# taz.de -- Bestseller „Sarajevo Marlboro“ wird 30: Wenn die kleinen Dinge … | |
> 1995 publizierte Miljenko Jergović seinen Erzählband über den | |
> Bosnienkrieg. Jetzt erscheint eine Fortsetzung, die an aktuelle | |
> Kriegsfolgen erinnert. | |
Bild: Das belagerte Sarajevo im August 1993: Menschen überqueren den Fluss Mil… | |
In diesem Jahr jährt sich [1][in Bosnien] zum 30. Mal das Kriegsende. | |
Zwischen 1992 und 1995 fanden hier die brutalsten Massaker der | |
[2][Sezessionskriege] statt, in denen sich die sozialistische Föderation | |
Jugoslawien auflöste. Srebrenica, holländische Blauhelme, Flüchtlinge auf | |
Traktoranhängern, die Belagerung von Sarajevo, Dayton-Abkommen, Versagen | |
des Westens, die größte Opfergruppe unter den Opfern dieses ersten Krieges | |
in Europa nach 1945 – das sind mehr oder weniger die Dinge, die in der | |
Bosnien-Ecke stünden, gäbe es ein Museum fürs europäische Kriegsgedächtnis. | |
Die Aufgabe, zu schildern, wie der Krieg den Alltag und das | |
Zwischenmenschliche beeinflusst, fällt meist den Literaten zu. Es gibt | |
keine Gedenksteine für die Notlügen, die Halbwahrheiten, die Scham, den | |
Geiz, den Neid, die Angst, die Liebe, die unglückliche Ehe, den dummen | |
Zufall, all das, was weiter existiert. Egal, wie sehr einem gerade die | |
Granaten um die Ohren fliegen und wie die Söhne, Väter, Nachbarn und | |
Schulfreunde sterben. | |
Einen dieser Gedenksteine hat Miljenko Jergović vor 30 Jahren mit seinem | |
Erzählband „Sarajevo Marlboro“ errichtet. Damit wurde er weltweit berühmt | |
und zählt heute zu einen der größten zeitgenössischen Erzähler Europas. Er | |
floh während des Krieges aus seiner Heimat Sarajevo und lebt seitdem im | |
kroatischen Zagreb. | |
Heute sind Kriegsverbrecher bestraft, Mahnmale und Grabsteine errichtet. An | |
die Aufgabe, zu beschreiben, wie sich individuelle Erinnerungen an das, was | |
damals in Sarajevo war, verändert hat, wagte sich erneut Jergović. 30 Jahre | |
nach seinem Debüt hat er noch einmal einen Erzählband veröffentlicht. | |
## Ähnliche Struktur, andere Details | |
Die Anordnung und Struktur des ersten Buches wurde übernommen, das Personal | |
und die Dinge variieren. Wo in „Sarajevo Marlboro“ ein Saxofonist eine | |
Rolle spielte, tritt nun in „Das verrückte Herz“ eine Unterhose auf, die | |
mit blauen Saxofonen bedruckt ist. Jergović ruft Bilder auf, die sich in | |
die Erinnerung gebrannt haben, aber eben nicht im Blick auf die großen | |
Massaker verharren, sondern auf verkohlte Wäsche, die vor der Ruine eines | |
beschossenen und verlassenen Wohnhauses flattert. | |
Er erzählt von einer Tante, die beim ersten Granateneinschlag glaubte, ihre | |
Seele sei aus dem Fenster geflogen, die man ihr zuvor aus der Brust | |
geschossen hatte, und jegliche Erinnerung verlor. Er erzählt vom stets | |
hilfsbereiten Nachbarn, der plötzlich als Kommandant der serbischen Armee | |
vor der Tür stand, von dem Kind, das sich beim Spielen die Zunge verletzte | |
und die Mitschüler wie die eigenen Eltern es für geistig beschränkt | |
hielten. | |
## Krieg ist, wenn auf niemanden mehr Verlass ist | |
Er erzählt von einer notorischen Diebin, nach deren Tod eine Notlüge dafür | |
sorgte, dass die Erinnerung an den gebeutelten Ehemann in besserem Licht | |
erscheint, von Scheidungskindern mit geschwollenen Lymphknoten, vom | |
Dachdecker, der vom Dach fiel und starb, während die Legende behauptet, er | |
sei von einem Scharfschützen erschossen worden. | |
Fast alle Geschichten kreisen darum, in den kleinen Dingen Wahrheit zu | |
finden. Also das, von dem es immer heißt, dass es das erste Opfer im Krieg | |
ist. In Jergovićs Erzählungen muss dieser Satz kein einziges Mal fallen, um | |
trotzdem ständig präsent zu sein. Wobei hier Wahrheit durch Erinnerung | |
ersetzt werden müsste. „Die, die sich erinnern, mein Sohn, blieben im Krieg | |
in der Stadt. Die, die sich nicht erinnern, gingen in die Berge und | |
schießen auf die Stadt“, sagt ein Protagonist. | |
Oft handeln die Geschichten von den verschiedenen Versionen, wer wie | |
umgekommen ist und meistens darum, in welchen Momenten realisiert wurde, | |
dass Krieg ist und was Krieg ist. Krieg ist, wenn sich das Publikum an ein | |
verstimmtes Orchester gewöhnt hat, wenn keine Vögel mehr in der Stadt zu | |
hören sind, wenn man mit Beschuss umgeht wie mit schlechtem Wetter: | |
Nimm einen Regenschirm, wenn du rausgehst, wird schon gut gehen. Krieg ist | |
für den Tramfahrer nicht, solange die Straßenbahnen noch nach Fahrplan | |
fahren. Krieg ist, wenn auf niemandem mehr Verlass ist: „Wer den Nachbarn | |
voll vertraute, starb zuerst. Überall.“ | |
## Kriegserinnerungen locken Touristen in die Stadt | |
Die Erinnerung an den Krieg ist bis heute ein Grund, der Touristen nach | |
Sarajevo lockt. Dort bekommen sie geboten, nach was sie suchen. Große bunte | |
Karten hängen überall in der Stadt und schlagen Spaziergänge zur | |
Sniperalley vor oder bieten geführte Touren mit Namen wie „Times of | |
Misfortune“ an, um den Interessierten zu zeigen, was sie schon kennen, zum | |
Beispiel die Stelle auf der Hauptstraße, an der das erschossene Kind in der | |
Blutlache liegt. | |
Im ersten Erzählband Jergovićs stellte sich ein Protagonist vor, wie schön | |
es wäre, wenn Sarajevo auf Büchern aufgebaut wäre. Was poetisch klingt, | |
hatte den Hintergrund, dass die Sarajlis in der Not ihre Bücher als | |
Heizmaterial benutzten. | |
30 Jahre später erinnert Jergović nicht mehr an diese Episode, sondern | |
daran, dass die National- und Universitätsbibliothek im Spätsommer 1992 | |
brannte. Aber dieses Verbrechen wird nur aufgerufen, um von der verkohlten | |
Wäsche zu erzählen und von den Stützstangen, zwischen denen die Wäscheleine | |
aufgehängt war und die immer noch stehen. Es sind eben nicht die Bücher, | |
die den Krieg überleben, sondern die Stützstangen zum Wäscheaufhängen. | |
## Offene Enden | |
Die Erzählungen Jergovićs sind bei aller Schnörkellosigkeit so dicht | |
erzählt, dass man sich beim Lesen trotz der Kürze sofort in die Szenerie | |
versetzt fühlt. Am Ende der Geschichten wird man abrupt allein gelassen. | |
Meistens ist das Ende offen. | |
Wurde die Frau nun vergewaltigt? Wurde die jüdische Familie erschossen? Hat | |
der Kommandant ihn abgeführt? Es sind Cliffhanger, aber keine, wie sie ein | |
Serienkrimi generiert, der süchtig nach der nächsten Episode macht. | |
Es sind offene Enden, wie sie auch in Friedenszeiten existieren: Man hört | |
nichts mehr voneinander, weiß nicht, ob sich das Paar am Ende wirklich | |
getrennt hat, ob die Lymphknotenschwellung des Jungen abgeheilt ist, wie | |
lange die Nachbarn noch in der leer stehenden Wohnung lebten, in der die | |
wunderliche Alte gestorben war. | |
30 Jahre nach Erscheinen des ersten Erzählbandes von Jergović und kurz nach | |
Erscheinen des Nachfolgers gibt es übrigens wieder keine National- und | |
Universitätsbibliothek in Sarajevo. [3][Sie wurde geschlossen]. Nicht, weil | |
sie jemand angezündet hatte, sondern weil dem Staat das Geld fehlt, um sie | |
weiter zu unterhalten. | |
Eine Geschichte, wie sie Jergović nicht besser hätte erfinden können. Die | |
Folgen des Krieges sind eben nicht nur dann spürbar, wenn geschossen wird. | |
8 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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