# taz.de -- Slowenische Dichterin über Heimatland: „Wenn ich dichte, lebe ic… | |
> Slowenien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse und rühmt sich mit der | |
> „dichtesten Dichterdichte“. Eigentlich werde die Lyrik vernachlässigt, | |
> sagt Anja Zag Golob. | |
Bild: Die slowenische Lyrikerin Anja Zag Golob | |
taz: Frau Zag Golob, Slowenien ist [1][Gastland der Frankfurter Buchmesse] | |
und wirbt damit, das Land mit der dichtesten Dichterdichte zu sein. Ist das | |
ein guter Marketingtrick oder wird heute immer noch so viel und dicht | |
gedichtet wie früher mal? | |
Anja Zag Golob: Wahr ist, dass Slowenien sehr viel Poesie zu bieten hat. | |
Aber damit endet die romantische Geschichte auch schon. Das Angebot ist | |
groß, es wird experimentell und in freien Versen gedichtet, hier wird | |
gereimt und geslammt und das auch von sehr jungen Leuten. Aber gleichzeitig | |
wird immer weniger Lyrik verlegt. In Wahrheit ist die Lage der Dichtung in | |
Slowenien eine ziemliche Katastrophe. | |
So schlimm? | |
Es ist sehr leicht zu sagen: Slowenien ist ein Land der Dichtung. Aber die | |
Realität sieht anders aus. Worte sind billig. Und in diesem Fall stimmen | |
sie nicht mit der Wirklichkeit überein. | |
Wie sieht die Wirklichkeit aus? | |
Dass sich fast niemand kümmert. Die Lyrik wird vernachlässigt. Es wird | |
argumentiert, dass es sich nicht mehr lohnt, Lyrik zu verlegen, weil sie | |
niemand mehr kauft. Und so werden immer weniger Lyrikbände gedruckt, statt | |
sich zu überlegen, wie man das ändern kann, wie man Gedichte wieder | |
populärer machen kann. Es wäre die Aufgabe des slowenischen | |
Kulturministeriums und der slowenischen Buchagentur, spezifische Programme | |
und Strategien zu entwickeln, um slowenische Lyrik zu fördern und auch | |
Übersetzungen aus anderen Sprachen. | |
Immerhin haben im Vorfeld des Auftritts von Slowenien einige deutsche | |
Verlage die großen Namen des 20. Jahrhunderts, Tomaž Šalamun, Fabjan | |
Hafner, Srečko Kosovel, neu aufgelegt. Einige jüngere Stimmen, wie Ihre | |
oder die von Cvetka Lipuš und Uroš Prah, wurden veröffentlicht, ein | |
umfassender Sammelband mit [2][slowenischer Lyrik des 20. und 21. | |
Jahrhunderts] ist erschienen. | |
Das ist alles schön und gut, aber mein Eindruck bleibt, dass die Dichtung | |
Sloweniens vor allem als Schlagwort benutzt wird, um ein Image zu | |
verkaufen. Anders kann ich mir jedenfalls nicht erklären, warum wir | |
slowenischen Dichter und Dichterinnen den Verlagen hinterherlaufen wie dem | |
Bus, der einem vor der Nase wegfährt. Man steht immer Schlange bei den | |
Verlagen, es dauert teilweise drei Jahre, bis ein Buch erscheint. | |
Dichtung ist aber nicht nur in Slowenien schwer zu vermarkten. | |
Ja, Dichtung ist zurzeit nicht grade ein Must-have. Das hat aber vor allem | |
mit Vorurteilen zu tun. Irgendwann kam das Gerücht in die Welt, dass Lyrik | |
schwer verständlich, kompliziert, anstrengend und was für alte Leute oder | |
Kalender ist. Totaler Bullshit. Jeder kann Lyrik verstehen. Vor 20 Jahren | |
war es ganz normal, Gedichte zu lesen. Heute scheint das etwas Sonderbares | |
zu sein. Dabei gehört Lyrik ontologisch zum Menschen. | |
Was meinen Sie damit? | |
Wenn die Menschen den Kontakt zur Lyrik verlieren, verlieren sie den | |
Kontakt zu sich selbst. Wenn ich dichte, merke ich, dass ich lebe. Dichtung | |
lebt vom Rhythmus. Und was ist die Grundlage jeden Lebens? Der Herzschlag, | |
der Rhythmus. | |
Der Rhythmus, wo jeder mit muss, wie es ein deutsches Sprichwort besagt. | |
Ja, absolut. Aber man muss den Rhythmus auch halten können. Dafür muss man | |
kämpfen. Das kommt nicht einfach so, weder beim Schreiben noch beim Lesen | |
von Gedichten. Das verlangt Arbeit, was Lyrik auch ist – Arbeit. Man muss | |
sich selbst freimachen, muss sich öffnen, sonst bleibt man draußen. | |
Dichtung ist das letzte Refugium, in dem radikale Freiheit möglich ist. | |
Welche Freiheit meinen Sie? | |
Freiheit von allen Zwängen. Die Dichtung gibt mir die Möglichkeit, alles, | |
was ich mit Sprache machen kann, zu machen. Das ist reizend und sexy, eine | |
ernste Sache und gleichzeitig ein Spiel, es macht Spaß und Arbeit. Der | |
Kapitalismus übrigens hat gar keine Chance, in die Dichtung zu kommen. Da | |
aber alles der Verwertungslogik unterliegt, sehnen sich Menschen nach einem | |
Ort der Freiheit. Den scheinen viele momentan im Tätowieren gefunden zu | |
haben. Ihre Haut ist der letzte Ort ist, über den sie selbst bestimmen | |
können. | |
Angesichts des Hypes um Achtsamkeit, nachhaltiges Leben und Gedanken müsste | |
es doch irgendwie gelingen, dass Gedichte als Superfood anerkannt werden? | |
Jedenfalls nicht auf den sozialen Medien. Auf diesen Marktplätzen geht es | |
immer nur um den perfekten Körper und die beste Vermarktung. Das kann die | |
Dichtung nicht liefern. Sie lässt sich nicht kapitalisieren. | |
Ein Gedicht passt aber eigentlich wunderbar auf eine Instagram-Kachel. | |
Warum glauben Sie nicht an die sozialen Medien als Alternative zu einem | |
herkömmlichen Buchverlag? | |
Weil Lyrik Zeit, Aufmerksamkeit und Arbeit braucht. Und wenn es eins nicht | |
gibt in den sozialen Medien, dann Zeit und Aufmerksamkeit. | |
Ausgerechnet Ihre Lesungen sind aber doch bekannt dafür, nicht klassische | |
Lesungen, [3][sondern Performances mit starker Körpersprache] zu sein. | |
Ja, das passiert automatisch. Es ist aber auch irgendwie logisch: Lyrik | |
geht durch den Körper. Bei meinen ersten Lesungen hatte ich Angst davor, | |
dass sich alle über mich lustig machen, weil es ziemlich ungewöhnlich ist. | |
Und jetzt stehe ich da rum und wackele und lächle und die Leute lachen auch | |
manchmal, aber im Großen und Ganzen scheinen sie mich zu verstehen. | |
Hat Dichtung mehr mit Körper als mit Kopf zu tun? | |
Mit beidem. Auch wenn es erst mal so scheint, als habe Lyrik mehr mit Logik | |
zu tun, weil es um Worte geht. Aber bei Lyrik geht es so wie beim | |
Übersetzen weniger um die exakte Wortwahl als ums Verstehen der Stimmung. | |
[4][„gummitwist mit bestie körper“] heißt es in einem Ihrer Gedichte, die | |
voller Risse, Abgründe, Scharten und Krümel sind. Sind Ihre körperlichen | |
Zurichtungsfantasien auch beeinflusst von Ihren eigenen Erfahrungen? | |
Sicher, das lässt sich gar nicht vermeiden, allein weil ich keine | |
Cis-Person bin. Und natürlich überträgt sich diese Kraft, der Rhythmus, den | |
ich beim Dichten gefunden habe, beim Vortragen der Gedichte auch wieder | |
zurück auf meinen lebendigen Körper. | |
Wenn der Rhythmus Ihnen so wichtig ist: Inspiriert Sie ein Motörhead-Song | |
genauso wie ein Gedicht von Kosovel? | |
Vielleicht nicht gerade Motörhead, aber ja, ich höre viel Musik. | |
Sie spielen in Ihren Gedichten nicht nur mit Sprache, sondern auch mit | |
Form: Auslassungen, Abstände, Versalien – teilweise bilden Sie aus | |
einzelnen Worten eine Gestalt. Warum ist Ihnen das so wichtig? | |
Wenn Sie zwei Bücher öffnen, woran erkennen Sie, welches der Gedichtband | |
und welches die Novelle ist? | |
An der Textmenge? | |
Auf den Seiten der Novelle ist alles bedruckt. Auf den Seiten des | |
Gedichtbands ist viel Weißraum. Aber dieses Weiß ist nicht da, weil es in | |
Lyrik zu wenig Worte gibt, sondern um zu sprechen. Das leere Weiß öffnet | |
ein Feld. Da entstehen Fragen. Mit Unterbrechungen in den Zeilen baue ich | |
noch mehr Freiraum ein. Ich radikalisiere mich in dieser Hinsicht immer | |
mehr. In meinem neuen Gedichtband habe ich, so wie schon bei dem letzten, | |
alles weggenommen, was ablenkt, alle Krücken der Sprache, alle | |
Interpunktion. | |
Ist die Dichtung wegen ihrer anarchischen Möglichkeiten vielleicht das | |
letzte Antidot gegen die KI? | |
Möglicherweise, ja. Und gegen den Kapitalismus und gegen die Dummheit. | |
Sie sind einer der Shooting-Stars der zeitgenössischen Dichterszene | |
Sloweniens, eine bekannte Theaterkritikerin, politische Kolumnistin, haben | |
den einzigen slowenischen Verlag für Comics und Graphic Novels. Warum sind | |
Sie beim offiziellen Programm Sloweniens auf der Frankfurter Buchmesse | |
nicht dabei? | |
Es gab [5][im 2021 einen Leitungswechsel in der slowenischen Buchagentur | |
unter der populistischen Regierung von Janez Janša]. Der neue Leiter hat | |
mir prompt öffentlich vorgeworfen, ich hätte einen Interessenkonflikt, wenn | |
ich als Kolumnistin über den Auftritt Sloweniens in Frankfurt schreiben | |
würde und gleichzeitig als Lyrikerin im Ausland auftrete und damit | |
Slowenien repräsentiere. Um meine journalistische Freiheit als Kolumnistin | |
zu verteidigen, blieb mir nicht anderes übrig, als mich von dem | |
Buchmessenauftritt Sloweniens zu distanzieren, [6][was ich in einer Kolumne | |
im Oktober 2021] auch tat. | |
By the way, ich sehe meine Aufgabe als Dichterin nicht darin, irgendwen zu | |
repräsentieren außer mich und meine Literatur. Ich aber bin eine Frau des | |
Worts und stehe zu dem, was ich geschrieben und publiziert habe, da der | |
Leiter sich für seine unseriösen Anschuldigungen nicht entschuldigt hat. | |
Also bin ich nicht Teil des Gastlandauftritts, auch wenn das für meine | |
Karriere ziemlich scheiße ist. Aber mir ist die Verteidigung der | |
journalistischen Freiheit nun mal wichtiger. | |
13 Oct 2023 | |
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[4] https://korrespondenzen.at/dass-nicht/ | |
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[6] https://vecer.com/v-soboto/kolumna-anje-zag-golob-brez-kajti-10255492 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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