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# taz.de -- Von Russen eroberte Stadt Cherson: Erste Besetzung seit 1944
> Cherson nahe der Halbinsel Krim war schon zu Zeiten von Katharina der
> Großen Ziel politischer Großmachtfantasien. Präsident Putin eifert ihr
> nun nach.
Bild: Monument mit „Katharinas Ruhm“, dem ersten Kriegsschiff im Auftrag de…
Am Samstag wurde in Cherson geschossen. Russische Soldaten feuern aus ihren
Gewehren Salven ab, offenbar in die Luft. Die Menschen auf dem
Freiheitsplatz vertrieben sie damit nicht. Es sind, so viel lässt sich dem
kurzen Video entnehmen, mehrere hundert, vielleicht über tausend Männer,
Frauen, Alte, Junge, auch Halbwüchsige. Die einen schwenken blau-gelbe
Fahnen, andere haben sich die ukrainische Flagge über ihre Schultern
gelegt, sie rufen „Ruhm der Ukraine!“, sie brüllen, pfeifen. Als die
Schüsse gellen, presst sich jemand auf den Asphalt. Manche laufen weg. Doch
wirklich in die Flucht schlagen lässt sich die Menge nicht.
Die russischen Soldaten müssen irgendwo beim Rathaus stehen, einem
typischen Koloss im Stalin-Empirestil. Dort haben die Eindringlinge am
vergangenen Mittwoch erstmals Bürgermeister Igor Kolychajew getroffen. „Ich
habe ihnen keine Versprechungen gemacht“, erklärte der 50-Jährige später.
„Ich habe sie nur gebeten, nicht auf Menschen zu schießen.“ Am Samstag
haben sich die russischen Soldaten offenbar daran gehalten.
Zum ersten Mal seit 1944 sind wieder Besatzer in Cherson. Sie rollen mit
ihren gepanzerten Wagen über den Uschakow-Prospekt, der sich schnurgerade
durch die Stadt zieht, sie kontrollieren die Stadtverwaltung, sie feuern
aus ihren Gewehren und sie werden vom Kreml aus kommandiert – als wäre
Cherson eine gefährliche, unheimliche Stadt. Dabei ist Cherson ein Kind des
Imperiums.
Cherson ist die Stadt von Katharina der Großen und Grigori Potjomkin. Die
Kaiserin und der Fürst von Taurien haben in Cherson die Schwarzmeerflotte
gegründet. Unten am Fluss Dnipro (auf Russisch: Dnepr) erinnert ein
prächtiges Denkmal an den Bau des ersten Schiffes, „Ruhm Katharinas“ war
sein Name, 66 Kanonen waren an Bord. Heute ist der Hauptstützpunkt dieser
Flotte Sewastopol, ihre Geschütze sind auf die ukrainische Küste gerichtet,
auch auf Cherson.
## Bukolische Freuden
Es gibt Gegenden, die scheinen von der Welt vergessen. Jahrzehnte dämmerte
Cherson zwischen Steppe und Meer. Die südukrainische Stadt mit ihren
290.000 Einwohnern hat einen See- und einen Flusshafen und ist von
Weinbergen, Weizen- und Sonnenblumenfeldern umgeben. Der Weizen lagert in
mächtigen Silos, wird im Hafen umgeschlagen oder gleich auf dem Dnipro von
Flussschiffen mit dickem Rüssel auf Hochseefrachter gepumpt.
Nur wenn ein Kreuzfahrtschiff, auf dem Weg von Kiew zur Krim, im Hafen
anlegte, kam Geschäftigkeit auf. Ausländische Touristen, viele aus
Deutschland, schlenderten für Stunden über den Uschakow-Prospekt, besuchten
den Bauernmarkt und kauften bei alten Frauen Tischdeckchen und Puppen aus
Stoff. Oder sie bestiegen kleine Boote und ließen sich auf eine der
Dnipro-Inseln schippern, wo sie mit Fisch und Selbstgebranntem bewirtet
wurden. Die Ukraine – ein einziger bukolischer Traum.
Jedem Besucher sind auch die Studenten der Marineakademie aufgefallen.
Ukrainische Seeleute, auf der ganzen Welt unterwegs, erlernen ihr Handwerk
in Cherson. Mit weißem Hemd, schwarzen Hosen und Messingschnallen prägen
die jungen Burschen die Stadt. In Cherson, fünfzig Kilometer vom offenen
Meer entfernt, wird die Ukraine eine Seefahrernation.
## Die Zäsur kam 2014
Die ganze Beschaulichkeit endete 2014 abrupt. Mit der Annexion der Krim lag
Cherson faktisch vor der russischen Grenze. Hundert Kilometer Steppe
trennen die Stadt vom russischen Einfluss. Die Kreuzfahrtschiffe, mit der
Krim ihres Hauptziels beraubt, blieben aus. Es wurde stiller – und
gleichzeitig unruhiger. Im Februar 2015 explodierte ein Munitionslager der
Armee in der Nähe der Stadt. Es gab vier Tote und viele Verletzte.
Mutmaßungen über Saboteure von der Krim machten die Runde.
Irgendwann, so glaubt man heute, habe Wladimir Putin begonnen, sich in
Historienbücher zu vertiefen. Der Kremlherrscher stieg tief hinab in die
russische Geschichte, studierte die Schlachten der großen Feldherren, die
Kolonisierung von Neurussland, der fruchtbaren Steppenregion am Schwarzen
Meer, die Einverleibung der Krim. Das „Sammeln russischer Erde“, die stete
Ausdehnung des Imperiums auf Kosten der Nachbarn, war die politische
Doktrin, die mit Iwan dem Schrecklichen begann und unter Katharina ihren
Höhepunkt fand.
Die Gründung von Cherson wird den Präsidenten besonders inspiriert haben.
Was heute nur eine beschauliche Provinzstadt ist, war Teil eines Projekts,
für das kein Opfer zu groß schien, auch kein Menschenopfer. Katharina II.
ließ an der Mündung des Dnipro eine Stadt und eine Festung gründen, um in
ihrem Schutz eine Kriegsflotte zu bauen. Sie sollte unter dem Doppeladler
das Schwarze Meer durchpflügen, den Bosporus und Konstantinopel erobern und
das oströmische Kaisertum wiedererrichten. Ein neues Byzanz würde geboren,
regiert von einem russischen Kaiser.
## Katharinas „griechisches Projekt“
Was heute wie Größenwahn wirkt, war vor 250 Jahren Großmachtpolitik. Das
„griechische Projekt“ verfolgte Katharina II. über Jahrzehnte. 1762 hatte
die Deutsche den russischen Thron bestiegen. Von Anfang an zu ihrer Seite –
Grigori Potjomkin, zuerst Liebhaber, dann Freund und Chefplaner der Zarin.
Alles Griechische, alles Antike war in St. Petersburg en vogue. Und so
erhielt die Stadtgründung am Dnipro den Namen Cherson, nach der antiken
Siedlung Chersonesos an der Südspitze der Krim. Die Halbinsel,
Herrschaftsgebiet des Krim-Khanats, war schließlich Katharinas nächstes
Ziel. Das Hinterland am Dnipro, abgetreten vom Osmanischen Reich, war nicht
genug.
Cherson ist planmäßig angelegt, die Straßen sind schnurgerade. Die
Magistrale, der Uschakow-Prospekt, ist drei Kilometer lang und beginnt
unten am Dnipro, wo das Bronzeschiff steht. Von der einstigen Festung sind
nur noch Reste vorhanden, zwei Tore, ein Arsenal, Wälle. Was einst hundert
Hektar einnahm, ist parzelliert und bebaut, Sportplätze, Parks, ein
Kulturpalast. Doch eigentlich ist alles ein Friedhof. Cherson ist auf
Sümpfen errichtet. Nicht nur St. Petersburg wurde auf Knochen errichtet,
auch Cherson. 20.000 Menschen starben beim Aufbau der Stadt, die meisten an
Malaria, Typhus, Pest.
Als 1783 das erste Kriegsschiff vom Stapel läuft, ist Katharinas Interesse
an Cherson bereits erlahmt. Im selben Jahr fällt ihr die Krim kampflos in
den Schoß. Das Krim-Khanat wird aufgelöst und die Halbinsel dem Russischen
Reich einverleibt, „von nun an und für alle Zeit“ wie es heißt, ihr neuer
Name: Taurien, wie einst in der Antike.
Wladimir Putin macht es heute wie die Zarin, nur umgekehrt. Erst nimmt er
sich die Krim, jetzt greift er nach der Ukraine. Cherson, eine
Gebietshauptstadt, ist die erste große Beute. Und mit ihr fällt Potjomkins
Grab in russische Hand. Es gibt ein Denkmal, das an den Fürsten von Taurien
erinnert, nicht weit vom Freiheitsplatz entfernt, wo am Samstag die Schüsse
fielen. Wie ein antiker Gott steht Potjomkin da, schlank, in Rüstung und
makellos. In Wahrheit war er einäugig.
## Auf Knochen aufgebaut
Seinen größten Triumph feierte Potjomkin 1787. Kaiserin Katharina fuhr mit
ihrem Hofstaat den Dnipro hinab, um ihre neuen Provinzen in Neurussland und
auf der Krim zu besichtigen. Am Flussufer versammelte sich das Volk, Feuer
loderten, sie erleuchteten Paläste, Türme und Häuser. Die ausländischen
Gesandtschaften, die die Kaiserin begleiteten, sollten an Europas Höfen von
der märchenhaften Reise berichten. Bald war allerdings von Kulissen aus
Pappmaché und Sperrholz die Rede, kurz – von Potjomkinschen Dörfern.
Auch Joseph II. war skeptisch. Der Kaiser aus Wien war ebenfalls zu Gast in
Cherson. Katharina pries die „blühende Stadt“, Joseph aber hatte von den
vielen Toten erfahren und flüsterte dem französischen Gesandten ins Ohr:
„Alles erscheint leicht, wenn man mit Geld und Menschen verschwenderisch
umgeht. Wir in Deutschland und Frankreich können uns das nicht erlauben,
was man hier ohne Schaden zu tun wagt. Der Herrscher befiehlt und die
Sklavenhorden gehorchen.“
Merkwürdig, dass ein prunksüchtiger Mensch wie Potjomkin so eine
bescheidene Grablege hat. Seine Morgenmäntel seien mit Diamanten besetzt
gewesen, heißt es. Für den Aufbau von Cherson habe er in St. Petersburg
einmal mehr als eine Million Rubel in bar eingesteckt. Potjomkin wollte in
Cherson begraben werden. Gestorben ist er 1791 nicht in einer Schlacht,
sondern an Malaria. Der Fürst von Taurien liegt am Rande der Festung in der
Katharinenkirche unter einer Marmorplatte begraben. Frauen huschen am
Eisenzaun vorbei, der das Grab wie einen Käfig begrenzt. Grigori Potjomkin
hat Cherson als „sein Kind“ bezeichnet. Folgsam ist es allerdings nicht,
bis heute.
## Hilfe aus Russland abgelehnt
Jeden Tag, berichtet ein Augenzeuge aus Cherson, protestieren sie dort
gegen die Besatzer. Und die „humanitäre Hilfe“ aus dem russischen
Verteidigungsministerium wollen sie nicht. Russische Bilder zeigen einen
Lkw-Konvoi, an dessen Seitenwänden, elegant geschwungen, das große Z der
Besatzer prangt. Der Stadtrat von Cherson lehnte die Hilfe ab. Die
russische Führung ist brüskiert. „Die Haltung der Chersoner Stadtspitze ist
sehr ähnlich der des Kiewer Regimes!“, zürnt Außenminister Lawrow.
Im Vergleich zu Lawrow, aber auch zu seinen eigenen Tiraden in den Tagen
zuvor, ist Wladimir Putin am Vorabend des Frauentags von überaus großer
Güte erfüllt. In einer Fernsehansprache aus dem Kreml gratuliert er allen
russischen Frauen, lobt besonders die, die in den Streitkräften dienen,
verkündet finanzielle Wohltaten, kommt kurz auf die Kampfhandlungen der
„Spezialoperation“ zu sprechen und würdigt am Schluss eine ganz besondere
„großartige Frau“. Putins Blick wird fest, dann beginnt er sie zu zitieren:
„Ich werde meine Heimat verteidigen, mit dem Gesetz und mit dem Stift und
mit Schwert! Solange ich lebe!“
Hinter dem Präsidenten ragt ihr Standbild hervor. „Matuschka“ hat der
Präsident sie eben genannt, Mütterchen. Das klingt friedlich. In Wahrheit
ist Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst, so hieß sie bei ihrer
Geburt, Putins Meisterin: Katharina die Zweite – Mutter von Cherson und
größte Sammlerin russischer Erde.
8 Mar 2022
## AUTOREN
Thomas Gerlach
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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