damit, [2][den Studentenprotest für Freiheit mit Panzern | |
brutal niederzuschlagen zu lassen und eine drei- bis vierstellige Zahl | |
Menschen umzubringen?] | |
Nein, das nicht, aber es gibt unglaubliche Spannungen, etwa zwischen der | |
Region Peking und der Region Shanghai. Wenn man Mehrparteiendemokratie | |
einführte, das ist die These, würden sich die Parteien nicht nach | |
politischen, sondern nach geografischen, lokalen, ethnischen, | |
nationalistischen Gesichtspunkten sortieren und alles würde | |
auseinanderbrechen. Was Deng Xiaoping tat, ist dieses: Ein starker Staat, | |
auf starker nationaler Verteidigungslogik fußend, übt moderate Kontrolle | |
über die Wirtschaft aus. Eigentlich hat er China von einem kommunistischen | |
zu einem moderat faschistischen Land verwandelt. Das wird auf Dauer aber | |
auch nicht funktionieren. In China sind sie verzweifelt, die ganze Zeit | |
Proteste. | |
Dann hatte Deng also doch nicht recht? | |
Das Problem ist: Wie tut man das, was China tut, ohne seine | |
neofaschistische Formel zu benutzen? Ich denke, wir brauchen auf jeden Fall | |
sehr große Koalitionen – aber die dominante liberale Logik verhindert jede | |
Form einer größeren Koalition. | |
Sie sprechen immer so routiniert über „die Linke“. Gibt es die überhaupt? | |
Im alten Sinne nicht. Allerdings brauchen wir die Linke mehr denn je. | |
Unsere Gesellschaften sind mehr und mehr blockiert von einer Konstellation | |
mit einem liberalen Zentrum – prokapitalistische Leute, kulturell immer | |
progressiv, wie sie das nennen, die ein bisschen mit Sozialrechten flirten, | |
jaja, den armen Armen helfen blabla. Und dann gibt es zunehmend die neuen | |
Rechtspopulisten. Das große Problem ist es, aus dieser Konstellation | |
herauszukommen. Leute wie Trump sind nicht vom Mond heruntergefallen, das | |
dürfen wir nie vergessen. Sie werden stark, [3][weil viele normale Leute | |
sehr unzufrieden sind mit dieser dominierenden liberalen Demokratie]. | |
Nun die Gretchenfrage für Sie als Marxisten: Marx wusste nichts von den | |
Folgen fossiler Produktion … | |
Ja, aber … | |
Jetzt lassen Sie mich auch mal was sagen. | |
Bitte. | |
Das marxistische Denken, die Sozialdemokratie sowieso, kann den | |
Verteilungsanspruch nicht zusammenbringen mit einer Gerechtigkeit, die auch | |
Natur nicht mehr ausbeutet und zudem die Rechte der Zukünftigen sichert. | |
Ja, stimmt. Sie haben recht, dass Marx die Grenzen des Wachstums nicht | |
wirklich klar waren, aber er hat da immerhin dran rumgedacht. Brutal gesagt | |
aber war Marx’ Idee von Kommunismus: Kapitalismus ohne Kapitalismus. Die | |
gleiche kapitalistische Dynamik einer permanent wachsenden Produktion – | |
ohne Kapital, expansive Produktion ohne Profitmotiv. Das war sein großer | |
Traum – und der war falsch. Ich denke, dass wir grundsätzlich aufhören | |
sollten [4][mit der Idee des Fortschritts.] Nicht im reaktionären Sinne, | |
sondern in dem Sinn, den uns die Geschichte gelehrt hat. Falls sie uns | |
irgendwas gelehrt hat. | |
Heißt? | |
Jede Epoche muss radikal Fortschritt neu definieren. Das ist der Grund, | |
warum ich mich als Hegelianer definiere. | |
Hab mich schon gefragt, wann Sie endlich Hegel ins Spiel bringen. | |
Wissen Sie, was das Großartige an Hegel ist? Wann immer etwas Großes | |
passierte, war seine erste Frage: Wie können jetzt die Dinge schieflaufen? | |
Wie entstand aus der Freiheit der Französischen Revolution der Terror? Das | |
hat ihn geprägt. Hegel würde die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts geliebt | |
haben, die war fast paradiesisch. | |
Hm. | |
Doch. Frieden, Fortschritt, sozialer Fortschritt. Doch dann kam der Erste | |
Weltkrieg. Wie entsteht aus einem halben Jahrhundert Paradies diese | |
Megakatastrophe? Das wäre Hegels Moment gewesen, und deshalb brauchen wir | |
heute Hegel. Bei all den verrückten Dingen, die wir tun und im Begriff sind | |
noch zu tun, brauchen wir Leute, die uns sagen, wie Dinge schiefgehen | |
können, um sie gegebenenfalls nicht zu tun. | |
Zum Beispiel? | |
Denken Sie an die verrückte Idee, Schwefel in die Atmosphäre zu schießen, | |
um das Weltklima abzukühlen. Wer weiß denn, welche anderen Katastrophen das | |
triggern kann? Wir brauchen nicht einfach neue Utopien. Wir brauchen mehr | |
denn je kritisches Denken, das permanente Aufmerksamkeit darauf richtet, | |
wie die Dinge schiefgehen können. Hier muss ich zugeben, dass Rosa | |
Luxemburg das schon 1918 bei Lenin gesehen hat, als sie kritische | |
Bemerkungen zum Bolschewismus schrieb. Sie war aber auch naiv, als sie | |
sagte: Die Zukunft ist entweder Sozialismus oder Barbarei. Mit Stalin | |
bekamen wir beides gleichzeitig. Jedenfalls ist die kritische Lage, in der | |
wir sind, der Grund, warum wir die Philosophie mehr denn je brauchen. | |
Letztlich sei Demokratie nur ein Deckmäntelchen für Kapitalismus, sagen | |
Sie. | |
Wo habe ich das gesagt? | |
In Ihrem neuen Buch. | |
Das ist eine Provokation. | |
Die Frage ist dann aber doch: Leben wir in der Illusion einer liberalen | |
Demokratie? | |
Nein, nein, ich bin ein guter Hegelianer und weiß, dass Illusionen nie nur | |
Illusionen sind. Marx sah das sehr klar: Illusionen erhalten unsere | |
Wirklichkeit. Ich bin nicht gegen Demokratie. Ich denke nur: Wenn wir | |
überleben wollen, muss die Demokratie neu erfunden werden. | |
10 Jul 2023 | |
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