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# taz.de -- Jahrestag Genozid von Srebrenica: In Bosnien war kein Bürgerkrieg
> 28 Jahre nach dem Massaker leben Serben und Bosniaken in Srebrenica
> wieder nebeneinander. Über die Ereignisse redet man jedoch immer noch
> nicht.
Bild: Neben dem Gräberfeld entsteht eine moderne Gedenkstätte
SARAJEVO taz | Seit die [1][serbischen Radikalen wieder damit drohen, den
Staat Bosnien und Herzegowina unregierbar zu machen], ihn sogar in Stücke
zu reißen, ist für die Überlebenden des Massakers vom 11. Juli 1995 in
Srebrenica alles noch komplizierter geworden. Hier an dem Ort, wo die weit
über 6.000 Gräber von dem Massenmord, dem Genozid, zeugen, haben die
Überlebenden und Angehörigen seit über 20 Jahren mit Hilfe von außen eine
würdige Gedenkstätte errichtet. Doch diese Gedenkstätte liegt im serbisch
kontrollierten Teilstaat des Landes.
Was wird also passieren, wenn die serbische Führung unter Milorad Dodik die
erst vorige Woche ausgesprochene Drohung wahr macht, die serbische
Teilrepublik für unabhängig zu erklären? Die Gedenkstätte mit dem
weitläufigen Friedhof und den Hangars der alten Batteriefabrik, die damals
als Unterkunft der UN-Soldaten dienten, wird zwar heute von Polizisten aus
dem Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina kontrolliert. Denen ist es in den
letzten Jahren in der Tat gelungen, die Anlage, die Gräber und die Besucher
der Gedenkstätte vor Vandalismus zu schützen. Doch könnte diese Handvoll
von netten und hilfsbereiten Polizisten die Gedenkstätte bei einem
ernsthaften Angriff serbischer Extremisten verteidigen?
Wohl kaum. Die Überlebende und Sprecherin [2][der Mütter von Srebrenica,]
Munira Subašić, sieht aus dem Fenster und dem Vorgarten des schmucken
Häuschens, das ihr und einigen Mitstreiterinnen als Büro und gleichzeitig
als Wohnung dient, täglich die langen Reihen der Gräber der damals
Ermordeten. Die grauhaarige Dame lebt mit den Gräbern und ihrer Geschichte.
Unter ihnen auch die ihres Sohnes und Ehemannes, einem ehemaligen Direktor
der Bauxitmine von Srebrenica, deren Gebeine erst lange Jahre danach
geborgen werden konnten. Und natürlich erinnert sie sich, welche erneuten
Erniedrigungen, welche Übergriffe und Beleidigungen die überlebenden Opfer
und sie selbst kurz nach dem Krieg aushalten mussten, um ihrer ermordeten
Angehörigen zu gedenken.
## Erinnerungen an glückliche Zeiten vor dem Genozid
Munira Subašić ist bis heute das Gesicht der Überlebenden, die
Repräsentantin der Mütter von Srebrenica, sie spricht für die gefolterten,
vergewaltigten und getöteten Menschen. Die Endsiebzigerin spricht über das
Leben in der Stadt, wie es einst war, als in ihrem Wohnblock noch Serben,
Kroaten, Juden und Bosniaken Tür an Tür lebten, als man die religiösen
Feste gemeinsam feierte: „Es war eine glückliche Zeit.“
Subašić weiß, wie aus dem Nichts heraus die Hölle sich öffnen kann. Sie ist
nicht naiv. Sie verfolgt alle Reden der serbischen Extremisten. [3][Ihre
Sprache klinge heute wieder wie am Anfang des Krieges 1992.]
Plötzlich waren 1992 viele der serbischen Bewohner der Stadt verschwunden,
sie waren zu den Angreifern übergelaufen, die Stadt wurde dann umzingelt
und beschossen. Vom Berghang oberhalb des Stadtzentrums mit der
wiederaufgebauten Moschee und der orthodoxen Kirche liegen die Häuser dicht
an dicht. Srebrenica liegt langgestreckt in einem engen Tal, das sich hin
zu dem ehemaligen Industriegebiet in Potočari ausweitet.
In diesem Talkessel waren mehr als 40.000 Menschen über drei Jahre lang der
serbischen Artillerie ausgesetzt, obwohl Srebrenica ab 1993 zur Safe Area
der UN erklärt war. Ein Kontingent von Blauhelmen sollte die Stadt und ihre
Einwohner beschützen. Und auch die bosniakischen Flüchtlinge aus den
Städtchen und Dörfern entlang der Drina, die in Srebrenica Schutz gesucht
hatten. Am 11. Juli 1995 flohen sie gemeinsam nach Potočari zu den
niederländischen UN-Truppen, obwohl diese die Bewohner nicht mehr schützen
wollten.
## Dokumente Hunderter Überlebenden
Die Bauten der einstigen Batteriefabrik in Potočari, die gegenüber dem
Gräberfeld liegen, dienten als Hauptquartier der niederländischen
UN-Truppen. Jetzt werden die Hallen umgebaut. Im alten Gebäude konnte man
das Versagen der UN spüren, ja sogar riechen. Jetzt ist eine schmucke
Gedenkstätte entstanden, mit einer Bibliothek, mit Ausstellungs- und
Vortragssälen, einem Kino. In einer Videothek sind die Schicksale von
Hunderten von Überlebenden dokumentiert.
Wie die von Azir Osmanović, damals 13 Jahre alt, jetzt führt er Besucher
durch die Anlage. Er war unter jenen, die am 12. Juli 1995 vor den Hallen
standen und darauf warteten, ausgesiebt und zu den Bussen zugelassen zu
werden. Männer nach links, Frauen und Kinder nach rechts. Die Frauen
sollten nach Tuzla ins freie Gebiet gebracht werden, die Jungs unter 12
auch. Er war schon 13, aber kleinwüchsig. „Ich habe mich damals noch
kleiner gemacht“, sagt er. Er ergiff die Hand seiner Großtante und brachte
sie zu dem Bus. So schlüpfte er durch die Reihen der serbischen Soldaten,
die gnadenlos alle Knaben über 12 aussonderten und den
Erschießungskommandos übergaben. Ein Teil seiner Familie wurde ermordet,
der Vater und eine Schwester überlebten, der jüngere Bruder beging nach den
traumatischen Erlebnissen Suizid.
Jede Person kann eine Geschichte erzählen, die Stoff für Romane und Filme
bietet. In der Videothek sind jetzt Hunderte Interviews mit Überlebenden
dokumentiert. Die Besucher können sie per Knopfdruck abrufen. Sie erzählen
von der Flucht der mehr als 15.000 Männer, die versuchten durch die Wälder
ins befreite Gebiet bei Tuzla zu fliehen und in Hinterhalte der serbischen
Soldateska gerieten.
8.374 sollen es sein, die damals ab dem 11. Juli in wenigen Tagen ermordet
worden sind. Auf dem Friedhof sind jetzt über 6.721 Menschen begraben, alle
aus Massengräbern mit Namen identifiziert. Durch langwierige DNA-Tests
haben sie ihre Identität und Würde wiedererlangt. An diesem 11. Juli 2023
werden wieder 30 Gräber hinzukommen.
## Erinnerung aufleben lassen als Art Therapie
Hasan Hasanović, ebenfalls Überlebender, hat damals seinen verwundeten
Zwillingsbruder Kilometer um Kilometer durch die Wälder geschleppt. Der
Bruder starb, er konnte ihn nicht retten, es gelang ihm aber selbst, die
befreite Zone um Tuzla zu erreichen. Auch er ist nach Potočari
zurückgekehrt und schildert den Besuchern mit großer Geduld und ausführlich
die Ereignisse von damals. Die Erinnerung aufleben zu lassen sei eine Art
Therapie für ihn, sagt er. Jetzt warten die beiden auf die 4.000 Menschen,
die von Tuzla aus nach Srebrenica laufen werden, sie wollen den Marsch von
damals nachempfinden. Und auf die Delegation des jüdischen Weltkongresses.
Lernen die Menschen vor Ort aus den Erschütterungen der Vergangenheit? Für
serbische Jugendliche ist die Gedenkstätte eine No-go-Area. Keine serbische
Schulklasse oder Serben aus der Region haben jemals das Gelände besucht.
Zwar leben Serben und bosniakische Rückkehrerfamilien nebeneinander, doch
über die Verbrechen wird nicht gesprochen.
Die Ställe von Kravica, wo über 1.300 Männer aus Srebrenica erschossen
wurden, werden renoviert, die Spuren, die Einschusslöcher, werden
übertüncht, die Verbrechen verwischt. Gegen die Proteste von
Hinterbliebenen. Der jetzige serbische Bürgermeister klagt aber, Subašić
und die anderen Mütter verbreiteten Hass …
Die Mütter von Srebrenica haben durchgesetzt, dass das Massaker vom
UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und dem Internationalen Gerichtshof
als Völkermord eingestuft worden ist. Dass aber jetzt von Deutschland aus
die Opfer von Srebrenica wissentlich herabgesetzt werden, ist schon
erstaunlich. In der FAZ wurde kürzlich die Zahl der Opfer von Srebrenica
mit den Opfern von Bleiburg im Mai 1945 verglichen. Die Opfer von Bleiburg
waren SS-Truppen und Soldaten der rechtsextremen kroatischen Ustaschen und
serbischen Tschetniks. Für Subašić ist es eine Beleidigung, in einem
Atemzug mit diesen Nazi-Mördern genannt zu werden.
Trotzdem bleibt sie optimistisch. Denn es gibt auch Durchbrüche. Über
Jahrzehnte habe sie dafür gekämpft, den serbischen Aggressionskrieg in
Bosnien als das zu bezeichnen, was er ist. Das wurde in der internationalen
Gemeinschaft bisher vermieden, man sprach von einem „Bürgerkrieg“. Der
Chefankläger des UN-Tribunals in Den Haag, Serge Brammertz, habe aber
kürzlich erklärt, „der Krieg in Bosnien war kein Bürgerkrieg“ – er sei…
geplante Aggression Serbiens gewesen, „das steht jetzt fest.“
11 Jul 2023
## LINKS
[1] /Provokationen-in-Bosnien-und-Herzegowina/!5930715
[2] /Regisseurin-zu-Film-ueber-Srebrenica/!5763100
[3] /Die-serbische-Rechte/!5932447
## AUTOREN
Erich Rathfelder
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