# taz.de -- Jüdische Bibliothek: Bücher suchen, Geschichte schreiben | |
> Die Leo-Baeck-Institute laden in einer virtuellen Ausstellung jugendliche | |
> Detektive ein, die gestohlenen Bücher einer jüdischen Bibliothek zu | |
> suchen. | |
Bild: Ja, da könnten gesuchte Bücher drin sein. Illustration aus dem Katalog | |
Die Stempel sind mal rund, mal oval, bisweilen auch quadratisch. Die Farbe | |
differiert zwischen Blau und Rot. Dann ist die handschriftliche | |
Akzessionsnummer wichtig, mit der die laufende Nummer verzeichnet wird, | |
nicht zu vergessen die Signatur. Und schließlich gibt es da noch die | |
Papieretiketten von geschenkten Werken und die Reste von Kleber und Papier, | |
die auf einen Bücherschwanz hindeuten. Damit behalf man sich, wenn der | |
Buchrücken zu schmal war, um dort Eintragungen vorzunehmen. | |
Solche Merkmale an Büchern sind es, die [1][bei einer Provenienzsuche] | |
wichtig werden, also dem Versuch, den ursprünglichen Besitzer zu finden. | |
Aber bei dieser Anleitung geht es weder um eine Fortbildungsmaßnahme für in | |
der Universitätsbibliotkek beschäftigte studentische Hilfskräfte noch um | |
ein Seminar. Die Hinweise zu Stempeln, Nummern und Kleberesten finden sich | |
auf einer Web-Seite für Jugendliche. Die sollen aber nicht ihre | |
Schulbibliothek ordnen, sondern an einem Projekt mitarbeiten, das jüdische | |
Geschichte zu neuem Leben erweckt. | |
Es geht dabei um die Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des | |
Judentums in Berlin, gegründet 1872 und 1942 von den Nazis geschlossen und | |
geplündert. | |
## Citizen-Science-Projekt der Leo-Baeck- Institute | |
60.000 Bände besaß diese berühmte Institution einst. Nur 5.000 davon | |
konnten bis heute geortet werden, verstreut über den halben Globus. Wo sind | |
die übrigen 55.000 Werke geblieben? Das herauszufinden ist Ziel eines | |
gemeinsamen Citizen-Science-Projekts der Leo-Baeck- Institute von Jerusalem | |
und London. Je mehr Menschen dabei mitmachen, umso höher ist die Chance, | |
bei dieser Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen auch fündig zu werden, so | |
die Überlegung. | |
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn zugleich ist die Initiative mit | |
dem Namen „Library of Lost Books“ auch der Versuch, junge Menschen mit den | |
modernen Mitteln des Internets an Geschichte heranzuführen. Und was wäre | |
dafür geeigneter als die Jagd nach verborgenen Schätzen, die einst von den | |
Nazis geraubt worden sind? | |
Irene Aue-Ben-David vom Leo- Baeck-Institut in Jerusalem sagte bei der | |
Vorstellung des Projekts in der Berliner Staatsbibliotkek am Dienstag, sie | |
hätte nach dem Massenmord der Hamas lange geschwankt, ob man diese | |
Veranstaltung überhaupt abhalten sollte. Angesichts des verbreiteten | |
Judenhasses sei sie aber der Überzeugung: „Wann gäbe es eine bessere Zeit | |
als jetzt?“ | |
## Suche auf Dachböden, Antiquariaten und Flohmärkten | |
„Bücher finden – Geschichte schreiben“, wirbt die Homepage des Projekts, | |
und „Die Geschichte ist noch nicht geschrieben“. Dahinter öffnet sich eine | |
Onlineausstellung. Die jungen Bücherdetektive sind gebeten, Dachböden, | |
Antiquariate und Flohmärkte zu durchstöbern und Bibliotheken zu beehren | |
[2][auf der Suche nach NS-Raubgut] – vor allem aber sollen sie sich mit der | |
Thematik selbst beschäftigen, was bei der Vorbereitung zur Suche quasi ganz | |
von selbst geschieht. | |
Denn wer weiß, was gesucht wird und welche Methoden dabei vielversprechend | |
sind, erhöht seine Chancen. Deshalb bietet der im Internet veröffentlichte | |
Baukasten auch Hinweise wie die auf die Kennzeichnung von Büchern durch | |
Stempel und Nummern. Die Arolsen Archives, eines der weltweit größten | |
Archive über NS-Verfolgte, haben bei einem ähnlichen Projekt gute | |
Erfahrungen gemacht. Mit der Online-Präsenz „Last Seen“ sucht man nach | |
Informationen über deportierte Jüdinnen und Juden, deren letzte Bilder auf | |
dem Weg zur Ermordung veröffentlicht wurden. | |
Die [3][Bibliothek der verlorenen Bücher] untergliedert sich in zwei | |
Bereiche. Da wird zum einen über die Geschichte der Hochschule für die | |
Wissenschaft des Judentums informiert. Das geschieht allerdings etwas | |
anders als mithilfe von Fachbüchern. | |
Die Internetausstellung berichtet etwa über den immer wieder praktizierten | |
Umbau des Lesesaals zum Tanzsaal, zitiert die Eindrücke des Gasthörers | |
Franz Kafka („große Bibliothek, Frieden, gut geheizt, wenig Schüler und | |
alles umsonst“) und vergisst dabei nicht, darauf aufmerksam zu machen, dass | |
der später so berühmte Schriftsteller im Lesesaal gerne Brötchen mit Harzer | |
Käse zu sich nahm, und das auf einem Professoren-Sitzplatz und obwohl es | |
verboten war. Es geht also auch um Unterhaltung. Aber warum auch nicht? | |
## Spiel und Ernst | |
Zum Zweiten werden die jugendlichen Interessenten – und Lehrer – zum | |
Mitmachen aufgefordert. Und dabei werden diese durchaus ernst genommen, was | |
in den Anleitungen zum Ausdruck kommt. Ja, diese ist auch ein Spiel, eine | |
Suche, die Spaß machen soll. Aber es ist ein Spiel mit todernstem | |
Hintergrund. Allerdings wurde auf der Eröffnungsveranstaltung von „Library | |
of Lost Books“ deutlich, dass der Erfolg bei der Suche nach Büchern | |
begrenzt sein könnte. | |
Verschwundene Bücher einer Fachbibliothek, so eine Anmerkung aus dem | |
Publikum, fänden sich wohl eher in einer anderen Bibliothek wieder, aber | |
kaum in der Bücherkiste der Urgroßmutter. Das bekannte indirekt auch der | |
Leiter der Staatsbibliothek Achim Bonte, der sagte, dass in seinen | |
Beständen gleich 17 gestohlene Bücher aus den Beständen der Hochschule | |
gefunden und restituiert wurden. | |
Aber selbst wenn: Der „Beifang“ an Büchern, die zwar nicht aus der | |
Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums stammen, aber | |
doch anderen Juden gestohlen worden sind, dürfte beträchtlich werden. | |
1 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Provenienzforscherin-ueber-Raubkunst/!5890990 | |
[2] /Provenienzforschung-an-Bibliotheken/!5924788 | |
[3] http://libraryoflostbooks.com | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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