# taz.de -- Buch über Forensik in Srebrenica: Totengräberinnen für das Leben | |
> „Die Reparatur der Lebenden“ porträtiert zwei Frauen in Bosnien, die in | |
> Handarbeit Knochen sortieren und nach weiteren Massengräbern suchen. | |
Bild: Eine Technik aus dem alten Ägypten: Die Leichen werden mit Mullbinden um… | |
Als die deutsche Außenministerin im Jahr 2022 Putins Angriff auf die | |
Ukraine den ersten Krieg in Europa seit 1945 nannte, schüttelten Bosniaken | |
in Bosnien und überall auf der Welt, wo sie der Krieg 1992 und 1995 | |
hingetrieben hatte, den Kopf. | |
Dass Annalena Baerbock Bosnien vergessen hatte, überraschte die Bosniaken | |
nicht. Von Europa fühlen sie sich spätestens seit dem Nichteingreifen | |
während des [1][Massakers von Srebrenica] im Stich gelassen, als die Welt | |
zuschaute, wie serbische Militärs und Paramilitärs massenhaft Bosniaken | |
töteten. | |
Und so machen sie weiter das, was sie seit 30 Jahren machen: die einen | |
versuchen zu vergessen und so zu leben als sei nichts Besonderes passiert. | |
Die anderen hoffen darauf, dass die Suche nach den Vermissten auch 30 Jahre | |
nach Ende des Krieges nicht aufhört, dass weitere Massengräber gefunden | |
werden und darin die Überreste eigener Angehöriger. 110.000 Tote forderte | |
der Bosnienkrieg, 30.000 Personen werden bis heute vermisst. | |
## Skelettpuzzles vervollständigen | |
Die finnisch-französische Journalistin und Filmemacherin Taina Tervonen hat | |
in ihrem jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Buch zwei Frauen | |
porträtiert, deren Job es ist, diese Toten zu finden. Die eine heißt | |
Darija, sie sucht lebende Angehörige von Vermissten, um ihnen Blut | |
abzunehmen und damit die DNA-Datenbank zu füllen, mit deren Hilfe | |
Knochenteile identifiziert werden. Die andere, Senem, ist forensische | |
Anthropologin und untersucht mit ihrem Team die Knochen auf Spuren zur | |
Identifizierung. | |
Senem und Darijas Job besteht in den Worten Tervonens darin, das „Leben zu | |
reparieren“. Mit jedem Knochen, den Senem und ihr Team aus einer Tüte | |
holen, werden die Skelettpuzzles auf dem Boden der Hallen vervollständigt, | |
in denen die aus Massengräbern geborgenen Menschenteile liegen. | |
„Die Knochen sprechen für sich“, sagt Senem. Ihre prägnanten Sätze sind … | |
Pendant zur Präzision, mit der sie die Knochen untersucht. Passt Hüfte zu | |
Oberschenkel? Hat der Schädel das gleiche Alter wie das Becken? Sind Arm | |
und Bein wirklich von demselben Menschen? | |
„Die Kleidungsstücke kommen mir menschlicher vor als die Knochen“, sagt sie | |
während ihrer Arbeit am Massengrab von Tomasević. Hier war die Erde so | |
lehmig, dass die Leichen samt Kleidung nicht so schnell verwest sind wie | |
anderswo. Drecksarbeit wäre eine richtige Bezeichnung für den Job Senems | |
und ihres Teams von dem Projekt „N.N.“. Sie buddeln Knochen aus der Erde, | |
befreien sie mit einem Kärcher von Matsch, mit dem die menschlichen Teile | |
über Jahrzehnte verschmolzen. Hin und wieder fliegt auch ein Stück | |
menschliches Fleisch in den Ausguss, in dem das Lehmwasser landet. | |
Das Schlimmste an Senems Arbeit ist der Geruch. Weil sie diesen noch abends | |
im Bett in der Nase hat und die Regierung kein Geld bereitstellt, um die | |
Hallen, in denen die Leichentüten liegen, anständig zu kühlen, wird die | |
Anthropologin erfinderisch. Von den alten Ägyptern guckt sie sich die | |
Mumifizierungsmethode ab: Die Leichen werden mit Mullbinden umwickelt und | |
in Salz eingelegt, das macht sie länger haltbar und den Geruch | |
erträglicher. | |
Ein anderes Problem erschwert ihre Arbeit: die Sekundärgräber. Leichen oder | |
Teile von ihnen wurden nachträglich von einem Massengrab auf andere | |
verteilt, um Spuren zu verwischen. „Die Skelette sind in den seltensten | |
Fällen vollständig“, sagt Senem. Liegt nur ein Arm vor, kann die | |
Gerichtsmedizin aber weder die Todesursache erkennen noch eine | |
Sterbeurkunde ausstellen. Die Familie muss dann entscheiden, ob sie bei der | |
[2][jährlichen Trauerfeier], bei der die neu Identifizierten bestattet | |
werden, auch ihre Angehörigen offiziell beerdigen oder weiter auf den | |
vollständigen Beweis warten will. | |
Zwar ist die Arbeit von Senem und Darija auch nur ein Job, über den sie | |
Witze machen und der einer Routine folgt, zu der Zigarettenpausen gehören | |
sowie Kaffee und Schokokuchen. Aber es ist auch ein besonderer. Diese | |
Besonderheit in der Normalität, diesen erschütternden europäischen Alltag | |
schildert Tervonen auf beeindruckende Weise. Eigentlich hat sie ein | |
Sachbuch geschrieben, eine Dokumentation, die eine reale Geschichte mit | |
realen Figuren erzählt. Das aber mit einer literarischen Qualität, die dem | |
Monströsen eine Leichtigkeit verleiht, als läse man einen Roman über drei | |
Frauen. | |
Nie werden die detaillierten Schilderungen von Knochensortierungen, | |
Waschvorgängen und Interviewsituationen langweilig oder redundant und die | |
beiden Protagonistinnen werden uns mit einer fast zärtlichen und dennoch | |
distanzierten Haltung als Personen mit Affären und Launen, mit Familien und | |
Wochenendplanungen nähergebracht. Und immer wieder meldet sich die | |
zurückhaltende Beobachterin Tervonen mit vorsichtigen Fragen an die | |
Protagonistinnen, an das, was sie ihr erzählen, und an das, was sie nicht | |
erzählen. | |
Worüber Darija und Senem nicht schweigen, ist, dass ihre finanzielle | |
Zukunft davon abhängt, dass ein weiteres Massengrab gefunden wird. Senem | |
aber hadert trotzdem mit der Richtigkeit ihrer Arbeit. Vielleicht sei die | |
Zielsetzung falsch, alle Opfer identifizieren zu wollen. Immer wieder die | |
Angehörigen zu strapazieren, weil wieder ein neues Grab mit neuen Armen und | |
Beinen gefunden wurde, die möglicherweise ein Teil ihrer Angehörigen sind, | |
es dann aber oft eben nicht sind. Vielleicht müsse man die Arbeit | |
abschließen und ein zentrales Beinhaus errichten, zumal die Zukunft der | |
Totengräberinnen stark von der Finanzierung durch internationale | |
Organisationen abhängt, die inzwischen Massengräber in anderen Ländern | |
aufarbeiten müssen, im Irak, in Syrien – und die nächsten entstehen gerade. | |
Eine nachvollziehbare Idee, deren Tragweite sich Senem bewusst ist: Ein | |
Ende der Suche nach den Toten würde den Leugnern der Massaker in die Hände | |
spielen, die, wie der Chef der serbischen Teilrepublik Bosniens, | |
[3][Milorad Dodik], behaupten, es gebe keine Beweise für die tausendfachen | |
Mordvorwürfe. | |
Tervonens Buch ist eine atemberaubende Würdigung der Opfer und ihrer | |
Nachkommen, die hart dafür arbeiten, ihre leidvolle Geschichte nicht an die | |
Erzählung der Täter zu verlieren. | |
11 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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