| # taz.de -- Vom Reformer zum Revolutionär: Wer hat Angst vor Karl Marx? | |
| > Kaum SPÖ-Parteivorsitzender, hat die Jagd auf Andreas Babler begonnen. | |
| > Dabei will er doch den brüchig gewordenen Gesellschaftsvertrag schützen. | |
| Bild: Karl-Marx-Graffiti der Künstler:in Marycula, gesehen in Berlin im Dezemb… | |
| Die Wahl des Vorsitzenden der österreichischen Sozialdemokratie war | |
| bekanntlich etwas holprig. Um das Mindeste zu sagen. Ein Psychoanalytiker | |
| meinte gar, der Irrtum bei der Auszählung sei eine Fehlleistung gewesen. | |
| Eine Partei, die sich nicht wirklich entscheiden kann, wählt erst den einen | |
| und dann den anderen. Was aber seit dieser (Nicht-)Wahl passiert, bringt | |
| diese fehlende Entschlossenheit nun auf paradoxe Weise hervor. | |
| Kaum Parteivorsitzender, hat die Jagd auf [1][Andreas Babler] schon | |
| begonnen. Es haben sich, scheint’s, alle Kräfte zu einer Hetzjagd gegen | |
| ihn verbunden: Politik als Jagdgesellschaft. | |
| Das Paradoxon besteht nun darin, dass ausgerechnet dies ihn glaubwürdiger | |
| macht. Je mehr man ihn hetzt, desto überzeugender wirkt Babler. Gerade die | |
| Angriffe lassen ihn als das erscheinen, was er sein möchte. Sie machen | |
| klar: Babler gilt als etwas Anderes. Jahrelang sprach man in Österreich von | |
| der SPÖVP wegen der Ununterscheidbarkeit der beiden Parteien. Und genau | |
| weil er als Differenz wahrgenommen wird, gilt Babler als Bedrohung. | |
| Die ÖVP hat diese Bedrohung klar benannt: Mit Babler habe die SPÖ die Mitte | |
| verlassen und sich an den äußeren linken Rand geschoben. Darum geht’s also | |
| bei der Jagd: die Mitte zu hüten. Ihre Mitte. Diese scheint so unschuldig: | |
| Mitte – das ist das Normale. Aber wer definiert sie? Wer bestimmt, was | |
| normal ist? [2][Mitte ist eine Herrschaftsform, ein durchgesetzter | |
| Konsens.] | |
| ## Wen kümmert beim Halali-Blasen das Marx’sche Denken? | |
| Mitte ist auch das, was nicht verändert werden darf. Außer undeklariert: | |
| wenn etwa der Sozialstaat nach und nach nicht mehr zur Mitte gehört. Oder | |
| wenn die FPÖ salon-, also mittefähig gemacht wird. Die Mitte ist das, was | |
| vorgibt, dass alles in Ordnung sei – bis auf das, was am Rand ist, etwa | |
| Migranten. Nicht in Ordnung ist also das, was nicht dazugehört zur Mitte. | |
| Nun ist aber längst nicht mehr alles in Ordnung. Und während dieser Konsens | |
| der Mitte immer brüchiger wird, während die Leute sich ihr Leben nicht mehr | |
| leisten können, während die sozialen Verwerfungen täglich greifbarer | |
| werden, wird Babler als Revolutionär gejagt. Wie sehr muss sich die Mitte | |
| schon verschoben haben, wenn seine sozialdemokratischen Forderungen schon | |
| als revolutionär gelten! | |
| Wo doch Babler durch Reformen gerade das schützen möchte, was brüchig ist: | |
| den bestehenden Gesellschaftsvertrag. Aber weil jede Verschiebung der Mitte | |
| unerwünscht ist, wird der Reformer, der er sein möchte, als Revolutionär | |
| stigmatisiert. | |
| Karl Marx kam der Jagdgesellschaft da wie gerufen. Denn Babler hat sich in | |
| Interviews zu Marx „bekannt“. Etwas stotternd: einmal rein zustimmend und | |
| paar Stunden später partiell ablehnend. Zustimmend zu Marx als „gute | |
| Brille, um auf die Welt zu schauen“ – ablehnend gegenüber einer „Diktatur | |
| des Proletariats“. Seitdem steht Marx im Zentrum der öffentlichen | |
| Aufmerksamkeit. | |
| Während Journalisten sich in „Marxismus in 3 Minuten“- Erklärungen | |
| überbieten, dient er den politischen Gegnern als Steilvorlage. Was kann die | |
| Jagd besser befeuern als ein dämonisierter Karl Marx? Babler = Marx = | |
| Nordkorea, lautet die Parole. Wen kümmert beim Halali-Blasen das Marx’sche | |
| Denken? | |
| ## Die „Mitte“ verteidigen | |
| Wen kümmert’s da, dass Marx nicht nur die bis heute fundierteste Analyse | |
| der kapitalistischen Produktionsweise vorgelegt hat – mit der ihr eigenen | |
| Dynamik unversöhnlicher Widersprüche, die gerade heute wieder akut zu | |
| werden drohen? Wen kümmert’s da, dass seine Darlegung, wie ökonomische und | |
| gesellschaftliche Prozesse funktionieren, bis heute in | |
| Gesellschaftsanalysen weiterwirken? Wen kümmert’s da, dass Marx die | |
| Globalisierung, die uns heute beherrscht, bereits konzipiert hatte? Kurzum | |
| – was kümmert es die Jagdgesellschaft, dass Marx ein Klassiker ist? | |
| In Österreich aber regiert gerade eine Verteufelung, die den Namen Marx | |
| trägt. In selbstzufriedener Ignoranz wird hier ins Jagdhorn geblasen. | |
| [3][Marx gilt als neues Schimpfwort.] | |
| Aber vielleicht verkehrt sich ja auch hier der Effekt und führt zur | |
| Wiederbelebung eines Denkens, einer Theorie, die zum Beispiel erklärt, was | |
| Klassenkampf auch ist: etwa die „Mitte“ zu verteidigen. | |
| 27 Jun 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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