| # taz.de -- Nachruf auf Gáspár Miklós Tamás: Der Philosoph als ewiger Dissi… | |
| > Der ungarische Denker Gáspár Miklós Tamás ist gestorben. Er war als | |
| > kritischer Geist erst in Rumänien, später in Ungarn vielen Schikanen | |
| > ausgesetzt. | |
| Bild: Der ungarische Philosoph Gaspar Miklos Tamas bei einer Protestaktion in B… | |
| Von seiner Herkunft her wäre Gáspár Miklós Tamás in einer bevorzugten | |
| Zielgruppe von Ungarns rechtsnationalistischem Premier Viktor Orbán | |
| gewesen: als Angehöriger der magyarischen Minderheit in Rumänien. Der | |
| Zufall wollte es, dass beide als Liberale bei der politischen Wende vor | |
| drei Jahrzehnten eine führende Rolle spielten: Orbán als junger Rebell, | |
| Tamás als Intellektueller und Samisdat-Aktivist. | |
| Aber anders als der Politiker, der seit mehr als zwölf Jahren den Staat von | |
| innen her nach seinem Denkmuster umkrempelte, blieb der Denker immer | |
| Dissident. Orbán schickte ihn deswegen schon 2011 in Frühpension. | |
| 1948 im mehrsprachigen rumänischen Cluj (Kolozsvár/Klausenburg) in eine | |
| jüdische Familie geboren, wurde Tamás schon früh politisiert. Seine | |
| marxistischen Eltern – ein Journalist und eine Krankenschwester – pflegten | |
| auf hohem Niveau zu diskutieren, wie er sich in einem [1][Interview | |
| erinnerte]. Dass die Praxis der nationalistisch-kommunistischen Diktatur | |
| wenig mit dem Ideal der proletarischen Befreiung zu tun hatte, wurde dem | |
| aufgeweckten Jungen bald klar. | |
| ## Verfolgt von der Securitate | |
| Der wissbegierige Zweifler studierte zuerst Philosophie in Cluj und | |
| anschließend klassische Philologie in Bukarest. Er bekannte sich zur Schule | |
| des Philosophen György Bretter und schrieb für die Wochenzeitung Utunk | |
| (Unser Weg). | |
| Als er sich weigerte, dort eine Lobeshymne auf den kommunistischen Staats- | |
| und Parteichef Nicolae Ceauşescu zu veröffentlichen, verfolgte ihn die | |
| berüchtigte Geheimpolizei Securitate monatelang mit Schikanen und belegte | |
| ihn mit einem Publikationsverbot. Dem entzog sich der junge Philosoph | |
| schließlich durch einen Umzug nach Ungarn. | |
| Dort sollte es ihm allerdings nicht viel besser ergehen. Als Mitbegründer | |
| und ständiger Autor der Untergrundzeitung Beszélő (Sprechzimmer) wurde er | |
| mit einem Berufsverbot belegt, als sein Pseudonym aufflog. Vorher konnte er | |
| sich allerdings mit seinen Vorlesungen in Philosophiegeschichte an der | |
| Eötvös-Loránd-Universität in Budapest einen Kreis von Studenten aufbauen, | |
| aus dem die unabhängige Studentenbewegung „Dialog“ hervorgehen sollte. | |
| Seine Vorlesungen zur Siebenbürgen-Problematik, in denen er sowohl dem | |
| ungarischen Nationalismus als auch linken romantischen Illusionen eine | |
| Abfuhr erteilte, erregten im kommunistischen Ungarn Aufsehen und Unmut beim | |
| Regime. Seine gegen den Nationalismus gerichteten Essays gingen den | |
| Mächtigen zu weit. | |
| ## Plumper Antikommunismus stieß ihn ab | |
| Tamás flog von der Universität und wurde als Angestellter in eine | |
| Vorstadtbibliothek verräumt, bis man ihn nach wenigen Monaten auch dort | |
| nicht mehr duldete. In der Dissidentenszene blieb er als Liberaler aktiv | |
| und hatte wesentlichen Anteil an der Wende, deren ungarische | |
| Erscheinungsform ihn bald zum Kapitalismuskritiker werden ließ. Der plumpe | |
| Antikommunismus der neuen Politikerklasse stieß ihn ab. Tamás blieb ein | |
| Dissident, zuletzt mehr Anarchosyndikalist als Marxist. | |
| In seiner mit Büchern in diversen Sprachen vollgestopften Wohnung schrieb | |
| er bis zuletzt giftige Essays gegen das Orbán-Regime und äußerte sich auch | |
| [2][gegenüber der taz gnadenlos über seine Landsleute,] die auf den | |
| billigen Nationalismus Orbáns hereinfielen. Gáspár Miklós Tamás starb am | |
| Sonntag nach längerer Krankheit. | |
| 16 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://mediationsjournal.org/articles/the-left-and-marxism-in-eastern-euro… | |
| [2] /Parlamentswahl-in-Ungarn/!5044759 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Leonhard | |
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