| # taz.de -- Kriegsverbrechen in Bosnien: Ineffektive Justiz | |
| > Im Jugoslawienkrieg wurden 20.000 Menschen Opfer sexualisierter Gewalt. | |
| > Doch Gutachten zeigen: Die bosnische Justiz arbeitet das nur langsam auf. | |
| Bild: Die Zusammenarbeit mit der bosnischen Justiz sei von Beginn an schleppend… | |
| Belgrad taz | In einer kleinen Galerie in der Belgrader Innenstadt hängen | |
| Mitte Oktober mehrere Porträtfotografien. Sie zeigen die Gesichter junger | |
| Menschen, einige von ihnen mit ihren Müttern. Sie nennen sich selbst Kinder | |
| des Krieges. Denn einige von ihnen sind geboren, weil ihre Mütter während | |
| des Bosnienkriegs 1992 bis 1995 vergewaltigt wurden. Sie spüren bis heute | |
| die Auswirkungen des Krieges: Ihre Existenz ist ein gesellschaftliches | |
| Tabu. Sie werden ausgegrenzt und erhalten keinerlei staatliche | |
| Unterstützung. | |
| 20.000 Menschen wurden [1][während der Jugoslawienkriege Opfer] | |
| sexualisierter Gewalt. Nur wenige konnten ihre Peiniger vor Gericht stellen | |
| oder Entschädigungszahlungen erhalten. Ein von der | |
| Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoguz (SPD) in Auftrag gegebenes | |
| Gutachten, das der taz exklusiv vorliegt, kommt nun zu dem Schluss, dass | |
| Verbrechen dieser Art in Bosnien und Herzegowina nur unzureichend | |
| aufgearbeitet werden. | |
| Demnach beklagen verschiedene Akteur:innen, dass die bosnische Justiz | |
| Kriegsverbrechen seit 2004 nur ineffektiv und langsam vor Gericht bringt. | |
| Vor allem komplexe Verfahren stehen auch 27 Jahre nach Ende des Krieges | |
| noch aus. Sie werden oft aufgeschoben, um Erledigungsquoten zu erfüllen. | |
| In einem Bericht von 2020 kommt das UN Committee on the Elimination of | |
| Discrimination against Women zu dem Schluss, dass „Ermittlungen zu | |
| konfliktbedingter sexueller Gewalt in Bosnien und Herzegowina ineffektiv | |
| und langsam waren und dass die Entschädigung und Unterstützung für die | |
| Opfer unzureichend war.“ | |
| ## Schwere Zusammenarbeit mit bosnischer Justiz | |
| „Das Gutachten unterstreicht, dass es gerade bei Opfern sexualisierter | |
| Gewalt an Unterstützung und Entschädigung mangelt“, sagt auch Özoguz | |
| gegenüber der taz. „Ihnen Zugang zu effektiven Verfahren und Kompensation | |
| zu verschaffen, ist unabdingbar.“ | |
| Dabei setzte Bosnien 2008 eine nationale Strategie im Umgang mit | |
| Kriegsverbrechen fest und ein eigens dafür eingerichtetes Organ sollte | |
| deren Einhaltung überwachen. Doch die komplizierte Zusammenarbeit zwischen | |
| der oberen bosnischen Justiz und den Bezirks- und Kantonsgerichten bereitet | |
| Probleme: Auf beiden Ebenen herrscht Bearbeitungsstau. | |
| Laut einem OSZE-Bericht waren 2020 immer noch mindestens 571 Fälle mit | |
| 4.498 Verdächtigen unbearbeitet. Und das sind nur die Fälle, bei denen die | |
| Täter schon feststehen. | |
| Laut OSZE-Bericht nimmt die Erledigungsquote seit 2017 stetig ab. 2020 | |
| schloss die Justiz insgesamt 18 Verfahren ab, mit einer letztinstanzlichen | |
| Verurteilung von 52 Prozent. 2016 brachte die Justiz noch 67 Verfahren zu | |
| einem Ende, 63 Prozent mit Verurteilung. | |
| Bis 2017 konzentrierte sich der in Den Haag ansässige Internationale | |
| Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) auf die | |
| strafrechtliche Verfolgung der politischen und militärischen Führungsebene | |
| der ehemaligen Kriegsparteien. Die bosnischen Gerichte sollten hingegen vor | |
| allem Verfahren gegen untere Befehlsebenen bearbeiten. Dafür wurde eigens | |
| eine Kammer eingerichtet. 2017 änderte sich das. Seitdem überwacht und | |
| unterstützt ein von den [2][Vereinten Nationen mandatiertes Tribunal] die | |
| Aufarbeitung durch die bosnische Justiz. | |
| Die Zusammenarbeit mit der bosnischen Justiz sei aber von Beginn an | |
| schleppend gewesen, sagte Carla Del Ponte, Chefanklägerin des ICTY, schon | |
| 2003. Insbesondere die Republika Srpska, eine der Teilrepubliken in Bosnien | |
| und Herzegowina, und die Partei der bosnischen Kroaten hätten sich | |
| gesträubt. | |
| ## Lauter Nationalismus im Balkanstaat | |
| Noch heute lassen sich regionale Unterschiede erkennen. Während in der | |
| Föderation Bosnien und Herzegowina sowie dem Brčko-Distrikt die | |
| Verurteilungsquote bei Fällen von sexualisierter Gewalt im Zeitraum 2004 | |
| bis 2016 bei 90 Prozent lag, lag sie in der Republik Srpska bei nur 50 | |
| Prozent. | |
| Währenddessen sind 27 Jahre nach Ende des Krieges viele Angeklagte zu alt | |
| oder krank, um noch vor Gericht gestellt zu werden. Andere sind in der | |
| Zwischenzeit gestorben. „Die Verfahren müssen schneller und effektiver | |
| werden“, sagt Özoğuz. „Nur so kann die wichtige Versöhnung zwischen den | |
| Ethnien in Bosnien und Herzegowina vorankommen.“ | |
| Doch aktuell [3][sind die nationalistischen Töne in dem Balkanland] so laut | |
| wie seit dem Ende des Krieges nicht mehr. Der serbische Nationalistenführer | |
| Milorad Dodik fordert immer wieder die Abspaltung der Republika Srpska und | |
| auch die Wahlen im Oktober gingen nicht ohne Zwischenfälle über die Bühne. | |
| 3 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jana Lapper | |
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