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# taz.de -- Gedenken an Srebrenica: Von langer Hand geplanter Krieg
> Die Opfer sind 1995 vor, während und nach dem Genozid von der Welt allein
> gelassen worden. Exemplarisch für die Kriegsverbrechen ist die Republika
> Srpska.
Aus der Entfernung sehen die dunklen Flecken wie achtlos weggeworfene
Kleider aus. Wir sind die ersten Außenstehenden, die im Februar 1996 an den
Ort des Genozids von Srebrenica kommen. Den Abhang zum Wald hinunter liegen
Dutzende von Leichen, halb verwest, zum Teil in modrigen Jeans und
Lederjacken, Hemden und Turnschuhen. Bei manchen stecken die Ausweispapiere
noch in den Hemd- und Jackentaschen. Rucksäcke und andere Gepäckstücke
liegen verstreut.
Die Toten sind Männer aus [1][Srebrenica], die versucht hatten, die über
100 km entfernte, noch von bosnischen Truppen gehaltene Stadt Tuzla zu
erreichen. Der serbische Befehlshaber [2][Ratko Mladi]ć hatte sich ein
teuflisches System ausgedacht. Rund 40.000 Menschen waren auf der Flucht
vor seinen Truppen, gegen die die nur noch ein paar Hundert Männer
zählenden holländischen Blauhelme völlig machtlos waren. Mladić befahl,
Frauen und Kinder mit Bussen in das von bosnischen Truppen kontrollierte
Tuzla abzutransportieren.
An den Männern aber wollte er ein Exempel statuieren. Wer tot ist, kommt
auch nicht wieder zurück, so seine teuflisch-nationalistische Haltung, die
auf den Massenmord an den Bosniaken abzielte. Auf der internationalen Bühne
wollte man sich von dem Ausmaß der Grausamkeiten kein wahres Bild machen
und zog es vor, die Augen zu verschließen. Nur wenige Politiker,
Wissenschaftler und Journalisten hatten eine Vorstellung von dem, was
wirklich passierte.
Dabei waren andere große Verbrechen 1992 mit Zehntausenden Toten
vorausgegangen. Ein einziges Mitglied der Regierungskoalition unter Helmut
Kohl: [3][Christian Schwarz-Schilling] trat aus Protest gegen die
Untätigkeit des Westens zurück. Er könne das „Nichtstun“ der Regierung im
Bosnienkonflikt nicht mehr ertragen, so verabschiedete sich der damalige
Postminister. Man wollte der Wahrheit nicht ins Auge blicken,
parteiübergreifend von links nach rechts, von Berlin nach London,
Washington und Paris.
## Frühe Hinweise auf kommende Eskalation
In Deutschland bildeten sich ähnliche ideologische Fronten wie heute beim
Krieg in der Ukraine, die der Realisten und der Pazifisten. Schmerzhaft
war, dass es damals auch bei den Grünen Leute gab, die den „Frieden“ für
wichtiger ansahen, als eine Empathie für die Opfer.
Die Männer in Srebrenica 1995 wurden von den serbischen Truppen einer
Treibjagd gleich verfolgt. Sogar Kulturhäuser wurden auf zynische Weise zu
Hinrichtungsstätten umfunktioniert. Die Opfer wurden demonstrativ auf der
Bühne vorgeführt, wo sie mit Handgranaten und Gewehrschüssen ermordet
wurden. Man hätte das Unheil kommen sehen müssen, denn es gab schon Jahre
vorher deutliche Hinweise und Informationen der Geheimdienste, so die
[4][Analyse des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA aus dem Jahr
1991].
Der Krieg ist nicht zufällig über die Menschen gekommen, sondern er war von
langer Hand geplant. Ratko Mladić ging es um Macht und Territorien.
Jahrelang gelang es ihm später, sich zu verstecken, bis er im Mai 2011
verhaftet werden konnte. Zehn Jahre später verhängte der Internationale
Strafgerichtshof schließlich das [5][endgültige Strafmaß] einer
lebenslänglichen Haft.
Niemand hatte sich anfänglich die Mühe gemacht, die auf dem Abhang
liegenden Toten zu beerdigen. Das änderte sich erst, als bekannt wurde,
dass Vertreter des Kriegsverbrechertribunals von Den Haag bereitstünden, um
am Ort des Unheils nachzuforschen. Wobei ab Frühjahr 1996 von serbischer
Seite erneut Versuche unternommen wurden, Spuren zu verwischen. So wurden
die Leichen in Massengräber zum Teil „umgebettet“, um ihre Identifizierung
zu erschweren. Trotzdem konnte das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag
noch unzählige Beweismaterialien zusammenstellen.
## Witwen gegen Geschichtsverfälschung
Endlich erhöhte sich der internationale Druck. Die Ermittler aus Sarajevo
und Den Haag bekamen grünes Licht, schneller und mit neuen
Untersuchungsmethoden vorzugehen. US-Satelliten fotografierten
Massengräber. Die sterblichen Überreste der Ermordeten wurden nach Tuzla
überführt, um gerichtsmedizinisch untersucht zu werden. Schließlich gelang
es, mit damals neuen Methoden, die DNA der Toten festzustellen und sie zu
identifizieren.
Bis heute sind gut 7.000 Ermordete identifiziert worden, sie haben einen
Namen, sie haben eine Geschichte, sie haben ein Stück Würde wiedergewonnen.
Emir Suljagić, der jetzige Direktor des Dokumentationszentrums
([6][Srebrenica] Memorial Center) in Potočari, der als 17-jähriger von den
UN als Übersetzer angeheuert wurde und deshalb überlebte, blickt von seinem
Büro aus über ein gewaltiges Gräberfeld. Das Feld ist wie eine Rose
angeordnet. Stolz ist Suljagić aber vor allem auf das, was die Mütter von
Srebrenica geschafft haben.
Als Korrespondent habe ich die verzweifelten Frauen am 13. Juli 1995 in
Tuzla gesehen, wie sie aus den Bussen stiegen. Sie waren alle zutiefst
traumatisiert, wollten aber die Hoffnung, ihre Ehemänner wiederzusehen,
nicht aufgeben. Einige alleinstehende Frauen machten sich nach dem Krieg
auf den Weg aus den Flüchtlingslagern zurück nach Srebrenica. Dort
entwickelten sie die Idee von einem Friedhof und einer Gedenkstätte, die
die Öffentlichkeit über die wahren Begebenheiten informieren und den
infamen Geschichtslügen, es hätte nie einen Genozid gegeben, entgegentreten
sollte.
Diese Frauen wurden zur Institution, sie gaben anderen Rückkehrerinnen Mut,
den Serben in die Augen zu sehen. Sie saßen den Kriegsverbrecherprozessen
in Den Haag bei, sprachen mit Botschaftern und mit Politikern. Sie wurden
allmählich zu einem wichtigen Teil der Zivilgesellschaft. Und sie setzten
durch, dass die Gedenkstätte dem Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina
unterstellt wurde.
## Vor dem Krieg war das Zusammenleben friedlich
In den weitläufigen Ausstellungsräumen sind Fotografien und persönliche
Gegenstände der Ermordeten zu sehen. Außerdem gibt es dokumentarische
Interviews mit Überlebenden. Es sind eindrucksvolle persönliche Dokumente,
die zusammengenommen einen wichtigen Beitrag zum Gesamtbild leisten.
Vor dem Krieg, der in Bosnien 1992 begann, ahnten viele Menschen nichts von
der bevorstehenden Katastrophe. Auch Srebrenica verfügte über eine
gemischte Bevölkerung. Die Region war wirtschaftlich stark, es gab
Vollbeschäftigung. Es ging den Leuten gut, sie lebten friedlich zusammen.
Dann jedoch wurde ihnen der serbische Nationalismus nach dem Zerfall
Jugoslawien zum Verhängnis. Die vornehmlich serbisch besiedelten Gebiete in
Kroatien und Bosnien sollten mit Serbien vereint werden.
Im Untergrund bereiteten Geheimdienste, Militärs und serbische Extremisten
die Eroberung und ethnische Säuberung Bosniens schon ab 1991 vor. Am 9.
Januar 1992 proklamierten sie die [7][Republika Srpska], die alle Gebiete
mit serbischer Dominanz in Bosnien und Herzegowina zusammenfassen sollte.
In allen Städten und Gemeinden formten sie Krisenstäbe. Sie stellten Listen
zusammen, wer verhaftet werden sollte. Zwar kamen Blauhelme der UN ins
Land, die aber kein Mandat vom Weltsicherheitsrat hatten, Verbrechen zu
verhindern.
Mit dreisten Geschichtslügen wird Geschichte gemacht. Was heute angesichts
der russischen Propaganda als ganz normal erscheint, war nach damaligen
Verhältnissen neu. Vor allem in Deutschland wollte man sich nicht mit
Massenmorden und KZs befassen. Auch nicht die links-grüne Szene. Das Ausmaß
der Verbrechen 1992 wurde heruntergespielt, die Beweise für die Existenz
von Konzentrationslagern in Prijedor und anderswo ignoriert. Dabei begann
der Genozid mit den ethnischen Säuberungen schon 1992 und geschätzten
60.000 Opfern in Bosnien und Herzegowina.
## Viele Verbrecher blieben unbestraft
Warum also hätte Ratko Mladić 1995 in Srebrenica anders vorgehen sollen als
1992? Die Nato-Bomber waren zwar schon in der Luft, um den serbischen
Vormarsch in Srebrenica zu stoppen, wurden aber zurückbeordert. Wer immer
die Befehle in den Vereinten Nationen und der Nato dazu gegeben hat, hat
sich mitschuldig gemacht. Die UN wollten ihren „sicheren Hafen“ nicht
verteidigen. Erst nach dem Genozid in Srebrenica setzten sich jene Stimmen
durch, die schon vorher militärisch hatten intervenieren wollen. Jetzt
wurden endlich die Weichen für eine neue Außenpolitik gestellt – auch bei
den Grünen, was sich 1999 im Kosovokonflikt zeigte.
Die Masse der Mörder aber lebt auch heute noch unbehelligt. Mit den
ethnischen Säuberungen sollte die bosnische Kultur des Zusammenlebens der
Religionen und Völker vernichtet werden. Die Republika Srpska, die
serbische Entität in Bosnien und Herzegowina, wird als Staatsgebilde heute
auch von Demokratien akzeptiert, und das, obwohl sie exemplarisch ist für
die Verbrechen des Krieges.
11 Jul 2025
## LINKS
[1] /Historikerin-zu-Massaker-von-Srebrenica/!5694517
[2] /Ratko-Mladic/!t5209792
[3] /Schwarz-Schilling-besorgt/!5168324
[4] https://www.cia.gov/readingroom/docs/1991-12-19.pdf
[5] /Kriegsverbrechen-in-Ex-Jugoslawien/!5773101
[6] /Historikerin-zu-Massaker-von-Srebrenica/!5694517
[7] /Konflikt-in-Bosnien-und-Herzegowina/!6075709
## AUTOREN
Erich Rathfelder
## TAGS
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