# taz.de -- 30. Jahrestag des Srebrenica-Massakers: Eine Generation nach dem Ge… | |
> Vor 30 Jahren töteten Truppen der bosnisch-serbischen Armee mindestens | |
> 8.372 Bosniak:innen. Vor allem junge Leute tragen die Erinnerung daran | |
> weiter. | |
Bild: Jedes Jahr vor dem 11. Juli werden Särge von Ermordeten nach Potocari ge… | |
Vor 30 Jahren, am 11. Juli 1995, begann der Völkermord von Srebrenica. | |
Mindestens 8.372 Bosniak:innen wurden von Truppen der bosnisch-serbischen | |
Armee getötet. Niederländische Soldaten im UN-Lager sahen zu. Die Welt sah | |
weg. 30 Jahre später sind es vor allem die jungen Leute, die Hoffnung | |
geben. Sie haben den Krieg nie erlebt, wollen aber die Erinnerung | |
weitertragen. | |
## „Die ersten Geschichten habe ich von meinem Vater gehört“ | |
Letztens saß ich mit meinem Vater auf dem Friedhof in Potočari. Hier sind | |
die Ermordeten des Genozids begraben. Wir haben versucht, aufzuzählen, wie | |
viele Familienangehörige wir verloren haben. Wir sind auf über 50 nahe und | |
entfernte Verwandte gekommen. Am nächsten standen mir zwei Onkel, über | |
deren Verbleib wir nichts wissen. Mein Großvater starb 1993 an Hunger, | |
ebenfalls in Srebrenica. Es gibt wahrscheinlich niemanden in Bosnien und | |
Herzegowina, der nicht auf die eine oder andere Weise mit den Gräbern hier | |
verbunden ist. | |
Bis 2009 lebte ich mit meiner Familie in Tuzla, etwa hundert Kilometer von | |
Srebrenica entfernt. Danach zogen wir nach Srebrenica zurück. Die Schule | |
hier war eine Umstellung. Ich musste die kyrillische Schrift lernen und | |
mich an die eher dörfliche Mentalität der Leute gewöhnen. Heute kann ich | |
sagen: Ich bin ein richtiger Srebreničanin – also von hier. Aber das Leben | |
in Srebrenica ist nicht einfach. Vor allem für junge Leute gibt es kaum | |
Perspektiven. Meine Schwester plant schon auszuwandern. Mein Vater und ich | |
verstehen sie natürlich. | |
Ich bin 22 Jahre alt und habe das Gefühl, ich begreife noch immer nicht die | |
Schwere, die das Wort „Genozid“ trägt. Die ersten Geschichten habe ich von | |
meinem Vater gehört, als ich etwa 18 Jahre alt war. Er erzählte, wie er | |
durch den Wald geflohen ist, sich nach einem Angriff in einem Gebüsch | |
versteckt hat, in der Morgendämmerung aus einem Bach trank – und erst | |
später sah, dass in dem Bach Leichen trieben. Er hat seitdem nie wieder | |
normales Wasser getrunken. Ich sehe ihn nur Mineralwasser trinken. Die | |
Geschichte hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Oft erzähle ich | |
sie auch Besucher:innen, wenn ich Führungen durch die Gedenkstätte gebe. | |
Zur Arbeit in der Gedenkstätte bin ich ganz zufällig gekommen. Weil ich | |
zwei Jahre in der Türkei studierte, wollte ich eigentlich freiberuflich | |
übersetzen, doch dann ergab sich diese Stelle im Juni 2024. Jetzt helfe ich | |
bei Ausstellungen mit, übersetze aus dem Türkischen ins Englische und gebe | |
Führungen. | |
Die Arbeit im Gedenkzentrum bedeutet mir sehr viel. Hier [1][halten wir die | |
Erinnerung an den Genozid aufrecht]. Alle, die hier arbeiten, wissen, wie | |
wichtig das ist. Viele sind talentiert und haben Studienabschlüsse, mit | |
denen sie im Ausland ohne Probleme ein besseres Leben führen könnten. Doch | |
diese Arbeit hier bedeutet mehr. Im Moment kann ich mir keinen anderen Job | |
vorstellen und auch kein anderes Leben. Es ist ein besonderes Gefühl, in | |
Potočari auf meinem Balkon zu sitzen. Hier fühle ich mich zu Hause. | |
Arnel Sandžić, 22 Jahre | |
## „In meiner Kindheit lebten alle weit weg“ | |
Ich studiere Software-Ingenieurwesen und hoffe, dieses Jahr meinen | |
Abschluss zu machen. An der Gedenkstätte arbeite ich als Grafikdesignerin | |
und IT-Unterstützung. Die ersten vier Grundschuljahre habe ich in Tinja | |
verbracht, einem Ort zwischen Srebrenik und Tuzla. Dann sind meine Mutter, | |
mein Bruder und ich nach Srebrenica gezogen. Mein Großvater war bereits | |
dort, er gehörte 2003 zu den ersten Rückkehrer:innen unter den | |
Bosniak:innen. Mein anderer Großvater, der Vater meiner Mutter, wurde im | |
Genozid getötet. | |
Ehrlich gesagt hatte ich nicht geplant, im Gedenkzentrum zu arbeiten. | |
Letzten Sommer half ich meiner Mutter gerade im Laden, als Amra Begić, die | |
stellvertretende Direktorin, vorbeikam und mich fragte, ob ich für sie | |
arbeiten möchte, weil sie eine Grafikdesignerin suchten. So kam ich erst | |
auf die Idee, dass ich in Srebrenica bleiben könnte. | |
Auch wenn ich nicht direkt im Archiv arbeite, bekomme ich oft Materialien | |
für visuelle Inhalte. Einmal habe ich eine Präsentation zur bosnischen | |
Diaspora vorbereitet, mit Fotos, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Das | |
hat mich sehr getroffen. Aber allein schon die Tatsache, dass ich hier | |
arbeite – jeden Tag im Büro Kaffee trinke und aus dem Fenster auf den | |
Friedhof schaue – reicht aus, um verbunden zu bleiben mit dem, was hier | |
passiert ist. Ich bin zwar nach dem Krieg geboren, aber die Folgen des | |
Genozids spüre ich dennoch. Der Genozid bestimmt unser Leben. | |
Die Geschichte meiner Familie ist geprägt davon. Viele Verwandte leben im | |
Ausland, als Flüchtlinge – Tanten in den USA und Frankreich, eine | |
Großmutter in Dänemark. Als Kind stellte ich mir oft vor, wie es wäre, wenn | |
alle hier bei uns wären. Für mich ist es merkwürdig, wenn jemand sagt, sein | |
Onkel wohne 20 Minuten entfernt. In meiner Kindheit lebten alle weit weg. | |
Eine Journalistin fragte mich einmal, ob es mir wehtut, hier zu leben. Aber | |
nein – meine Seele nährt sich hier durch diesen Ort. Srebrenica gibt mir | |
Kraft. Das ist mein Zuhause, der Ort, zu dem ich immer zurückkehre. Ich | |
könnte mir vorstellen, woanders zu leben, aber ich würde stets davon | |
träumen, zurückzukommen. Wie Menschen in der Diaspora, die das ganze Jahr | |
arbeiten, nur um im Sommer einen Monat in Bosnien zu verbringen. | |
Mit Gleichaltrigen, die woanders aufgewachsen sind, ist das gegenseitige | |
Verständnis manchmal schwer. Im Gedenkzentrum hingegen arbeiten viele | |
Kolleg:innen, die wie ich nach dem Krieg geboren sind und ähnliche | |
Familiengeschichten haben. Wir verstehen uns untereinander gut, haben | |
ähnliche Sorgen und ähnlichen Kummer, können uns gegenseitig über Traumata | |
in der Familie austauschen. | |
Hajrunisa Džananović, 24 Jahre | |
## „Von meinem Großvater habe ich nur vier Fotos“ | |
Die Tage vor dem 11. Juli sind für mich emotional schwieriger, als der 11. | |
Juli selbst. Vor allem, wenn jedes Jahr kurz vor dem Jahrestag die Särge | |
von Identifizierten hier in Potočari ankommen. Das ist für mich der | |
emotionalste Moment. Erst dann wird mir bewusst: Diese Leute sind | |
zurückgekehrt. 30 Jahre zu spät. Es fühlt sich auch fast wie eine | |
Erleichterung an. Eine Mutter kann ihren Sohn nun beerdigen und trauern, | |
ohne sich fragen zu müssen, wo seine Knochen sind. Jedes Jahr komme ich um | |
den 11. Juli hierher. | |
Die Reise ist schon fast zu einer Normalität geworden. Es ist | |
kräftezehrend, aber ich kann nicht anders. Und ich vermisse meine Leute, | |
wenn ich sie ein Jahr lang nicht sehe. Ich bin in den Niederlanden geboren | |
und aufgewachsen und lebe dort, habe aber kaum niederländische Freunde. Das | |
war keine bewusste Entscheidung, sondern ist eher passiert. Aber mit der | |
Zeit habe ich gemerkt: Ich fühle mich wohler mit Bosniern. Der Kontakt zu | |
den Niederländern ist dann langsam eingeschlafen. Unterschiedliche Werte, | |
andere Mentalität. | |
In der Schule wurde der Genozid von Srebrenica nie erwähnt. Es war fast | |
schon ein Tabu, darüber zu sprechen. Ein Junge aus meiner Klasse, der | |
wusste, wo ich herkomme und mich ärgern wollte, erwähnte mal Srebrenica, | |
die Lehrerin meinte nur: [2][„Psst, darüber reden wir nicht.“] Und das | |
war’s. | |
Aber Srebrenica und die Erinnerung an den Genozid waren immer ein Teil | |
meines Lebens. Ich erinnere mich sehr genau an die Festnahmen von Ratko | |
Mladić und Radovan Karadžić. Als Mladić verhaftet wurde, kam ich von der | |
Schule und sah meine Mutter weinend vor dem Fernseher. Diese Erinnerungen | |
bleiben. | |
An greifbaren Erinnerungen an unser früheres Zuhause haben wir nur ein | |
einziges Bild, das uns sehr viel bedeutet. Es hängt in unserer Wohnung in | |
den Niederlanden. Es ist keine klassische Malerei, eher ein Relief. Beim | |
ersten oder zweiten Besuch meiner Oma nach dem Krieg lebten Serben im Haus. | |
Sie benutzten alle unsere Möbel. Auch das Bild hing noch. Am Ende des | |
Besuchs nahm meine Oma das Bild von der Wand und rannte raus. Die Serben | |
rannten ihr hinterher, einer drohte ihr, aber sie ließ das Bild nicht los. | |
Sie brachte es in die Niederlande. Das ist alles, was uns aus unserem Haus | |
geblieben ist. | |
Von meinem Großvater habe ich nur vier Fotos. Die anderen wurden von den | |
neuen Bewohnern unseres Hauses verbrannt. Aber zum Glück gibt es noch eine | |
Videokassette, die mein Vater im Krieg aufgenommen hat. Darauf sieht man | |
meinen Opa, wie er spricht, meine Oma, und auch den Opa meines Cousins. | |
Diese Aufnahmen sind mir mehr Wert als Gold. | |
Edin Halilović, 26 Jahre | |
12 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Dennis Miskic | |
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