| # taz.de -- Neues Buch aus Nachlass von Imre Kertész: Das Paradox des Überleb… | |
| > Sechs Jahre nach seinem Tod ist ein Arbeitstagebuch von Imre Kertész | |
| > erschienen. Der Autor schildert die Sehnsucht nach dem | |
| > Konzentrationslager. | |
| Bild: Die Anerkennung für seine Romane kam spät: der Schriftsteller Imre Kert… | |
| Dass Imre Kertész vom „Glück der Konzentrationslager“ schreiben konnte, | |
| haben ihm Kritiker:innen lange übel genommen. Sein jugendlich | |
| unbedarfter Protagonist in „Roman eines Schicksallosen“ stelle eine | |
| Verhöhnung der Nazi-Opfer dar, hieß es; als wäre Kertész nicht selbst eins | |
| dieser Opfer gewesen. Das Glück der Konzentrationslager und mehr noch | |
| [1][das Leben im Unglück nach dem Entkommen steht im Mittelpunkt seines | |
| literarischen Schaffens.] | |
| Imre Kertész, geboren 1929 in Budapest, hat die Todeslager Auschwitz und | |
| Buchenwald überlebt – eine „Panne“, wie er es in Anlehnung an Friedrich | |
| Dürrenmatt und Jean Améry nennt – um sich in einer Gegenwart | |
| wiederzufinden, in der seine ungarischen Mitbürger:innen jegliche | |
| Mittäterschaft abstreiten. | |
| „So ‚kamen‘ zum Beispiel die Judensternhäuser, ‚kam‘ der fünfzehnte | |
| Oktober, ‚kamen‘ die Pfeilkreuzler, ‚kam‘ das Ghetto, ‚kam‘ die Sac… | |
| Donau-Ufer, ‚kam‘ die Befreiung“, lauscht der ehemalige KZ-Häftling Gyö… | |
| Köves in „Roman eines Schicksallosen“ nach seiner Rückkehr den | |
| Dagebliebenen. Dabei soll die Brutalität und Dienstfertigkeit der Ungarn | |
| bei der Deportation der Jüd:innen aus ihrem Land selbst Adolf Eichmann | |
| beeindruckt haben. | |
| Kertész schreibt seinen „Buchenwald-Roman“ nicht als Bewältigungstherapie. | |
| Ausgangspunkt ist die unverständlich bleiben müssende Sehnsucht nach dem | |
| Lager; das „Heimweh, das dieses Schreiben inspirierte, ist die Flucht vor | |
| der Wahrheit der sich wandelnden Welten in die unverrückbare Klarheit der | |
| in Buchenwald erkannten ewigen Wahrheit“, schreibt er. | |
| „Heimweh nach dem Tod“ ist auch das kürzlich aus dem Nachlass erschienene | |
| Arbeitstagebuch (1958 bis 1962) Kertész’ überschrieben, in dem der spätere | |
| Nobelpreisträger zur Einsicht in die Notwendigkeit des Schreibens über das | |
| Erlebte gelangt. | |
| ## Aufgabe jeglicher Individualität | |
| Über die frühe Zeit Kertész’ war bislang wenig bekannt, der damals knapp | |
| 30-jährige Noch-nicht-Schriftsteller wohnt mit seiner Frau Albina in einer | |
| engen Einzimmerwohnung in Budapest, der Hauptstadt eines sich | |
| konstituierenden kommunistischen Staates. Das fürchterliche Elend des | |
| Lagers kommt ihm im Rückblick verschönt, manchmal „sonderbar anziehend“ | |
| vor. Er begreift, dass die völlige Aufgabe jeglicher Individualität | |
| erlösend, sogar lustvoll sein kann, darin, „dass wir überhaupt nichts | |
| anderes zu tun haben, als zu vegetieren“. | |
| Irgendwann ist selbst Hunger, Kälte und Schmerz vergessen. „Was auch immer | |
| um uns herum geschieht, wir nehmen es nicht mehr wahr“, schreibt Kertész in | |
| einem Eintrag aus dem Jahr 1960. „Die Nasen laufen, die Augen triefen und | |
| wir lassen ohne Zögern unsere Exkremente ab, ohne die Hose | |
| herunterzulassen. Wer sich in einem solchen Zustand befand, wurde Muselmann | |
| genannt. (…) Der Muselmann leidet nicht. (…) Der Mensch kann nie so nahe | |
| bei sich selbst und bei Gott sein wie der Muselmann unmittelbar vor seinem | |
| Tod.“ | |
| In seinen Tagebüchern arbeitet er noch mit dem Arbeitstitel „Ferien im | |
| Lager“, später erscheint ihm „Der Muselmann“ für seinen 1975 erscheinen… | |
| KZ-Roman als passender. | |
| ## Singuläre Erzählweise | |
| Es ist die Genauigkeit, die an den Arbeitstagebüchern verblüfft, mit der | |
| Kertész schon vor dem Schreiben des „Roman eines Schicksallosen“ dessen | |
| singuläre Erzählweise definiert, ja, sein Werk im Voraus interpretiert. „Es | |
| geht um den Blickwinkel, eine bestimmte verschleierte, skizzenhafte | |
| Darstellungsweise, die aber sehr rhythmisch ist durch die hintergründige | |
| Spannung. Der Ton selbst ist primitiv“, hält er fest. | |
| Die Perspektive eines 14-Jährigen, dem die adrette Erscheinung eines | |
| SS-Mannes Vertrauen einflößt, der das Lächeln des Lagerarzts als gütig | |
| empfindet. Ein mittlerweile 15-Jähriger, den die Befreiung des Lagers erst | |
| dann erleichtert, als er sicher sein kann, dass es trotzdem am Abend eine | |
| Suppe zu essen gibt. | |
| „Die Dialektik von Leben und Tod im Spiegel einer durchschnittlichen Seele | |
| aufzuzeigen“, davon solle sein Roman handeln und davon handele auch Thomas | |
| Manns „Zauberberg“. Kertész führt überraschende Beispiele aus Literatur, | |
| Film und Philosophie an, die er in geistiger Verwandtschaft zu seinem Werk | |
| sieht. | |
| Alain Resnais’ arkadisch demütiger Film „Hiroshima, mon amour“ überzeugt | |
| Kertész davon, jegliches Schmuckwerk, Posenhafte in seinem Schreiben | |
| auszuklammern. Dostojewskis Raskolnikow begleitet ihn für Jahre. Camus und | |
| Nietzsche sind ihm wichtig, mehr noch Schopenhauer, dessen „Welt als Wille | |
| und Vorstellung“ hinter jedem Kertész-Roman durchscheint. | |
| ## Leiden an der Langsamkeit | |
| Nicht nur der Wille zum Leben ist es, der ihn beschäftigt, sondern auch die | |
| scheinbare Zufälligkeit bei der Rollenzuweisung von Opfer und Täter. | |
| Schopenhauers Losung „der Gequälte und der Quäler sind eines“ manifestiert | |
| sich bei Kertész in seiner Erfahrung als Gefängniswärter während seines | |
| Militärdienstes. Nicht Auschwitz, das Erdulden, habe ihn zum Schriftsteller | |
| gemacht, sondern das Militärgefängnis, die Situation des Henkers, bekennt | |
| er später. | |
| Überhaupt wäre der „Roman eines Schicksallosen“ wohl nicht so geschrieben | |
| worden, ginge ihm nicht das Scheitern eines anderen Romanprojekts voraus. | |
| Kertész' Arbeitstagebücher beginnen mit dem Leiden an seiner Langsamkeit, | |
| seiner Unfähigkeit, den „Ich, der Henker“ genannten Roman über einen in | |
| Haft sitzenden NS-Verbrecher zu Papier zu bringen. | |
| Den Text sollte Kertész sein Leben lang nicht schreiben, im Nachlass finden | |
| sich lediglich Entwürfe des ersten Kapitels dazu. Doch hielt er an der | |
| Überzeugung fest, dass die Verfolgung der Juden, dass Auschwitz lediglich | |
| eine historische Tatsache, aber nicht Ergebnis einer zwangsläufigen | |
| Entwicklung gewesen sei. Kertész habe sich nicht dem Narrativ | |
| angeschlossen, das Schicksal der Juden sei es, auf ewig verfolgt zu werden, | |
| sagt Katalin Madácsi-Laube, die den Kertész-Nachlass bearbeitet. | |
| ## Viel unveröffentlichtes Material bereit | |
| Der Nachlass liegt im Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin, | |
| was Kertész vor seinem Tod verfügt habe. „Er wollte, dass er in Sicherheit | |
| und an einem Ort ist, wo seine Werke große Wirkung entfaltet haben“, sagt | |
| sie. Dieser Nachlass halte noch viel unveröffentlichtes Material bereit. Er | |
| umfasse komplette Briefwechsel, Prosafragmente und 1.300 Seiten an | |
| Tagebuchaufzeichnungen. | |
| Die gebürtige Ungarin hat ihr Land nach dem Zerfall des Ostblocks | |
| verlassen, studierte Germanistik und Geschichte in Freiburg und Göttingen. | |
| Erst in Deutschland habe sie das erste Mal von Imre Kertész gehört. Dessen | |
| Erfolg hängt unmittelbar mit Deutschland zusammen, erhielt er doch mit | |
| Erscheinen der deutschen Übersetzung von „Roman eines Schicksallosen“ durch | |
| Christina Viragh 1996 hierzulande die Anerkennung, die ihm in Ungarn | |
| zunächst verwehrt blieb. | |
| Kertész wurde nicht nur durch seine Bücher, sondern in seinen späten Jahren | |
| auch wegen seiner Essays und Reden bekannt. In „Holocaust als Kultur“ | |
| plädiert er dafür, die Katastrophe des 20. Jahrhunderts als gemeinsame und | |
| im Nachhinein verbindende europäische Erfahrung zu werten. | |
| Die Bereitschaft in Deutschland, sich mit der NS-Vergangenheit | |
| auseinanderzusetzen, lobte er, auch weil er in Ungarn ganz andere | |
| Erfahrungen gemacht hat, sagt Madácsi-Laube. [2][Der in den 90er Jahren in | |
| Ungarn offen zutage tretende Antisemitismus habe ihn überrascht, die sich | |
| auftuenden Gräben auch unter Intellektuellen bestürzt.] Dieses Klima | |
| verließ Kertész 2001 und zog mit seiner zweiten Frau Magda nach Berlin. | |
| ## Theaterstück für die DDR | |
| Ins Land der Täter kehrte Kertész nach seiner Haft in Buchenwald erstmals | |
| nach 20 Jahren zurück. Im Roman „Der Spurensucher“ (1977) erzählt er von | |
| einem ehemaligen KZ-Insassen, der nach Zeitz reist, ein Außenlager | |
| Buchenwalds, in dem auch Kertész inhaftiert war, das er jedoch | |
| unwiederbringlich verändert vorfindet. Der kathartische Effekt der Reise | |
| bleibt aus. | |
| Finanziell ermöglicht hatte die Reise die DDR, die ein Theaterstück von ihm | |
| für das ostdeutsche Publikum adaptieren wollte, erzählt Madácsi-Laube. Das | |
| ist insofern erwähnenswert, als Kertész seine Stücke, „die Komödien“, | |
| ungern schrieb und nie seinem Œuvre zurechnete. In den Arbeitstagebüchern | |
| beklagt er die Zeit, die sie ihm zuungunsten seiner Prosa rauben. Doch er | |
| benötigte ihren Ertrag, um sein fruchtloses Romanschreiben zu finanzieren. | |
| Später wird er als Übersetzer tätig, überträgt etwa Nietzsche ins | |
| Ungarische. | |
| Der Nihilist Nietzsche plädierte für ein selbstgewähltes Sterben („frei zum | |
| Tode und frei im Tode“). Mit der Selbsttötung hat sich Kertész viel | |
| befasst. Am eindrücklichsten verarbeitet er das in „Liquidation“, dem 2003 | |
| erschienenen Roman über den Suizid eines Schriftstellers, der Auschwitz | |
| überlebt hat. Der Überlebende „sei nicht tragisch, sondern komisch, weil er | |
| kein Schicksal habe. Auf der anderen Seite lebe er mit einem tragischen | |
| Schicksalsbewusstsein“, bringt Kertész knappe 30 Jahre nach dem „Roman | |
| eines Schicksallosen“ das Paradox seines Lebens auf den Punkt. | |
| Schriftstellerkollegen wie Primo Levi und [3][Jean Améry, die ebenfalls | |
| über die Lager schrieben,] hielten die Absurdität der „Panne“ des | |
| Überlebens nicht aus, begingen Jahrzehnte nach dem Holocaust Suizid. Ihn | |
| habe der Stalinismus gerettet, so Kertész, da er ihn davor bewahrte, sich | |
| jemals in Freiheit zu wähnen. | |
| 30 Jul 2022 | |
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| Julia Hubernagel | |
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