| # taz.de -- Kommunistische Bürgermeisterin Österreichs: Lennon statt Lenin | |
| > Das Buch "Es geht auch anders" zeichnet den Weg der Bürgermeisterin Elke | |
| > Kahr nach. In "Imagine" findet sie das Idealbild. | |
| Bild: Die Bürgermeisterin von Graz im Büro des Rathauses | |
| Es ist John Lennon, nicht Karl Marx oder gar Wladimir Iljitsch Lenin, der | |
| Elke Kahr als wichtigste Inspirationsquelle dient. Das suggeriert zumindest | |
| ihr aus Interviews komponiertes Buch, in dem die [1][KPÖ-Bürgermeisterin | |
| von Graz] zu erklären versucht, was sie unter Kommunismus versteht. In der | |
| utopischen Ballade „Imagine“ findet sie das Idealbild einer kommunistischen | |
| Welt ohne Ausbeutung und Krieg verwirklicht. | |
| Kein Wunder, dass Elke Kahr solche Bilder bemüht. Bevor es um Inhalte geht, | |
| muss sie sich in praktisch jedem Interview zuerst einmal vom Stalinismus | |
| distanzieren und zuletzt auch klar zum russischen Angriffskrieg auf die | |
| Ukraine Stellung beziehen. | |
| Das tut sie auch in dem Buch „Es geht auch anders“, dessen knapp 120 Seiten | |
| Text von der Journalistin und Bloggerin Silvia Jelincic in Form gebracht | |
| wurden: „Wladimir Putin hat einen jahrelangen Frieden auf unserem Kontinent | |
| zerstört. Er schmückt sich mit den Insignien der Sowjetunion, aber er ist | |
| kein Sozialist.“ | |
| Auch ihre Partei nimmt Kahr nicht aus der Pflicht. Dass sie zu den Gräueln | |
| des Stalinismus geschwiegen habe, „hat sicher nicht dazu beigetragen, ihr | |
| Ansehen in Österreich zu stärken“. | |
| ## KPÖ im Telefonbuch | |
| Ihren Beitritt zu der Kommunistischen Partei Österreichs als junge Frau | |
| erklärt sie damit, dass ihr viele Leute gesagt hätten, sie spreche wie eine | |
| Kommunistin. Darauf habe sie die KPÖ Graz im Telefonbuch nachgeschlagen und | |
| dort das Gespräch gesucht. | |
| Seit 1985 ist sie dabei und auch nicht gewillt, das stigmatisierende | |
| Etikett Kommunismus abzulegen. Dass auch die Bevölkerung die | |
| Berührungsängste verliert, zeigen die Grazer Kommunalwahlen von 2021, die | |
| Elke Kahr zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt Österreichs machten. | |
| Bis der Stadtrat Ernest Kaltenegger die KPÖ in Graz in den 1990er Jahren | |
| durch konsequente Basisarbeit und den Einsatz für leistbares Wohnen wieder | |
| salonfähig machte, fristete die Partei ein Schattendasein. Dass sie im | |
| Widerstand gegen die Nationalsozialisten eine führende Rolle gespielt | |
| hatte, war für viele Linke Motivation genug, sich weiter zu dieser Partei | |
| zu bekennen, die 1945 bei den ersten Wahlen in der Zweiten Republik aber | |
| mit 5 Prozent Zustimmung nur knapp den Einzug in den Nationalrat schaffte. | |
| Bei den Wahlen 1959, vier Jahre nach Abzug der sowjetischen | |
| Besatzungstruppen, flog die KPÖ aus dem Parlament. | |
| In Erinnerung bleibt ein gescheiterter Generalstreik, bei dem den | |
| Kommunisten 1950 – zu Unrecht – Putschgelüste unterstellt wurden. Großes | |
| Prestige genoss der kommunistische Katholik Viktor Matejka, der als | |
| Kulturstadtrat in Wien nach dem Krieg dem kulturellen Leben neue Impulse | |
| einhauchte und zu den wenigen Politikern zählte, die sich für die Rückkehr | |
| vertriebener Juden und Jüdinnen einsetzten. | |
| ## Interne Streitigkeiten | |
| Auch in Wien verschwand die KPÖ aber bald aus dem Gemeinderat. Auf | |
| nationaler Ebene kam sie selten über 1 Prozent der Stimmen hinaus. Der von | |
| der Sowjetunion niedergeschlagene Ungarnaufstand 1956 und der Einmarsch der | |
| Warschauer-Pakt-Truppen 1968 in die Tschechoslowakei, der den Prager | |
| Frühling beendete, sorgten bei der KPÖ für interne Streitigkeiten und | |
| prominente Parteiaustritte. | |
| Themen wie Arbeit, Bildung, Umwelt, Umverteilung und Demokratie werden in | |
| ihrem Buch „Es geht auch anders“ jeweils auf wenigen Seiten abgehakt. Aber | |
| das Geheimnis von Elke Kahr ist ohnehin ihre Nahbarkeit und ihre | |
| Bereitschaft zu helfen. Drei Viertel ihres Nettoeinkommens fließen in einen | |
| Topf, in den sie für soziale Notlagen greift. Über 1 Million Euro hat sie | |
| im Laufe der Jahre selbst eingezahlt, über 2,5 Millionen sind es mit den | |
| Beiträgen der Parteikollegen. | |
| „Unsere Bürgermeisterin hat ein Helfersyndrom“, spottet das sozialkritische | |
| Theater am Bahnhof, „alle wissen es. Nur sie weiß es nicht.“ Aber das | |
| Rezept funktioniert. In der Stadt Salzburg wurde die [2][KPÖplus damit Ende | |
| April zur zweitstärksten Kraft.] Und auch in anderen Gemeinden und | |
| Bundesländern spüren die Kommunisten Aufwind. | |
| 24 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralf Leonhard | |
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