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# taz.de -- Multikulturelle Kulturstätten bedroht: Ein echter Kampf
> 1992 brannte die Bibliothek von Sarajevo. Heute bedroht der Nationalismus
> erneut die Kultur Bosniens. Doch es gibt eine leise Hoffnung.
Bild: Die Ruine der Nationalbibliothek in Sarajevo, die 1992 im Krieg zerstört…
Sarajevo taz | Es gibt dieser Tage so viele Szenarien des Grauens,
zerstörte Städte, zerstörtes Leben. Manche Ruinen bleiben aber noch nach
Jahrzehnten in Erinnerung. So die brennende [1][Bibliothek] in Sarajevo.
Die Granaten am 25. August 1992 waren nicht nur todbringend, sie waren mehr
als das. Sie waren ein Angriff auf eine einzigartige multireligiöse Kultur
und Geschichte in Europa. Die Existenz der Bibliothek und anderer
Kulturorganisationen [2][in Bosnien und Herzegowina] wird heute 2024 erneut
in den Grundfesten bedroht.
Dass das gemeinsame Kulturerbe von Seiten nationalistischer Extremisten so
vehement in Frage gestellt wird, macht viele Bürger der Stadt fassungslos.
Bosnien und Herzegowina kann auch keine ISBN-Nummern mehr ausgeben. Das
konnte bisher nur die Bibliothek [3][in Sarajevo] für den Gesamtstaat.
Autoren und Verleger sind schockiert. Soll unsere Kultur erneut vernichtet
werden?, fragen sich viele. Geschichte und Gegenwart vermischen sich bei
dieser Frage.
„Wir waren Anfang April 1992 mitten in den Vorbereitungen für die
Feierlichkeiten 500 Jahre jüdischer Geschichte in Sarajevo“, sagt Jakob
Finci, heute Vorsitzender der jüdischen Gemeinde. 1492 kamen die ersten von
Christen vertriebenen Juden aus Südspanien, die sephardischen Juden, die
ihre mittelalterliche spanische Sprache mitbrachten, in die von dem
osmanischen Sultan gegründete Stadt am Miljacka-Fluss. „Wir hatten 1992
eine Stafette von Südspanien nach Sarajevo geplant, Musikveranstaltungen,
sephardische Musiker sollten gemeinsam mit den bosnischen Künstlern
auftreten.“
Bald lebten die Volksgruppen mit ihren Religionen dicht nebeneinander und
miteinander, in dieser von osmanischen Herrschern gegründeten Stadt. Wer
heute über die lateinische Brücke blickt, kann noch erkennen, dass hier vor
Jahrhunderten Katholiken und Kaufleute aus Dubrovnik Fuß gefasst hatten. Es
gab muslimische, katholische, jüdische und orthodoxe Mahalas (Stadtteile),
es gab aber nie Grenzen und Mauern, kaum offenen Konflikte oder gar
Pogrome, wie damals in Europa üblich.
Die beiden orthodoxen Kirchen gehören genauso zum Zentrum der Stadt wie die
Moscheen, so die Gazi-Husref-Beg-Moschee, das Franziskanerkloster, die
jüdischen Synagogen. Die Religionen existierten getrennt nebeneinander,
produzierten jedoch Zeugnisse ihrer geistigen Tätigkeit als gemeinsames
Erbe.
Darunter sind literarische und religiöse Abhandlungen in arabischer und
hebräischer Schrift, theologische Exegesen, philosophische Streitschriften
des Sufi-Ordens in arabischer Schrift oder Briefwechsel von Franziskanern
in lateinischer Sprache.
Angehäufte, gestapelte, (halb) vergessene Texte aus der Tiefe der
Jahrhunderte schlummerten hier in dieser Bibliothek, warteten auf
neugierige Wissenschaftler aus aller Welt, auf ihre wissenschaftliche
Aufarbeitung.
## Fast alles ging verloren
Dann fielen am 25. August 1992 die Granaten. Das im maurischen Stil von den
Habsburgern errichtete Gebäude ging in Flammen auf. In einem
eindrucksvollen Buch beschreibt der Zeithistoriker Haris Imamovic, wie
Bürger in den folgenden Stunden und Tagen gemeinsam mit der Feuerwehr bei
fortwährendem Beschuss rund 2 Millionen Bücher, Folianten und Schriftrollen
zu retten versuchten.
Die serbischen Angreifer hatten mit Absicht vor dem Angriff die
Wasserleitungen der Stadt gekappt, der Fluss war unter Beschuss, deshalb
musste die Feuerwehr das Wasser aus Brunnen am Nordhang abschöpfen und
mühsam nach unten transportieren.
Fast alles ging verloren, nur 10 Prozent der Bücher und Folianten, der
Handschriften und Zeugnisse dieser Kultur konnten gerettet werden. Sie sind
seit 1998 in der National- und Universitätsbibliothek untergebracht. Die
serbischen Nationalisten hatten ganze Arbeit geleistet, die Auslöschung der
bosnischen Tradition des Zusammenlebens war beabsichtigt.
Nichts mehr soll an das gemeinsame Leben und die gemeinsame Geschichte
erinnern. Bis heute wird die Politik der Trennung der Bevölkerungsgruppen
systematisch verfolgt.
Das zeigte sich wieder, als kürzlich im paritätisch besetzten Ministerrat
des auf dem Papier noch existierenden Gesamtstaates das Problem der
Finanzierung der gesamtstaatlichen Museen und Einrichtungen diskutiert
werden sollte. Die beiden serbischen Minister verließen den Raum, die
Serben beteiligen sich nicht an den Kosten der gesamtstaatlichen
Institutionen, schon gar nicht am Wiederaufbau der von serbischen Militärs
zerstörten Gebäude. Die ohnehin fragile Finanzierung der Bibliothek und der
Kulturinstitutionen ist wieder einmal erschüttert.
Am besten geht es noch dem alten Gebäude der niedergebrannten Bibliothek,
dem jetzigen Rathaus, das nach dem vor zehn Jahren erfolgten Wiederaufbau
in neuem Glanz scheint. Sie wird von der Stadt genutzt – nur nebenbei als
Bibliothek. Das hilft den wenigen geretteten Schätzen nicht, sie sind jetzt
beengt vor allem in der „National- und Universitätsbibliothek“ auf dem
Campusgelände untergebracht.
Die Angestellten der Kulturinstitutionen haben jahrelang um ihre Existenz
gekämpft, haben teilweise auf ihre Gehälter verzichtet: so im Historischen
Museum, dem Museum für Literatur und Theaterkunst, dem Filmarchiv Kinothek,
in der Kunstgalerie, dem Landesmuseum und der Bibliothek für Blinde und
Sehbeschädigte in BiH.
Über Sponsoren gab es nur eine sehr geringe Unterstützung. Man kann es dem
Universitätsprofessor Vahidin Preljevic ansehen, wie er fast physisch
angesichts dieser Situation leidet. Dem in der Kultur und
Wissenschaftsszene bestens vernetzten Germanisten tut das weh: das Museum
hat im Winter keine Heizung, in der Kunstgalerie haben die Angestellten ein
Jahr ohne Gehalt ausgehalten, das Landesmuseum war drei Jahre lang sogar
geschlossen.
## Kein Verlass auf politische Elite
Die damals in der Tito-Zeit entstanden Institutionen konnten nur erhalten
werden, weil der neben der serbischen Teilrepublik der zweite Teilstaat,
die Föderation Bosnien und Herzegowina, im Volksmund bosniakisch-kroatische
Föderation, und der Kanton Sarajevo nach langem Hin und Her immer wieder
eingesprungen sind.
Doch auch das ist infrage gestellt. Die seit den Kommunalwahlen im
Frühherbst neue Kulturverantwortliche in der bosniakisch-kroatischen
Föderation lehnt jegliche Verantwortung für die gemeinsamen
Kulturinstitutionen ab. Das Mitglied der kroatisch-nationalistischen
HDZ-Partei will nur noch Projekte, nicht aber Institutionen fördern.
Sie begibt sich damit auf die Ebene der serbischen nationalistischen
Position. „Wir sind da von beiden Seiten in die Zange genommen“, sagt
Vahidin Preljevic. Er beklagt, dass die Parteien aus Sarajevo, die
nichtnationalistischen Troika aus Sozialdemokraten, der linksliberalen Nasa
Stranka und der muslimisch geprägten Narod i Pravda, gegenüber den
Nationalisten zu schwach Position beziehen.
Die politische Elite in Sarajevo sei keine verlässliche Stütze mehr, sagt
der Professor, auch andere Intellektuelle kritisieren die Bildungsferne
mancher Mitglieder der herrschenden Politikergeneration. Zwar traut sich
niemand mehr wie der Bildungsminister vor einiger Zeit, damit anzugeben,
dass er noch nie im Leben ein Buch gelesen habe. Das nicht mehr.
Dass man entgegen der Haltung nach dem Wahlsieg vor vier Jahren, als man
den Fuhrpark ausdünnte, jetzt neue SUV-Limousinen für die Nomenklatura
anschaffen will, sei ein Zeichen. Vor allem werde in diesen Kreisen gar
nicht bemerkt, wie schleichend das kulturelle Erbe des Landes verscherbelt
wird.
Kein Wunder, dass kaum jemand in der Lage ist, die komplexe multinationale
Geschichte und Identität des Landes politisch offensiv zu verteidigen. Die
Liste der Versäumnisse ist lang. Mit dem Rücktritt des bisherigen Direktors
kurz vor den Wahlen im Oktober dieses Jahres wurde endgültig klar, dass es
keine verlässliche Struktur für diese Institutionen gibt. Der Absturz ins
Nichts war nahe.
So musste der Hohe Repräsentant Christian Schmidt eingreifen, der ja immer
noch dafür da ist, die Umsetzung des Friedensabkommens von 1995 zu
überwachen. Immerhin ist es Schmidt gelungen, eine Nachfolgeregelung
durchzusetzen. Jetzt sollen nicht Politiker von außen, sondern die bisher
ranghöchsten Mitarbeiter die Geschäfte übernehmen.
Damit ist es dem Hohen Repräsentanten erst einmal gelungen, Zeit zu
gewinnen und die Ambitionen von politischen Parteien zu neutralisieren.
Dass Schmidt, der im Ruch steht, in den letzten drei Jahren zu oft den
Forderungen der Nationalisten nachgegeben zu haben, sich jetzt für
gesamtstaatliche Institutionen und damit die multinationale Geschichte des
Landes eingesetzt hat, wird ihm in Sarajevo hoch angerechnet.
Diesen Rückenwind braucht er. Nach wie vor ist die Finanzierungsfrage nicht
gelöst. Der Hohe Repräsentant könnte mit seinen Sondervollmachten eine
langfristig tragfähige Lösung durchsetzen, hoffen die Professoren.
Die Mehrheit der ausländischen Diplomaten ist ohnehin der Ansicht, dass im
Friedensabkommen von Dayton klargestellt ist, dass diese gemeinsamen
Institutionen vom Gesamtstaat finanziert werden müssen.
10 Dec 2024
## LINKS
[1] /Juedische-Bibliothek/!5977181
[2] /Proteste-in-Bosnien-und-Herzegowina/!6043641
[3] /Zum-Tod-von-Kriegsfotograf-Paul-Lowe/!6041038
## AUTOREN
Erich Rathfelder
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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