# taz.de -- Ukrainische AKWs im Kriegsgebiet: Meiler zwischen den Fronten | |
> UN-Atombehörde in Sorge: Noch nie gab es einen Krieg bei laufenden AKWs. | |
> Die Ostflanke von EU und Nato ist von russischen Atomlieferungen | |
> abhängig. | |
Bild: Noch vor dem Krieg: Ukrainische Soldaten trainierten Anfang Februar rund … | |
BERLIN taz | Wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine ist auch über | |
der Slowakei der Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt. Eigentlich. | |
Aber am Dienstag machte das Land eine Ausnahme: Ein Flugzeug mit nuklearen | |
Brennstäben für die slowakischen Atomkraftwerke an Bord, das über Belarus | |
und Polen gekommen war, durfte landen. „Ich bin froh, dass wir den | |
Brennstoff im Land haben“, sagte Wirtschaftsminister Richard Sulik dem | |
Nachrichtenportal Euractiv. Schließlich gebe es Ausnahmen vom Flugverbot: | |
für humanitäre Hilfe und für nukleare Brennstoffe. | |
Gleichzeitig macht sich die [1][UN-Atombehörde IAEA] große Sorgen um die | |
Sicherheit der [2][Atomanlagen mitten im Kriegsgebiet]: Die Situation sei | |
„beispiellos“, sagte Generalsekretär Rafael Mariano Grossi am | |
Mittwochnachmittag, „Zum ersten Mal findet ein militärischer Konflikt | |
zwischen den Anlagen eines großen und etablierten Nuklearprogramms statt“, | |
zu denen auch die Unglücksstelle am AKW Tschernobyl gehört. „Die Sicherheit | |
der Anlagen und des nuklearen Materials dürfen auf keinen Fall gefährdet | |
werden.“ | |
Diese Entwicklungen zeigen, welche Gefahr von Atomanlagen im Falle eines | |
Konflikts ausgehen kann. Und sie demonstrieren gleichzeitig, wie abhängig | |
Europa nicht nur beim Gas und beim Öl von Russland ist – denn fünf | |
EU-Länder und fünf Nato-Mitgliedsstaaten hängen mit ihrer Stromversorgung | |
zu großen Teilen am russischen Tropf. | |
Bisher, so die Meldungen von IAEA und der deutschen „Gesellschaft für | |
Reaktorsicherheit“ (GRS), läuft das ukrainische Stromsystem mit seinen | |
insgesamt 15 Reaktorblöcken ohne größere Probleme weiter. Die Atomkraft | |
liefert mehr als die Hälfte des Stroms für die Ukraine. „9 von 15 | |
Leistungsreaktoren sind am Netz, die Stromversorgung ist stabil“, heißt es | |
von der GRS, die traditionell enge Verbindungen zu den ukrainischen | |
Versorgern unterhält. | |
## Messsystem rund um AKW Tschernobyl ausgefallen | |
Das automatische Messsystem in der Strahlenzone rund um das AKW Tschernobyl | |
sei ausgefallen, dort wurden seit dem Einmarsch russischer Truppen erhöhte | |
Werte gemessen, die aber „keine unmittelbare Bedrohung für die Anwesenden“ | |
darstelle. | |
Krieg in unmittelbarer Nähe von Atomanlagen kann aber große Gefahren in | |
sich bergen, wie zwei andere Meldungen zeigen: In Kiew und bei Charkiw | |
wurden demnach Zwischenlager für leicht und mittelschwer strahlende atomare | |
Abfälle (etwa aus Krankenhäusern) durch Granat- oder Raketenbeschuss leicht | |
beschädigt. Auch hier hieß es von der ukrainischen Sicherheitsbehörde | |
SNRIU: Radioaktive Strahlung sei nicht ausgetreten. | |
Rund um das riesige AKW Saparoschje im Süden des Landes sind inzwischen | |
offenbar russische Truppen vorgerückt. Doch Meldungen, das AKW sei erobert | |
worden, wurden bislang zurückgewiesen. Eher sehe es danach aus, dass die | |
Anlage weiterarbeite, hieß es von den Behörden. Auf Twitter gibt es | |
Meldungen, dass sich BewohnerInnen des Ortes Energodar schützend vor das | |
AKW gestellt haben, um es vor den russischen Truppen zu sichern. | |
Sorgen machen den Experten nicht nur der direkte Beschuss (eine „externe | |
kinetische Aktivität“, wie IAEA-Chef Grossi es nennt) oder ein zufälliger | |
Treffer durch eine verirrte Bombe oder Rakete. Problematisch sind auch die | |
großen Zwischenlager mit abgebrannten und damit hochradioaktiven | |
Brennstäben an den Anlagen. | |
## Sorge um stabile Stromversorgung | |
Und Sorgen macht auch die Frage, ob die Stromversorgung stabil bleibt: | |
Bricht das Stromnetz zusammen, müssten auch die Reaktoren schnell | |
herunterfahren werden, weil sonst ihre Kühlung gefährdet wäre. Dann sollen | |
Notstrom-Dieselaggregate einspringen, die für einige Tage Brennstoff | |
vorrätig haben sollen. | |
Beunruhigt sind die Behörden aber vor allem wegen des Personals: Die AKWs | |
laufen nur vorschriftsmäßig, wenn die Bedienungsmannschaften zu ihrer | |
Arbeitsstelle kommen. Das kann schwierig sein. An einigen Standorten seien | |
die MitarbeiterInnen aufgefordert worden, aus Sicherheitsgründen nicht mit | |
eigenen Autos, sondern nur mit offiziellen Pendlerbussen zur Schicht zu | |
kommen, hieß es. | |
Am „Sarkophag“, der das explodierte AKW Tschernobyl mit einer riesigen | |
Stahlbeton-Konstruktion einschließt, arbeiten nach Angaben der GRS die | |
Bedienungsmannschaften seit einer Woche, ohne zwischendurch nach Hause zu | |
kommen. | |
Aber der Konflikt stellt nicht nur die ukrainische Stromversorgung infrage. | |
Auch viele EU- und Nato-Staaten sind auf die Energie aus den russischen | |
Atomen angewiesen. Finnland lässt gerade von der russischen Agentur Rosatom | |
das [3][Kraftwerk Hanhikivi 1] bauen – und beginnt darüber zu diskutieren, | |
ob es diese Abhängigkeit wirklich will. | |
## Ohne Russen gehen die Lichter aus | |
Vor allem aber in Osteuropa gehen ohne die Russen die Lichter aus. In der | |
Slowakei liefern vier Reaktoren insgesamt 53 Prozent des Stroms, zwei | |
weitere sind im Bau. Alles sind russische Anlagen und auf Brennstoff aus | |
Russland angewiesen, wie der Sonderflug von Dienstag zeigt – denn | |
tatsächlich ist der Import von Kernbrennstoffen von den Sanktionen der EU | |
gegen Russland ausgenommen, wie die EU-Kommission auf Anfrage bestätigt. | |
In den Nachbarländern sieht es ähnlich aus: Die sechs Meiler in Dukovany | |
und Temelin in Tschechien liefern nach IAEA-Statistiken 37 Prozent des | |
Stroms. Dafür brauchen sie ebenfalls russischen Nachschub. In Ungarn | |
liefern die vier Reaktoren russischer Bauart des großen Kraftwerks Paks | |
insgesamt 48 Prozent der Elektrizität. | |
Zwei weitere Blöcke sind im Bau, für die der Auftrag ohne die eigentlich | |
vorgeschriebene Ausschreibung an Rosatom vergeben wurde – was die | |
EU-Kommission nachträglich genehmigte. Auch in Bulgarien laufen im | |
pannengeplagten AKW Kosloduj noch zwei von ehemals sechs Reaktoren mit | |
russischem Uran und liefern immerhin 40 Prozent des Stromverbrauchs. Und an | |
der Südflanke der Nato baut Rosatom im türkischen Akkuyu ein AKW mit drei | |
großen Blöcken – alles aus russischer Hand. | |
## Rosatom dem Kreml unterstellt | |
Gebaut, gewartet und mit Personal versehen wurden fast alle Atomkraftwerke | |
in den Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts von der russischen | |
„Föderalen Agentur für Atomernergie Russlands“ (Rosatom): Eine Behörde a… | |
Staatskonzern, direkt dem Kreml unterstellt, die deshalb über schier | |
unbegrenzte Finanzmittel verfügt. | |
Rosatom ist für die militärische und zivile Nutzung der Atomkraft zuständig | |
und bietet über ein Geflecht von Tochterfirmen die gesamte nukleare | |
Wertschöpfungskette vom Uran-Bergbau über Bau und Betrieb der AKWs bis zum | |
Service – und vertreibt es als „Rundum-sorglos-Paket“ vor allem in Länder | |
des globalen Südens, sagt Hans Smital, Atomexperte von Greenpeace. „Da gilt | |
der Grundsatz für Rosatom: Bauen, Besitzen und Betreiben“, so Smital. „Das | |
ist erst einmal praktisch für die Länder. Aber es bringt sie auch in | |
jahrzehntelange Abhängigkeit von der russischen Politik“. | |
3 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.iaea.org/newscenter/pressreleases/update-7-iaea-director-genera… | |
[2] /Ukrainische-Atomkraftwerke/!5837942 | |
[3] /Russland-baut-AKW-in-Finnland/!5838391 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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