# taz.de -- Graphic Novel über Boris Pahor-Roman: Schattenrisse aus dem KZ | |
> Jurij Devetak hat aus Boris Pahors Roman „Nekropolis“ eine Graphic Novel | |
> gestaltet. Es geht um den Alltag eines Freiheitskämpfers unter den Nazis. | |
Bild: Der Mann mit Schiebermütze erinnert sich: Auszug aus „Nekropolis“ | |
Spätestens seit [1][Art Spiegelmans berühmter „Maus“] wissen wir, dass | |
Comics die Welt verändern können. [2][Spiegelman, dessen Protagonist] einen | |
KZ-Überlebenden darstellt, erhielt für sein Werk 1992 einen | |
Pulitzer-Sonderpreis. Seine Bildergeschichte trug wohl mehr zum Verständnis | |
des Räderwerks eines Konzentrationslagers sowie des Leidens derjenigen, die | |
darin gefangen waren, bei, als mehrere Regalmeter wissenschaftlicher | |
Fachliteratur. | |
An Adaptionen zur „Maus“ hat es danach nicht gefehlt. Jetzt, mehr als 30 | |
Jahre später, ist ein Werk ähnlicher Qualität erschienen, das aber doch | |
ganz anders erzählt und ganz anders gezeichnet ist. Jurij Devetak heißt der | |
slowenische Autor, und er hat eine Graphic Novel veröffentlicht, deren | |
Komplexität über Spiegelmans „Maus“-Geschichte weit hinausreicht. Und es | |
ist verflucht real, was da erzählt wird. | |
Aber ist Graphic Novel überhaupt der richtige Begriff für dieses Buch? | |
Dieser setzt voraus, dass es sich um eine fiktive Geschichte handelt, die | |
aus der Fantasie entstanden ist. | |
Devetaks Grundlage dagegen ist so furchtbar wie real. Sein Buch basiert auf | |
dem autobiografischen Roman von [3][Boris Pahor. Dieser slowenische | |
Freiheitskämpfer] durchlitt 1944 und 1945 vier deutsche | |
Konzentrationslager. 1965 schrieb er sich die nicht enden wollenden | |
Torturen in Dachau, Natzweil-Struthof, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen von | |
der Seele. | |
## Besuch einer Gedenkstätte | |
Sein Buch „Nekropolis“ ist keine einfache Lektüre, für Schulkinder wohl | |
nicht geeignet. Auf der einen Ebene besucht sein Protagonist lange nach | |
Kriegsende das zu einer Gedenkstätte umgewandelte KZ Struthof, auf einer | |
zweiten kehren die Erinnerungen an die Qualen dort und in den weiteren | |
Lagern in sein Gedächtnis zurück. Pahor schont seine Leser nicht. Er gibt | |
Einblicke in das alltägliche Sterben in der Krankenbaracke, entführt ihn in | |
die Welt des Hungers, beschreibt den Verbrennungsofen. | |
Sein Buch zählt zu den wichtigsten Werken der Literatur über das System des | |
nationalsozialistischen Menschenquälens weltweit, auch wenn es in | |
Deutschland erst spät übersetzt wurde und relativ unbekannt geblieben ist. | |
Für das kleine Land Slowenien ist es von überragender Bedeutung, denn Boris | |
Pahor gehörte zu den Menschen, die schon im ersten Drittel des 20. | |
Jahrhunderts auf ihrer nationalen Identität beharrten und dafür unendlich | |
leiden mussten. | |
[4][Pahor ist 2022 im biblischen Alter von 108 Jahren] in seiner | |
Heimatstadt Triest verstorben. Jurij Devetak ist Jahrgang 1997, also Mitte | |
zwanzig. Beide Autoren haben sich noch kennengelernt, Devetaks grafische | |
Version von „Nekropolis“ sollte ursprünglich zum 109. Geburtstag Pahors | |
erscheinen. Nicht umsonst sind auf dem Titel der Graphic Novel – wir | |
bleiben bei dem Begriff, weil kein besserer zur Hand ist – die Namen von | |
Boris Pahor und Jurij Devetak genannt. | |
## Würde bleibt bewahrt | |
Wenn man Pahors „Nekropolis“ liest, bevor man sich an Devetaks „Nekropoli… | |
macht, fragt man sich mit jeder weiteren umgeblätterten Seite umso | |
dringlicher, wie denn diese Geschichte des Elends, der Unterdrückung und | |
des Mordens ein Comic werden soll, ohne dabei die Menschen zu bloßen | |
Folterfiguren zu erniedrigen. Aber Devetak hat bewiesen, dass dies möglich | |
ist. An keiner Stelle müssen die Menschen in dieser Geschichte | |
Gewaltfantasien befriedigen. Ihre Würde bleibt gewahrt. | |
Erreicht hat das der junge Illustrator, in dem er einerseits so nah wie | |
möglich an der Ursprungserzählung von Boris Pahor geblieben ist. Die | |
Reihenfolge der Geschehnisse entspricht nicht immer dem Original, was aber | |
in diesem Fall nur die Lesbarkeit erhöht. Die Texte auf den Seiten – es | |
sind keine Schnipsel, sondern wirkliche Textausschnitte – sind dem Buch | |
Pahors entnommen. | |
Sie stehen, gesetzt in American Typewriter, so da, als seien es Dokumente | |
– was sie in gewisser Weise ja auch tatsächlich sind.Jurij Devetaks | |
Zeichnungen erscheinen andererseits strikt und ausschließlich in | |
Schwarz-Weiß. Man sieht den Erzähler, stets mit einer Schiebermütze auf dem | |
Kopf, so wie sie Pahor tatsächlich gerne trug, zu Beginn an der | |
Schreibmaschine beim Abfassen des Manuskripts und dann, die Geschichte | |
nimmt Bewegung auf, im Auto auf dem Weg zur KZ-Gedenkstätte. | |
## Von Erinnerungen eingeholt | |
Dabei übermannen den Protagonisten die Erinnerungen, er sitzt wieder auf | |
dem Lastwagen auf einer Kiste, in der sich Verstorbene aus dem KZ befinden. | |
Und so geht die Geschichte hin und her zwischen den beiden Zeitebenen, | |
zwischen Einlass begehrenden Touristen im Museum einerseits und den | |
Gedanken an die Krankenbaracke, Typhus, die Ruhr und die toten | |
Mithäftlinge. | |
Der Mann mit der Schiebermütze kehrt zurück in die Baracken von damals, in | |
die eine, die als Gefängnis diente, und in die andere, gedrungenere, in der | |
der Verbrennungsofen untergebracht war. Er sieht die Touristen, die sich | |
vor dem Krematorium stauen, und er erinnert sich der französischen Mädchen, | |
die im Krematorium verbrannt wurden. | |
Und der Protagonist sieht einige Seiten weiter ein junges Pärchen, dass | |
sich in der Gedenkstätte zärtlich küsst. „Unsere Dimension war die | |
apokalyptische Endgültigkeit des Nichts. Die der beiden hingegen ist die | |
der Liebe, die genauso unendlich und unergründlich über alle Dinge waltet“, | |
ist dazu ein Zitat aus dem Roman gesetzt. | |
Der deutsche Wehrmachts-Stabsarzt taucht auf, stark, groß und blond. Er | |
geht oberflächlich und desinteressiert an den Kranken in der Baracke | |
vorbei, deren Betreuer der Mann mit der Schiebermütze geworden ist. Es ist | |
derselbe Mann, der sich später Vorwürfe macht, keinen Widerstand geleistet | |
zu haben im Konzentrationslager. | |
Devetaks Bilder sind strenge und minimalistische Schattenrisse, sie | |
erlauben keine Missinterpretationen. Am Ende kehrt die Geschichte zu der | |
Schreibmaschine in Triest zurück, auf der der Überlebende Boris Pahor | |
seinen Text geschrieben hat. Devetaks Buch aber ist noch weniger ein Comic | |
als es die Geschichte der „Maus“ von Art Spiegelman war. | |
Nicht nur, weil hier absolut nichts komisch ist. Nicht, weil hier keine | |
Blasentexte aus Mündern und Hirnen auftauchen. Auch nicht, weil dieses Werk | |
ohne einen Tropfen bunter Farbe erscheint. Sondern deswegen, weil dies hier | |
einem Dokument sehr nahekommt. | |
9 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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