# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Weltkulturerbe in Gefahr | |
> Die russische Armee zerstört nicht nur Menschenleben. In Kiew sind | |
> mehrere Unesco-Welterbestätten akut von Raketen und Granaten bedroht. | |
Bild: Das tausend Jahre alte Höhlenkloster, hier 2018, ist in großer Gefahr | |
„Was kommt als Nächstes?“, fragt Wolodimir Selenski am Mittwochmorgen in | |
einer Videobotschaft. „Die Sophienkathedrale? Die Lawra? Die | |
Andreaskirche?“ Einen Tag zuvor war [1][bei einem russischen Angriff auf | |
Kiew ein jüdischer Friedhof bei der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar | |
getroffen worden]. In Babyn Jar, einem Tal nordöstlich des Stadtzentrums, | |
hatten deutsche Einsatzgruppen Ende September 1941 binnen 48 Stunden 33.000 | |
jüdische Bewohner Kiews ermordet. Vielen Menschen in Russland sei Kiew mit | |
seiner Geschichte absolut fremd, sie wüssten gar nichts darüber, sagt | |
Selenski. „Aber sie alle haben den Befehl, unsere Geschichte, unser Land, | |
uns alle auszulöschen.“ | |
Mit der Konzentration von militärischer Zerstörungskraft rings um die | |
Hauptstadt versucht die russische Militärführung offenbar, eine | |
Entscheidung herbeizuzwingen – [2][ohne Rücksicht auf Zivilisten] und auch | |
ohne Rücksicht auf das kulturelle Erbe von Kiew, das beiden Völkern gehört. | |
Die Stadt ist reich an historischen Zeugnissen. | |
Oberhalb des Flusses Dnjepr, südlich der Innenstadt, erhebt sich die | |
Petscherskaja Lawra, die Wolodimir Selenski in seinem Video genannt hat, | |
das Kiewer Höhlenkloster. Es verkörpert dreierlei – es ist ein Komplex sehr | |
unterschiedlicher Museen, ein aktives Kloster, vor allem aber ist es | |
Heiligtum und Wallfahrtsort aller orthodoxen Gläubigen in Russland und der | |
Ukraine. Und es untersteht dem Patriarchen in Moskau. | |
Das Kloster ist tief in der gemeinsamen Geschichte verwurzelt. Es war | |
geistliches Zentrum der Kiewer Rus, jenem mittelalterlichen Fürstentum, aus | |
dem späterer [3][auf ganz unterschiedliche Weise russische, belarussische | |
und ukrainische Staatlichkeit] und eigene kulturelle Identität erwuchs. | |
## Seit 1990 Unesco-Welterbe | |
Weithin sichtbar erheben sich die goldenen Zwiebeltürme. Der Glockenturm | |
aus dem 18. Jahrhundert misst fast 100 Meter. Eine Fülle von Baudenkmälern | |
erstreckt sich über das fast 30 Hektar große Gelände. In den Hängen | |
hinunter zum Dnjepr haben Mönche einst Höhlen gegraben, in denen sie ihr | |
frommes Einsiedlerleben verbrachten. Das Kloster trägt seit 1990 den | |
Unesco-Welterbe-Titel. Nur etwa zwei Kilometer von Präsidialamt und von der | |
Rada, dem ukrainischen Parlament, entfernt, ist die einzigartige | |
kulturhistorische Schatztruhe akut von Granaten und Raketen bedroht. | |
Ob sich das russische Militär wegen des Welterbe-Titels zurückhält? Ob es | |
zögert, weil es sich um orthodoxe Kulturdenkmäler handelt und das | |
Höhlenkloster dem Patriarchen in Moskau unterstellt ist? Solche Hoffnungen | |
kursieren. Sie dürften unbegründet sein. Das syrische Aleppo, dessen | |
Altstadt ebenfalls zum Weltkulturerbe gehört, haben 2016 russische | |
Kampfflugzeuge, Vakuumbomben und Raketenwerfer rücksichtslos beschossen. | |
## Sophienkathedrale extrem gefährdet | |
Den Welterbe-Titel hat die Unesco auch der Sophienkathedrale in der | |
Oberstadt verliehen. Seitdem Russland am Dienstag angekündigt hat, Gebäude | |
des ukrainischen Geheimdienstes SBU zu zerstören, ist die Kirche extrem | |
gefährdet, befindet sich die SBU-Zentrale doch in Sichtweite. Die Kirche | |
gilt als kleineres Abbild der Hauptkirche Hagia Sophia in Konstantinopel. | |
Ihr Bau begann im frühen elften Jahrhundert, kurz nach der | |
Christianisierung der Kiewer Rus und der sagenumwobenen Taufe aller Kiewer | |
im Dnjepr im Jahr 988. Sie demonstriert die große Nähe zu Byzanz. Selbst | |
wenn möglicherweise in den letzten Tagen noch Zeit war, Ikonen, liturgische | |
Geräte und Handschriften in Sicherheit zu bringen, die einzigartigen | |
mittelalterlichen Mosaike an den Wänden lassen sich nicht forttragen. | |
Neben diesen beiden kulturhistorischen Monumenten gibt es in Kiew weitere | |
Kirchen von Rang wie die Andreaskirche im ukrainischen Barock und die | |
Wolodimir-Kathedrale aus dem 19. Jahrhundert mit ihren raumfüllenden | |
Fresken von Wasnetzow, Wrubel und Nesterow, den bedeutendsten russischen | |
Malern ihrer Zeit. Dazu kommen über 50 Museen, darunter das nationale | |
Kunstmuseum, der weitläufige Museumskomplex Mystetskyi Arsenal direkt | |
neben dem Höhlenkloster sowie schützenswerte architektonische Ensembles wie | |
der Andreassteig und der Stadtteil Podil – zu Friedenszeiten touristische | |
Magneten, liegen sie seit einer Woche schutzlos im Schussfeld. | |
## Charkiw unter Dauerbeschuss | |
Und es betrifft nicht nur orthodoxe Kirchen und Klöster. Charkiw, die | |
zweitgrößte ukrainische Stadt mit 1,4 Millionen Einwohnern im Osten des | |
Landes, [4][steht seit Tagen unter Dauerbeschuss]. Am Dienstagmorgen | |
zertrümmerte eine Rakete das wuchtige Verwaltungsgebäude, in dem das Stadt- | |
und das Gebietsparlament untergebracht waren. Die Detonation verwüstete | |
auch den angrenzenden Freiheitsplatz. Mindestens elf Menschen starben. | |
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, nun hinter Trümmerteilen, | |
erhebt sich ein wahres Gebirge aus Beton – das Derschprom-Gebäude, eine | |
Ikone des Konstruktivismus. Charkiw, zwischen 1919 und 1934 Hauptstadt der | |
ukrainischen Sowjetrepublik, wurde von der Sowjetmacht für die | |
Verwaltungsaufgabe hergerichtet. Der Geist der Avantgarde war noch wach, | |
und junge Architekten machten sich ans Werk. Es entstand der größte | |
Stahlbetonbau der Sowjetunion und ganz Europas. Das Bauwerk, Fassadenlänge | |
300 Meter, besteht aus drei Baukörpern, die mit Flurbrücken verbunden sind | |
und unterschiedliche Geschosshöhen haben. Es wirkt alles wie | |
Bauhausarchitektur in Potenz. [5][Wladimir Majakowski, der ungestüme Poet], | |
hat den Giganten sogleich besungen. | |
## Zentrum der Avantgarde | |
Erstmals zerstört wurde der Bau bei heftigen Kämpfen 1943 zwischen | |
Wehrmacht und Roter Armee. Heute sind in dem Ensemble Büros, Bankfilialen, | |
Redaktionen und Kultureinrichtungen zu Hause. Sie waren es jedenfalls. Der | |
Derschprom-Koloss selbst mag noch unversehrt sein, die Bilder aus Charkiw | |
von brennenden und zerstörten Häusern sind beklemmend. | |
Die Stadt war im frühen zwanzigsten Jahrhundert ein Zentrum der Avantgarde | |
mit weiteren Bauten des Konstruktivismus und des Jugendstils. Zu den | |
markanten architektonischen Zeugnissen gehört die Choralsynagoge in der | |
Puschkinstraße mit ihrer eiförmigen Kuppel. 1914 erbaut, ist sie die größte | |
Synagoge der Ukraine mit Platz für 900 Personen. Sie hat die deutsche | |
Besatzung überstanden, weil das Bethaus in den dreißiger Jahren zu einer | |
Sporthalle zweckentfremdet wurde. Jetzt ist es wieder das Herz der | |
Charkiwer Jüdischen Gemeinde. | |
## Jüdisches Leben in Charkiw | |
In Charkiw leben mehrere Tausend Juden. Die Gemeinde habe das Gebäude | |
gesichert und die Fenster der Synagoge abgedichtet, berichtet der Rabbi von | |
Ulm der Schwäbischen Zeitung. „Die Juden in Charkiw brauchen Lebensmittel | |
und Medizin“, bittet die Gemeinde von Charkiw in einem Facebook-Post vom | |
Montag. Am nächsten Morgen schlug die Rakete auf dem Freiheitsplatz ein. | |
Bauwerke, so zerstört sie auch sein mögen, lassen sich wieder aufbauen. | |
Zerstörte Menschenleben nicht. Am Donnerstag hieß es, dass in Charkiw bei | |
Angriffen der russischen Armee allein in den letzten 24 Stunden 34 | |
Zivilisten getötet worden seien. Zudem seien bis Mittwochabend in 24 | |
Stunden 112 weitere Menschen verletzt worden. Als „Stalingrad des 21. | |
Jahrhunderts“ bezeichnete ein Berater von Präsident Selenski die Stadt | |
bereits. Von so einem Schicksal dürfte Charkiw noch entfernt sein. Doch der | |
Millionenstadt, soviel ist gewiss, stehen schwere Tage bevor. | |
3 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Raketen-auf-die-Gedenkstaette-Babyn-Jar/!5838939 | |
[2] /Krieg-in-der-Ukraine/!5838917 | |
[3] /Verhaeltnis-Ukraine-und-Russland/!5835176 | |
[4] /Krieg-in-der-Ukraine/!5838870 | |
[5] /!1608161/ | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ukraine | |
Juden in der Ukraine | |
Architektur | |
Unesco-Kulturerbe | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Unesco-Kulturerbe | |
Sachsen-Anhalt | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Nato | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
USA planen Rückkehr in die Unesco: Mehr Geld für Weltkultur | |
Wegen der Unseco-Position im Nahostkonflikt waren die USA aus der | |
Weltkulturorganisation ausgetreten. Nach Reformen kehren die USA nun wieder | |
zurück. | |
Unesco-Status von Madrid: Parkhaus gefährdet Weltkulturerbe | |
Wegen Bauvorhaben und hoher Luftverschmutzung läuft Madrid Gefahr, den | |
Titel Weltkulturerbe der Unesco zu verlieren. | |
Streit um Unesco-Welterbestätte: Unruhe im Dom | |
Der Naumburger Dom ist seit 2018 Unesco-Welterbe. Nun gibt es Zoff. Ein | |
Altarbild muss weichen, fordert die Unesco. Wie weit kann Denkmalpflege | |
gehen? | |
Digitale Kulturgüter in der Ukraine: Das große Backup | |
Nicht nur analoge, auch digitale Kulturgüter in der Ukraine sind durch den | |
Krieg bedroht. Hunderte Archivar*innen versuchen nun, sie zu retten. | |
Ukrainische Juden in Deutschland: Zwischen Wut und Hilflosigkeit | |
Knapp die Hälfte der Juden in Deutschland hat ukrainische Wurzeln. | |
Unabhängig von Generation und Wohnort fühlt sich der Krieg für sie sehr nah | |
an. | |
Russische Kriegsverbrechen: Chefankläger ermittelt in Den Haag | |
Auf Ersuchen von 39 Staaten hat der Chefankläger am Weltstrafgericht ein | |
Verfahren zur „Situation in der Ukraine“ eröffnet. Was bedeutet das? | |
Finanzielle Folgen des Ukraine-Kriegs: Russland wird verlieren | |
Vielleicht siegt Putin in der Ukraine, aber ökonomisch wird er verlieren. | |
Die Kosten der Russen werden gigantisch sein, wenn sie jetzt nicht | |
aufgeben. | |
Russlands Krieg gegen Ukraine: Neue Gespräche ohne Hoffnung | |
Schwere Kämpfe begleiten die russisch-ukrainischen Verhandlungen. | |
Frankreichs Präsident sprach mit Putin – und äußerte sich danach | |
pessimistisch. | |
Eindrücke aus Charkiw: Alle wollen bloß noch weg | |
In Charkiw harren seit einer Woche Menschen in den U-Bahnhöfen aus. Die | |
30-jährige Ukrainerin Vika hilft ihnen bei der Flucht. | |
Finnland und Schweden üben Ernstfall: Ein sicherheitspolitisches Signal | |
Die Nicht-Nato-Mitgliedsländer Finnland und Schweden senden mit einer | |
gemeinsamen Militärübung ein Zeichen nach Moskau. | |
Ukrainische AKWs im Kriegsgebiet: Meiler zwischen den Fronten | |
UN-Atombehörde in Sorge: Noch nie gab es einen Krieg bei laufenden AKWs. | |
Die Ostflanke von EU und Nato ist von russischen Atomlieferungen abhängig. | |
Ukrainekrieg und Premier League: Bye und Doswidanja | |
Roman Abramowitsch, Oligarch und Besitzer des FC Chelsea, will den | |
Fußballklub verkaufen. Der Erlös soll an Opfer des Krieges gehen. |