# taz.de -- Nachruf auf Boris Pahor: Unterkriegen konnten sie ihn nicht | |
> Er konnte Zeugnis von einem ganzen Jahrhundert ablegen. Der | |
> Schriftsteller und KZ-Überlebende Boris Pahor ist in Triest mit 108 | |
> Jahren gestorben. | |
Bild: Boris Pahor: Schrifsteller und Überlebender des Holocaust | |
Als Boris Pahor 1913 in Triest geboren wurde, gehörte die Hafenstadt an der | |
nördlichen Adria noch zum Habsburgerreich. Und Pahor zur slowenischen | |
Minderheit, die sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht als solche begriff. | |
Triest war eine Vielvölkerstadt: Slowenen, Italiener, Deutsche, Serben, | |
Kroaten lebten hier. | |
Wenig später wurde die Stadt Italien zugesprochen und als im Jahr 1920 | |
Faschisten den „Narodni Dom“, das slowenische Kulturzentrum, in Brand | |
steckten, sah Pahor als kleiner Junge, wie sie die Feuerwehrschläuche | |
zerschnitten, damit er auch ja nicht gelöscht werden konnte. | |
Nur wenig später, unter Mussolini, durfte er seine Sprache nicht mehr in | |
der Schule sprechen. „Am Anfang war der Faschismus“ sagte er [1][später im | |
taz-Interview,] da war er bereits 105 Jahre alt und empfing in seinem Haus | |
im Triester Vorort Prosecco, oben in den Bergen über der Stadt, mit Blick | |
auf den Golf. | |
Er konnte auch deutsch sprechen, wenn auch „nur für die Reise“, wie er | |
sagte. Er hatte es im KZ gelernt. Gehen konnte er zu diesem Zeitpunkt schon | |
nicht mehr, er war so klein und leicht, dass seine Pflegerin ihn tragen | |
konnte. Geistig aber war er noch immer ein Schwergewicht, auf Fragen | |
antwortete er im Rahmen von minutenlangen, komplexen Stehgreifreferaten – | |
zu diesem Zeitpunkt galt er längst als wichtigster Repräsentant der | |
slowenischen Gegenwartsliteratur. | |
## Teil der slowenischen Befreiungsbewegung | |
Er konnte Zeugnis von einem ganzen Jahrhundert ablegen. Nach dem | |
Theologiestudium wurde er von der italienischen Armee eingezogen und 1940 | |
nach Libyen verlegt, wo er gegen die Engländer kämpfen musste. Danach | |
dolmetschte er für gefangengenommene jugoslawische Offiziere am Gardasee. | |
Erst nach dem Zusammenbruch des faschistischen Italiens 1943 kehrte er nach | |
Triest zurück und schloss sich der slowenischen Befreiungsbewegung an, in | |
der Kommunisten und Katholiken gemeinsam gegen den Faschismus kämpften. | |
Im Januar 1944 wurde er jedoch verhaftet – denunziert von Angehörigen der | |
mit den Nazis kollaborierenden slowenischen Domobranzen-Miliz – und der | |
Gestapo übergeben. Er wurde nach Dachau gebracht und später nach | |
Mittelbau-Dora, wo er als Sanitäter arbeitete. 1945 wurde er in | |
Bergen-Belsen befreit. | |
„Nekropolis“, erschienen 1967, heißt sein bekanntester und hochgelobter | |
Roman, in dem er seine KZ-Traumata verarbeitet hat. In deutscher | |
Übersetzung erschienen auch „Villa am See“, „Die Verdunkelung“, „Nom… | |
ohne Oase“, „Im Labyrinth“ und „Geheime Sprachgeschenke“. | |
Verglichen hat man ihn mit [2][Primo Levi], Jorge Semprún und [3][Imre | |
Kertész]. Auch wenn er (zumindest in Deutschland) weniger bekannt war. Auch | |
in Italien war man erst in den letzten Jahren bereit, ihm zuzuhören – stets | |
hatte er Italien bezichtigt, sich nicht mit seiner faschistischen | |
Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben. In Frankreich hingegen wurde er | |
im Jahr 2007 zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen. | |
Unterkriegen konnten ihn weder die italienischen noch die deutschen | |
Faschisten. Mit der jugoslawischen Führung hatte er sich ebenfalls | |
angelegt, weil er den drangsalierten slowenischen Schriftsteller und | |
christlichen Sozialisten Edvard Kocbek unterstützt hatte, der die Ermordung | |
von Nazi-Kollaborateuren durch Titos Truppen kritisiert hatte. | |
Auch dem Tod hatte Pahor ausdauernd getrotzt, bis er am Montag im Alter von | |
108 Jahren in Triest gestorben ist. | |
30 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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