# taz.de -- Nachruf Imre Kertész: „Damit du leben kannst“ | |
> Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész starb im Alter von | |
> 86 Jahren. Er überlebte Auschwitz und das prägte sein Schaffen. | |
Bild: Menschen, die ihm begegnet sind – von 2001 bis 2012 hat Kertész in Ber… | |
BERLIN taz | Auf späten Fotos trägt Ime Kertész gern einen Hut. Krawatte, | |
guter Anzug – die Gestalt eines Schriftstellers, zu der einem der Begriff | |
„leicht veraltet“ einfällt, was aber gut zu einem 1929 geborenen älteren | |
Herren passt. | |
Dazu passt auch, wie Imre Kertész oft beschrieben wird. Er selbst hat sich | |
in einer seiner vielen veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen als | |
„hedonistisch“ bezeichnet. Menschen, die ihm begegnet sind – von 2001 bis | |
2012 hat Kertész in Berlin gelebt – betonen seine Höflichkeit und seine | |
Selbstironie. | |
Wenn man sich klarzumachen sucht, was den Lauf dieses Lebens und vor allem | |
aber auch den Rang seines Schreibens ausmacht, kann man aber auch auf ein | |
ganz anderes Foto stoßen. Es zeigt einen ausgemergelten Jungen mit | |
glattrasiertem Kopf und dünnem Hals. Er trägt Sträflingskleidung, im | |
unteren Bereich des Bildes steht eine Nummer: 0 24 6 44 21. | |
Das Foto ist ein Schock. Mit den späten Bildern des berühmten | |
Schriftstellers, Nobelpreisträgers und freundlichen Herren bekommt man es | |
nicht zusammen. Und doch ist das auch Imre Kertész, der bis zu seiner | |
Befreiung am 11. April 1945 durch die Amerikaner 329 Tage in | |
Konzentrationslagern gefangen gehalten worden war. Bereits im September | |
1945 saß er, wie seine Biografin Irene Heidelberger-Leonard anmerkt, schon | |
wieder auf derselben Schulbank des ungarischen Gymnasiums, aus dem er ein | |
Jahr zuvor geholt worden war. Die Biografin: „Über die Umstände seiner | |
Abwesenheit wurde nicht gesprochen, niemand stellte Fragen, und er gab | |
nichts preis.“ | |
## Die Gräuel vergessen, „damit du leben kannst“ | |
Genau dieser Umgang mit der Geschichte, das Beschweigen, wird von Imre | |
Kertész in seinem Hauptwerk, dem „Roman eines Schicksallosen“ als | |
Überlebensstrategie beschrieben. „Vor allem musst du die Gräuel vergessen�… | |
bekommt der jugendliche Ich-Erzähler gesagt, in dem Kertész seine eigenen | |
Erlebnisse in Auschwitz und Buchenwald beschreibt. „Wieso?“, fragt er | |
zurück. „Damit du leben kannst“, bekommt er zur Antwort. | |
Imre Kertész selbst gelang ein anderer Weg. Verbissen, oft genug, wie er in | |
autobiografischen Auskünften beschrieben hat, auch immer wieder | |
hoffnungslos kämpft er von 1960 an gut ein Dutzend Jahre darum, seine | |
Erfahrungen literarisch zu verarbeiten. Heraus kam Mitte der siebziger | |
Jahre – und zunächst überhaupt nicht gewürdigt – der „Roman eines | |
Schicksallosen“, eine der größten, nachhaltigsten und zugleich | |
herausforderndsten Leseerfahrungen, die die Weltliteratur bereit hält. | |
Herausfordernd keineswegs deswegen, weil es besonders kompliziert oder | |
umfassend wäre. Das Buch ist eins dieser Meisterwerke, die einem gar nicht | |
auftrumpfend entgegentreten, sondern fast leise und einem doch alle | |
gewohnten Sichtweisen durcheinanderwirbeln können. | |
Der Roman ist konsequent aus der Perspektive eines Jugendlichen erzählt, | |
der Auschwitz nur überleben konnte, indem er seine Individualität ganz | |
aufgab und sich restlos dem System des KZ unterwarf. Er akzeptiert die | |
totale Herrschaft über seinen eigenen Körper und sein eigenes Schicksal und | |
macht sich damit, so eine der harten Thesen, die Kertész in seinen Essays | |
erläutert hat, ebenso am Fortbestehen des KZs schuldig wie die Henker. | |
Kertész: „Die Unschuldigen sind die, die gestorben sind. Aber einer, der | |
das durchlebt hat, kann […] nicht ganz ohne diese allgemeine menschliche | |
Beschmutzung sein.“ | |
## Das „schöne Konzentrationslager“ | |
Seinen Rang als Autor macht aus, dass Kertész diese Erfahrung literarisch | |
durchdrungen hat, bis hin zu solchen zunächst unangemessen klingenden, aber | |
doch genauen Wendungen wie die vom „schönen Konzentrationslager“: „Und | |
alles Abwägen, alle Vernunft, alle Einsicht, alle Verstandesnüchternheit | |
half da nichts – in mir war die verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit | |
gewissermaßen selbst schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme | |
einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: ein bisschen möchte ich noch | |
leben in diesem schönen Konzentrationslager.“ | |
Kertész ist ein Autor, der als Überlebender mit sich selbst ins Gericht | |
ging. Und genau damit, vielleicht kann man es so pathetisch sagen, holte er | |
sich sein Schicksal zurück. In einem Interview sagte er: | |
„Schicksallosigkeit bedeutet, Menschen werden gezwungen, ein Schicksal zu | |
leben, das eigentlich nicht ihres gewesen ist.“ So etwas den Menschen | |
anzutun, warf er sein Leben lang den Nazis vor und auch den kommunistischen | |
Regimen des Kalten Krieges. | |
Die Literatur bot ihm – auch in seinen anderen Romanen „Fiasko“ und | |
„Kaddisch für ein ungeborenes Kind“ sowie in seinen autobiografischen | |
Büchern wie „Galeerentagebuch“ und „Ich – ein Anderer“ – die Mögl… | |
dieser Schicksallosigkeit reflektierend zu entkommen, indem er sie | |
unerschrocken analysierte: eine ungeheure Leistung. | |
2002 erhielt Imre Kertész den Nobelpreis. Im November 2012 zog er, | |
parkinsonkrank, von Berlin in seine Geburtsstadt Budapest zurück. Am 31. | |
März 2016 ist er im Alter vor 86 Jahren gestorben. | |
31 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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