# taz.de -- Ukrainische Atomkraftwerke: Meiler mitten im Kriegsgebiet | |
> Vier aktive Atomkraftwerke und das stillgelegte Tschernobyl – selbst wenn | |
> die russische Armee den Betrieb nicht stören will, bedeuten die AKWs | |
> Gefahr. | |
Bild: Atomkraftwerk Saporischschja (Archivbild) | |
BERLIN taz | Wie Schiffe liegen sie aufgereiht am Unterlauf des Dnjepr, der | |
in der Ukraine zu einer Kaskade von Stauseen aufgestaut ist. Die sechs | |
Reaktorblöcke vom sowjetischen Typ WWER-1000 machen das Atomkraftwerk | |
[1][Saporischschja], etwa 80 Kilometer von der gleichnamigen | |
Industriestadt entfernt, zum größten AKW Europas. | |
Am Montagmorgen hat die russische Armee gemeldet, dass das „komplette | |
Territorium um das Kraftwerk“ eingenommen sei. Das Personal im Kraftwerk | |
arbeite planmäßig weiter, die Radioaktivität sei „in der Norm“, verkünd… | |
Iwan Konaschenkow, Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums. | |
Von ukrainischer Seite wurde die Einnahme bisher nicht bestätigt. Das | |
Kraftwerk selbst meldete am Montagmorgen auf seiner Webseite, der Betrieb | |
laufe planmäßig. Einen Hinweis auf russische Soldaten gab es nicht. | |
Allerdings wurden über das Wochenende bereits drei Blöcke heruntergefahren. | |
Einer sei in Wartung, zwei seien in Reserve, heißt es. | |
Dass das Kraftwerk und die angrenzende Stadt Enerhodar mit ihren gut 50.000 | |
Einwohnern in den Krieg hineingeraten würde, war seit Donnerstag klar. Das | |
AKW liegt weithin sichtbar am Stausee von Kachovka in der Steppenregion | |
nördlich der Krim. Dorthin sind es etwa 150 Kilometer, zum Donbass im Osten | |
200 Kilometer. Ob es bei der Einkreisung des Kraftwerks zu Kämpfen gekommen | |
ist, bleibt unklar. Das AKW wurde wegen des Angriffs am Donnerstag von | |
Kräften der ukrainischen Nationalgarde verstärkt bewacht. | |
## Seit den 1970er-Jahren als „Energiegeschenk“ geplant | |
Doch selbst wenn die russischen Streitkräfte kein Interesse haben, den | |
Betrieb des Kraftwerks zu gefährden, die Situation in der Umgebung ist | |
bedrohlich. Direkt neben dem Kraftwerk erstreckt sich ein atomares | |
Zwischenlager mit Platz für 360 Castoren unter freiem Himmel. | |
Außerdem befindet sich unweit des AKWs das größte Kohlekraftwerk der | |
Ukraine. Und somit ist die Stadt Enerhodar seit Jahrzehnten die | |
Energiehauptstadt der Ukraine – und ein strategisch wichtiger Ort. Mit | |
zusammen 9.600 Megawatt Leistung aus Kohle und Atom kommen von hier etwa 20 | |
Prozent der gesamten Elektroenergie der Ukraine. Vier | |
Hochspannungsleitungen, zwei davon über den Stausee, versorgen das Land mit | |
Strom. | |
Es war die sowjetische Staatsführung, die in den 1970er Jahren diese Region | |
zu einem Schwerpunkt der Energiegewinnung ausgebaut hat. Die | |
Industriegiganten im Donbass, die Kombinate von Saporischschja und die | |
Rüstungsschmiede von Dnipropetrowsk (heute Dnipro) hungerten nach Energie. | |
Enerhodar, frei übersetzt das „Energiegeschenk“, sollte den Hunger stillen. | |
Ab 1970 entstand diese Stadt auf dem Reißbrett, so wie auch die Stadt | |
Prypjat beim AKW Tschernobyl, als Wohnort für das Personal der beiden | |
Kraftwerke. Der letzte AKW-Block von Saporischschja ging 1995 ans Netz. | |
## 60 Prozent des Strombedarfs kommt aus der Atomkraft | |
Zur selben Zeit wurden auch in anderen Regionen der Ukraine AKWs errichtet | |
– bei der Stadt Riwne vier Reaktorblöcke und bei der Stadt | |
[2][Chmelnytzkyj], wo zwei Blöcke fertiggestellt wurden. Diese beiden | |
Kraftwerke liegen im Westen der Ukraine, noch fern von russischen | |
Armeekolonnen – und bisher relativ sicher. | |
Anders verhält es sich mit den drei Blöcken des AKW Juschnoukrajinsk, das | |
sich nur etwa 100 Kilometer nordöstlich von Odessa befindet und | |
möglicherweise ebenfalls bald von russischen Truppen erreicht werden | |
könnte. | |
Das bekannteste AKW, das Kraftwerk von Tschernobyl, wurde bereits am 24. | |
Februar nach heftigen Kämpfen [3][von der russischen Armee eingenommen]. Am | |
Ort der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 wurde im Dezember 2000 | |
allerdings der letzte Reaktorblock abgeschaltet. Gefährlich ist die Lage | |
trotzdem. Wie in Enerhodar gibt es auch dort ein atomares Zwischenlager. | |
Außerdem ist der 1986 zerstörte Block 4 mit einer gewaltigen | |
[4][Dachkonstruktion] überdeckt, die zwar vor Radioaktivität schützt, | |
aber Granatbeschuss nicht standhalten dürfte. | |
60 Prozent des Strombedarfs lieferten die ukrainischen Reaktoren 2021, | |
gefolgt von 28 Prozent aus Steinkohle und 5 Prozent Wasserkraft. Seit der | |
Orangenen Revolution von 2004/05 bemüht sich das Staatsunternehmen | |
Energoatom, das alle AKWs betreibt, bei Kraftwerkstechnik und der | |
Versorgung mit Brennstäben von Russland unabhängiger zu werden. Die | |
Laufzeit der meisten Reaktoren, einst ausgelegt auf 30 Jahre, wurde | |
verlängert. | |
28 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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