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# taz.de -- Buch über linke Identitätspolitik: Ein Selbstgespräch
> Susan Neiman möchte mit ihrem Buch antiaufklärerisches „Stammesdenken“
> der Wokeness kritisieren. Aber ihre Analyse ist nicht nur thematisch
> unscharf.
Bild: Die Philosophin Susan Neiman
Gleich zu Beginn: Susan Neiman hat ein schlechtes Buch geschrieben. In
ihrer knapp 175-seitigen Streitschrift versucht die Philosophin zu zeigen,
dass [1][„Woke“-Sein und linke Werte] unverträglich sind. Doch bei Neimans
Buch handelt es sich nicht um eine gelungene Auseinandersetzung mit
problematischen Tendenzen der gegenwärtigen politischen Kultur. „Links ≠
woke“ ist vor allem ein Selbstgespräch.
Neiman betont treffend, dass sich „woke“ inzwischen „vom Lobes- zum
Schmähwort“ gewandelt hat und als Chiffre kaum mehr über einen greifbaren
Bedeutungskern verfügt. Doch das hält die Autorin nicht davon ab, in ihrem
Buch so gut wie keine konkreten Bezüge herzustellen zu allem, was sie da so
vorschnell in einen Topf wirft.
Überspitzt formuliert: „Links ≠ woke“ ist ein Buch ohne Gegenstand.
Medienberichterstattung und Feuilletondebatten der letzten Jahre behandelt
Neiman kaum, abgesehen von wenigen Verweisen auf die News York Times oder
den New Yorker. Selbst die progressiven politischen Bewegungen kommen nicht
zu Wort.
Das ist unfair und wird den so pauschal Gescholtenen nicht gerecht.
Selbstdarstellungen, interne Auseinandersetzungen um Visionen und
Deutungshoheit oder der Kampf mit dem Rest der Gesellschaft um Einfluss
oder gar um Hegemonie – genügend Material gäbe es.
## Welcher Kontext?
Die Analyse in „Links ≠ woke“ ist darüber hinaus nicht nur wegen der vie…
schnellen thematischen Sprünge unscharf, sondern auch weil Neiman
regelmäßig den US-amerikanischen und den deutschen Kontext durcheinander
wirft. Nicht zuletzt ist das Buch von einer gescheit daherkommenden
Selbstgewissheit geprägt, die an andere ärgerliche Texte, wie etwa Per Leos
bizarre Polemik zum Umgang der Deutschen mit ihrer NS-Vergangenheit,
erinnert.
Die zentrale Annahme von „Links ≠ woke“ lautet: die heute so wirkmächtig…
identitätspolitischen Vorstellungen seien von einem „Stammesdenken“ geprä…
und negieren die zentralen linken Prinzipien Universalismus, Gerechtigkeit
und Fortschritt. Das ist eine sehr zugespitzte, jedoch nicht uninteressante
Zeitdiagnose – die allerdings argumentativ begründet werden müsste.
Doch Neiman hält sich mit einer ernsthaften Beweisführung nicht auf.
Stattdessen springt sie schnell weiter: hin zu einer ideengeschichtlichen
Herleitung des monierten Status quo.
Dass die Werte Universalismus, Gerechtigkeit und Fortschritt aktuell so ins
Hintertreffen geraten seien, erklärt Neiman nicht mit Verweisen auf
politische Praxis oder jüngere Theoriebildung. Die Autorin meint vielmehr,
der gegenwärtige politische Diskurs sei vom Denken der Philosophen Michel
Foucault und Carl Schmitt geradezu indoktriniert. Erneut bleiben die
angeblich so wirkmächtigen Stammeskrieger der Wokeness in ihrem Denken und
Handeln unsichtbar.
## Die „Volksfront“ gegen das „Stammesdenken“
Im letzten Teil ihres Buchs schlägt Neiman eine Brücke in die
Vergangenheit. Nicht nur sei das woke Denken – Achtung: Pointe! – von
eigentlich rechtem Denken „kolonisiert“. Heute befänden „wir“ uns dar�…
hinaus in einem historischen Momentum, das an die NS-Zeit erinnere. Gegen
den globalen Trend nach rechts müsse die authentische Linke, wie Neiman
schreibt, eine „Volksfront“ eingehen.
Ihre Partner seien nun aber ausgerechnet die Woken, die sie als historische
Wiedergänger „der stalinistischen kommunistischen Partei“ insinuiert. Warum
das so sei und wie das alles gehen könnte, verrät Neiman nicht.
Was bleibt von„Links ≠ woke“? Zunächst trifft Neiman vor allem in ihrem
zweiten Kapitel einen wichtigen Punkt, wenn sie demonstriert, dass Texte
von Kant und anderen Aufklärern nicht im Zuge eines enlightenment bashing
aus dem Diskurs oder gar den Universitäten verbannt, sondern [2][wieder
mehr gelesen und dabei in ihrer Vielschichtigkeit und Ambivalenz
wahrgenommen] werden sollten.
[3][Das ist keine neue Erkenntnis.] In der knappen Rekonstruktion von
einigen Klassikern der Ideengeschichte liegt jedoch die einzige Stärke von
Neimans Buch. Der Versuch einer Gegenwartsdiagnose ist ihr leider
vollkommen missglückt.
27 Aug 2023
## LINKS
[1] /Slavoj-iek-ueber-Krieg-und-Klima/!5943165
[2] /Immanuel-Kant-und-der-Rassismus/!5692764
[3] /Islamismus-Charlie-Hebdo-und-die-Linke/!5723540
## AUTOREN
Till Schmidt
## TAGS
Identität
Identitätspolitik
Antirassismus
Politisches Buch
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Frankreich
Black Lives Matter
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